Was sich wissenschaftlich bewährt
Wissenschaft hat in der Regel zwei Brücken zur Welt. Die eine: Sie versucht, die Welt besser zu verstehen und stützt sich dabei – sofern es sich um empirische Wissenschaften handelt – in der Theoriebildung auf Beobachtungen. Die andere: Sie stellt aus dem, was sich als Theorie gebildet hat, Mittel bereit, um die Welt zu verändern, im besten Fall aus echtem Verstehen heraus und zum Besseren. Nichts ist praktischer als eine gute Theorie, lautet ein bekanntes Bonmot, das Kurt Lewin zugeschrieben wird.
Dabei wird das Verhältnis zwischen Beobachtungen und Theorien meist recht schlicht verstanden. Dass Beobachtungen Theorien mit empirischen Allaussagen nicht verifizieren können, ist seit Popper ein Gemeinplatz. „Theorien sind nicht verifizierbar; aber sie können sich bewähren“, beginnt Popper den Abschnitt „Bewährung“ in seinem Buch „Logik der Forschung“.
Popper hatte dabei das „Induktionsproblem“ vor Augen, d.h. die Unmöglichkeit, aus noch so vielen Beobachtungen auf die Wahrheit einer empirischen Allaussage, also eines Satzes mit einem unendlichen Gegenstandsbereich, zu schließen. Eine Beobachtung mehr könnte ja dagegensprechen. Irgendwie scheinen viele nichtfalsifizierende Beobachtungen die Wahrscheinlichkeit, dass eine Theorie stimmt, zu erhöhen, aber so richtig gut lässt sich diese Art von Wahrscheinlichkeit nicht bestimmen. Da hat Popper recht. Die Frage ist, ist damit zur Bewährung von Theorien alles gesagt. Natürlich nicht, sonst würde ich nicht so fragen, um danach noch etwas zu sagen.
Dass die Sonne aufgeht, bewährt sich im Alltag, aber die Sonne geht nicht auf, sondern die Erde dreht sich. Wer zu Fuß geht, für den darf die Erde eine Scheibe sein, sein Weg wird durch die Kugelgestalt der Erde nicht gestört. Dass etwas nicht rund und eckig gleichzeitig sein kann, darauf kann man sich in der Alltagserfahrung verlassen, aber im Mikrokosmos kann etwas Teilchen- und Wellencharakter haben. Dass etwas immer schneller werden kann, oder der Raum drei Dimensionen hat, damit kommt man gut durch den Alltag, dass es „in Wirklichkeit“ komplizierter ist, wissen wir seit Einstein. Im Laufe des wissenschaftlichen Fortschritts werden nicht nur immer mehr Beobachtungen des Immergleichen vorgenommen, sondern die Beobachtungsmethoden verfeinern sich, die Begriffe zur Interpretation der Beobachtungen ändern sich und Erklärungsmodelle können sich dann, siehe Quantentheorie oder Relativitätstheorie, sehr weit von alltagstauglichen Erklärungen entfernen. Trotzdem „bewähren“ sich die einfacheren Vorstellungen weiterhin im Alltag.
Eine alltagstaugliche empirische Bewährung reicht nicht, wenn wir die Dinge so gut wie möglich verstehen wollen. Sie verbürgt noch nicht die bestmögliche Annäherung an die Wahrheit. Das ist in der Physik nicht anders als in der Psychologie. Das Verhältnis von Beobachtungen und Theorien ist kompliziert und Wissenschaftstheoretiker haben dazu labyrinthische Gedankengänge aufgetan. Vielleicht sind Beobachtungen grundsätzlich mit mehr als einer Theorie vereinbar und man muss dabei mit Unentscheidbarkeitsproblemen rechnen (Willard Van Orman Quine). Aber es geht mir hier um einen einfacheren Sachverhalt, den physikalische Analogien sehr schön veranschaulichen. Es gibt Theorien, die bei näherem Hinsehen an Beobachtungen scheitern und durch andere Theorien ersetzt werden, die mit den gleichen Grundbegriffen auskommen. Dass die Erde keine Scheibe ist, sondern eine Kugel, oder dass nicht die Sonne aufgeht, sondern die Erde sich um sich selbst dreht, macht keine neuen Begriffe notwendig. Beim Verhältnis der Quantentheorie zur Makrophysik ist das anders, ebenso beim Verhältnis der newtonschen Physik zur relativistischen Physik oder beim Verständnis der Allgemeinen Relativitätstheorie und ihrem Raumbegriff.
Theoriendynamik in der Psychologie
Das ist in der Psychologie nicht anders. Ob zwei zeitlich aufeinander folgende Ereignisse sich zueinander wie Ursache und Wirkung verhalten, sieht man ihnen nicht an. Kann sein, muss nicht sein. Dass einfache Reiz-Reaktionsmodelle menschliches Verhalten nicht adäquat abbilden und in einer Psychologie ohne Bewusstsein irgendetwas fehlt, ist auch Behavioristen im Lauf der Zeit aufgefallen. In der Verhaltenstherapie kam es im Anschluss daran zu einer „kognitiven Wende“, zur kognitiven Verhaltenstherapie. Gedanken und Gefühle werden seitdem als intermediäre Variable zugelassen. Das Gesamtkonstrukt ist jedoch nach wie vor in ein deterministisches Prokrustesbett mit „Reizen“ als kausalen Ursachen und „Reaktionen“ als kausalen Wirkungen eingezwängt. Das theoretische Modell hängt begrifflich fest. Und zwar in einem Vulgärmaterialismus, an dem die Fortschritte der Evolutionstheorie und der Entwicklungspsychologie gleichermaßen vorbei gegangen sind. Erklärungen des menschlichen Verhaltens, die die Ebene von „Handlungsgründen“ nicht abbilden können, verstehen nicht, was menschliche Subjektivität psychologisch charakterisiert, sie verfehlen die phylogenetisch entstandene Spezifik menschlichen Verhaltens und bleiben einem unterkomplexen organismischen Niveau von Erklärungen des Verhaltens verhaftet. Klaus Holzkamp hatte das im Wege einer Rekonstruktion menschlichen Verhaltens durch die Phylogenese schon in den 1980er Jahren deutlich gemacht und dabei auch das behavioristische Begriffsinstrumentarium als unzureichend kritisiert. Dass damit das „Leib-Seele-Problem“ noch lange nicht gelöst ist, steht auf einem anderen Blatt (und war hier auf Gesundheits-Check immer wieder mal Thema), spricht aber nicht gegen die Kritik Holzkamps am Behaviorismus. Holzkamp hat, um Missverständnisse zu vermeiden, keine geistigen Wesenheiten angenommen, er war durch und durch Materialist. Das Reduktionismusproblem ist zwar gewissermaßen im Nachbarzimmer der hier diskutierten Fragen, aber ohne diese Fragen kann man es gar nicht angemessen formulieren. Wer die Spezifik menschlicher Handlungsgründe nicht sieht, kann auch nicht fragen, wie diese mit materiellen Hirnprozessen oder anderen „grundlegenden“ Dingen zusammenhängen.
Entwicklungspsychologie, Psychotherapie, Erziehungs-Wissenschaft
Das sind nun weder Geschichten aus dem akademisch-psychologischen Elfenbeinturm noch alte, längst erledigte Zöpfe eines psychologischen Schulenstreits, sondern hochaktuelle Diskussionspunkte der verhaltenstherapeutischen Praxis. In der zweiten Ausgabe der „Neuen Folge Forum Kritische Psychologie“, einer Zeitschrift aus dem Umfeld der Subjektwissenschaftlichen Psychologie in der Tradition Holzkamps, diskutiert die Entwicklungspsychologin Gisela Ulmann die verhaltenstherapeutischen Grundlagen des Films „Elternschule“. Der Film zeigt Szenen aus einer Klinik in Gelsenkirchen, in der verhaltensauffällige Kinder stationär behandelt werden. Oder „erzogen“? Man sieht, wie Kinder zu therapeutischen Zwecken isoliert werden, festgehalten werden, absichtlich unter Stress gesetzt werden und mehr. Viele Zuschauer empfinden die Szenen als hart, die Klinik sieht sie wohl als „konsequent“. Ulmann beschreibt, wie der Ansatz der Therapeuten ihrem Anspruch, zu verstehen, was die Kinder bewegt, schon konzeptionell zuwiderläuft. Wer Kinder als „absolute Egoisten“ betrachtet, fragt nicht nach ihren Gründen, sondern presst sie in ein Schema. Wenn man das noch als genetisch bedingt ansieht, zudem in ein entwicklungspsychologisch unhaltbares Schema. Dafür kann man damit gut alltagspsychologische Vorstellungen der Art „Kinder brauchen Grenzen“ oder „Kinder müssen lernen, zu hören“ begründen. Die disziplinarisch anmutenden Interventionen mögen irgendwie „funktionieren“, aber irgendwie funktioniert es eben auch, am Morgen ohne Licht in der Küche zu sitzen, weil die Sonne „aufging“. Während es aber der Sonne egal ist, ob sie wirklich aufging und was wir über sie denken, ist das im Umgang mit Kindern anders. Ob Kinder lernen, auf Reize erwartungskonform zu reagieren, oder ob sie lernen, sich vernünftig in ihrer Umwelt zu verhalten, sind zwei Paar Stiefel.
Der Film hat im letzten Jahr erhebliche Diskussion in den Medien und sozialen Foren ausgelöst. Während z.B. die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie die therapeutischen Methoden der Klinik kritisiert, ebenso wie der Kinderschutzbund, werden sie seitens der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie verteidigt – und zwar genau mit dem Argument, sie seien „wissenschaftlich fundiert“ und leitlinienkonform. Kritik daran aus der Fachöffentlichkeit sei nur das Wiederaufleben überkommener Schulenstreitigkeiten. Das Argument ist etwas schwach, so als ob sich in der Physik eine Newton-Schule damit gegen die Kritik einer Einsteinschule verteidigen könnte. Und gegenüber der Kritik von Eltern heißt es in der Stellungnahme, hier stehe eben Wissenschaft gegen Emotionen. Mit Blick auf den Anspruch, zu verstehen, was Menschen bewegt, eine etwas irritierende Frontenbildung.
Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener (BPE) e.V. nahm demgegenüber zur „Bewährung von Theorien“ eine wissenschaftstheoretisch geradezu elaborierte Position ein:
„Wir möchten uns nicht an der Effektivität konkreter „Erziehungsmaßnahmen“ abarbeiten. Solange grund- und menschenrechtliche sowie berufsethische Fragen im Raum stehen, ist die Funktionalität der genannten Praktiken zum Erreichen bestimmter „Erziehungsziele“ völlig irrelevant. Einige der im Film gezeigten Praktiken sind aus unserer Sicht Folter oder zumindest folterähnlich.“
Mit seiner Kritik an der bloßen Funktionalität einer Methode als Ausweis dafür, dass sie wissenschaftlich richtig ist, trifft der Betroffenenverband genau den wunden Punkt eines naiven Empirismus. Was den Foltervorwurf angeht, müsste man sich die konkrete therapeutische Praxis der Klinik vor Ort ansehen, insbesondere, was es mit den im Film gezeigten freiheitsentziehenden Maßnahmen auf sich hat. Solche Maßnahmen sind in der Psychiatrie das letzte Mittel und an enge rechtliche Voraussetzungen geknüpft. Ein Film setzt immer auch „in Szene“ und vielleicht würde sich im Gesamtkontext der Eindruck mancher Filmszenen etwas relativieren, aber Foltervorwurf hin oder her: Wissenschaftlich und ethisch legitimiertes Handeln, Wissenschaft und Menschenrechte, sind in der Psychotherapie eng verknüpft. Nichts ist ethischer, als eine gute Theorie, um es mit Lewin zu sagen.
Wer sich mit dem Thema näher beschäftigen will, dem sei der online nachlesbare Kommentar des Kinderarztes Herbert Renz-Polster empfohlen, oder eben der Artikel von Gisela Ulmann.
Forum Kritische Psychologie – Neue Folge
Auch ansonsten stehen in der zweiten Ausgabe der „Neuen Folge“ des Forums Kritische Psychologie Methodenfragen im Mittelpunkt. Das Heft versammelt dazu Beiträge, die die methodologische Besonderheit eines „subjektwissenschaftlichen“ Ansatzes verdeutlichen.
Man kann nachlesen, warum das Experiment nicht der Goldstandard der empirischen Forschung in der Psychologie sein kann, was den subjektwissenschaftlichen Ansatz mit Verfahren der qualitativen Sozialforschung wie der „Grounded Theory“ verbindet und wo die Unterschiede liegen oder wie man Biografieforschung oder Umweltpsychologie mit einer kritischen Perspektive betreiben kann. Das muss alles nicht der Weisheit letzter Schluss sein, aber immerhin, wie es scheint, war beim Forum Kritische Psychologie doch noch nicht endgültig Redaktionsschluss. Das Heft kostet 13 Euro, dafür gibt es fast 190 Seiten, und weil die meisten Texte nicht ganz einfach zu lesen sind, hat man sogar doppelt so lange daran.
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