In der März-Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ gibt es eine ganze Serie von Artikeln zur Ukrainekrise, alle lesenswert mit vielen klugen Überlegungen. Das Heft ist unmittelbar vor dem Einmarschbefehl Putins entstanden. Das macht, sozusagen als eine Art Echtzeit-Vorher-Nachher-Sicht, insbesondere die Szenarien interessant, die einer der Beiträge, „Realismus vs. Krieg: Neutralität als Chance“ von August Pradetto, Professor für Politikwissenschaft an der Uni der Bundeswehr Hamburg, skizziert und auf welchen Begründungen sie beruhen.
August Pradetto spricht viele Punkte an, die auch hier im Blog in den letzten Tagen diskutiert wurden und plädiert für einen realpolitischen Kompromiss. Aus diesem Beitrag will ich daher ein paar Sätze zitieren, sie sprechen weitgehend für sich:
„Der Kalte Krieg begann, kaum dass der Zweite Weltkrieg zu Ende war. Er war Konsequenz der Rivalität jener Großmächte, die siegreich aus dem Krieg hervorgegangen waren (…): USA und UdSSR. Beide wollten ihre Einflusssphären absichern und ausdehnen.“
„Der Hintergrund [des Konflikts, JK] ist wieder die Rivalität Washingtons und Moskaus. In Europa wird an die Adresse Moskaus postuliert, die Zeit der Einflusssphären sei vorbei. An der Realität militärischer Gegebenheiten geht diese Aussage indes vorbei. Selbstverständlich sichern die USA nicht in erster Linie aus altruistischen Motiven, sondern aufgrund definierter strategischer Interessen ihre (…) Einflusssphären militärisch ab (…). (…) Die Nato wird aus US-amerikanischer Sicht als wesentliches Instrument wahrgenommen, das der Umsetzung dieses Interesses in Europa dient. Spiegelbildlich wird die Nato-Erweiterungspolitik in Moskau perzipiert, als Bedrohung der eigenen Identität und Sicherheitsinteressen gedeutet und dementsprechend abgelehnt. Russland war nach der Auflösung der Sowjetunion lange Zeit zu schwach, um dieser Politik mehr als verbale Ablehnung entgegenzusetzen. Im Fall der Ukraine (…) ist Moskau aber in der Lage, sich zu widersetzen (…), möglicherweise mit militärischen Mitteln und unter Ausnutzung prorussischer separatistischer Kräfte (…) im Osten der Ukraine (…).“
„Kiew will sich der Nato anschließen und wird dabei von den USA unterstützt. Stimmt die Nato zu, ist ein Szenario wie in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre in Deutschland nicht ausgeschlossen: die Teilung der Ukraine und die militärische Absicherung der abtrünnigen Provinzen Luhansk und Donezk durch russische Streitkräfte. (…) Kiew hat aber auch die Möglichkeit, sich neutral oder blockfrei zu erklären wie ehedem Österreich oder Finnland.“
„Moskau hat eindeutig zu erkennen gegeben, dass es diese Lösung präferiert. Die russische Führung signalisiert aber auch unmissverständlich, dass bei einer Ablehnung die de facto bestehende Teilung der Ukraine fixiert wird. Wenig plausibel ist anzunehmen, die gewaltige Truppenkonzentration an den (…) Grenzen sei nur darauf gerichtet, ‚auf Augenhöhe‘ mit den USA an einem Tisch zu sitzen (…).“
„Für den Westen gibt es ebenfalls zwei Möglichkeiten. Er kann die Moskauer Logik und die russischen Forderungen als haltlos, als Bruch von Vereinbarungen und völkerrechtlichen Prinzipien disqualifizieren und sie ablehnen. Dann risikiert er das oben vorgestellt Szenario. Mehr als ‚die härtesten vorstellbaren Sanktionen‘ wirtschaftlicher und politischer Natur sind in einem solchen Fall (…) nicht vorgesehen. (…) Selbst wenn russische Streitkräfte Teile der Ukraine besetzen, wird an der Spitze der Sanktionsliste nicht viel mehr stehen als die Nichtinbetriebnahme von Nord Stream 2, der Ausschluss aus dem SWIFT-Zahlungssystem und einige andere (…) Strafmaßnahmen. Der Westen kann aber auch, ohne die eigene Sicherheit zu gefährden (…), auf eine weitere Ausdehnung der Nato verzichten.“
„Wird Sicherheitspolitik also realistisch (…) gedacht, wäre eine militärische Blockfreiheit der Ukraine für alle Seiten positiv. Der Ukraine blieben nicht nur schlimmstenfalls neue militärische Auseinandersetzungen (…) erspart (…). (…) Ein neutraler oder blockfreier Status würde simultan die Voraussetzungen für die Wiederherstellung der territorialen Integrität und der Einheit des Landes verbessern. (…) Gleichzeitig würde Russland die enormen negativen materiellen, wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Folgen einer solchen militärischen Aktion gegen das Nachbarland vermeiden. Ein Krieg gegen die Ukraine könnte die Legitimationskrise und die Erosion der russischen Staatsmacht beschleunigen. (…) Die russische Gesellschaft wäre einer der Hauptverlierer einer derartigen Eskalation. Das ist aber weder im europäischen noch im US-amerikanischen Interesse.“
„Für einen Kompromiss – Blockfreiheit unter der Bedingung von Souveränität, territorialer Integrität, Sicherheitsgarantien für das betreffende Land und militärische Entflechtung – gibt es allerdings viele Hindernisse. Kräfte, die zunehmend egozentriert denken und handeln und politische Rechthaberei statt Kompromissfindung zur Grundlage ihrer Entscheidungen machen, sind bei allen beteiligten Parteien in den vergangenen zwei Jahrzehnten stärker geworden.“
„Wenn alle Seiten auf ihren Standpunkten beharren, steigen die Chancen, dass es einen großen Krieg gibt. Die Anzeichen dafür mehren sich. Moskau verlegt immer mehr Truppen an die ukrainischen Grenzen. Kiew verlangt immer lauter nach Waffenlieferungen und Unterstützung durch die Nato. Drohungen werden immer unverblümter ausgesprochen. Die Öffentlichkeit wird immer nachdrücklicher auf einen Krieg eingestimmt. Die Feindbildproduktion hat bei allen Beteiligten ein alarmierendes Niveau erreicht. Kritiker, die diese Einstellungen und Haltungen in Frage stellen, werden als ausländische Agenten, Verräter an (ukrainischen) nationalen Interessen oder Putinversteher und Appeasementpolitiker diskreditiert.“
Pradettos Text ist im Zusammenhang noch etwas stringenter als das mit der Zitatesammlung hier wiederzugeben ist, aber den ganzen Text kann ich natürlich aus Urheberrechtsgründen nicht online stellen. Abschließend erläutert Pradetto noch einmal, warum bei einem militärischen Konflikt alle Seiten verlieren würden und fragt, ob denn „Schweden, Finnland, die Schweiz, Irland und Österreich ihrer eigenen oder der europäischen Sicherheit geschadet“ hätten. Gute Frage. Ist hier also eine Chance auf Frieden und ein besseres Zusammenleben im gemeinsamen Haus Europa verstolpert worden?
Der Rest ist in den Nachrichten nachzulesen. Das März-Heft der „Blätter“ kann ich, wie gesagt, nur empfehlen, auch die Lektüre der anderen Beiträge zum Thema ist keine verschwendete Zeit.
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