Vom Rechthaben und von Rechthaberei war hier schon öfter die Rede. Der berühmte „confirmation bias“ ist ein seit Peter Wasons Experimenten zu positiven, bestätigenden Teststrategien bestens untersucht. Er stellt eine evolutionär sinnvolle Heuristik dar, damit wir im Alltag nicht ständig alles hinterfragen und handlungsunfähig werden. In den empirischen Wissenschaften läuft es leider manchmal auch so, obwohl hier seit Popper negative Teststrategien, also der Versuch, eine Hypothese zu widerlegen, geradezu zur methodischen Metaregel geworden sind. Zuletzt konnte man in der Coronakrise sehen, dass Wissenschaftler/innen auch nur Menschen sind und diese methodologische Tugend gelegentlich aus den Augen verlieren. Aber bestimmte grundlegende Überzeugungen wollen wir eben nicht einfach aufgeben, nur weil ein paar Daten nicht dazu passen. Wenn Überzeugungen Teil unserer Identität sind, ist ihre Revision nicht nur die Aufgabe eines für wahr gehaltenen Aussagesatzes, sondern eine persönliche Herausforderung.
Des Weiteren wurde hier auch einmal darüber spekuliert, ob in liberalen Gesellschaften, in denen viele tradierte Normen nicht mehr verbindlich sind, ständig existentielle Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden müssen, so dass wir, wenn wir uns einmal durchgerungen haben, dieses Ergebnis auch verteidigen wollen. Wir haben es uns schließlich nicht leicht gemacht. Das gilt vermutlich auch in moralisch aufgeladenen Situationen, wie beispielsweise jetzt dem Ukrainekrieg. Da will man doch nicht auf der falschen Seite stehen.
Die sozialen Medien tragen sicher auch ihren Teil bei. Wenn man den Anderen nicht als konkreten Menschen vor sich hat, fällt es leichter, aggressive Hemmungen auszuschalten. So hatte vor vielen Jahren schon Konrad Lorenz begründet, warum das Töten mit Distanzwaffen leichter fällt als das Töten im Kampf Mann gegen Mann. Aber vielleicht war das nur ein Ergebnis einer positiven Teststrategie von Lorenz, blutig ging es schließlich auch in den antiken und mittelalterlichen Kriegen zu und das Morden in den Konzentrationslagern war immer eines auf Sichtweite.
Eine weitere Überlegung dazu will ich heute hinzufügen. Wenn wir, wie z.B. hier in den Threads, den Anderen nicht leibhaftig vor uns haben, machen wir uns aus dem, was er an Kommentaren von sich gibt, ein Bild von ihm. Oder ihr, natürlich. Es gibt dabei keine Sollbruchstelle, wo wir neue Kommentare nicht mehr im Sinne einer positiven Teststrategie zur Bestätigung des Bildes nutzen, das wir uns gemacht haben, sondern stattdessen zur kritischen Prüfung dieses Bildes übergehen. Vielmehr deuten wir jeden neuen Kommentar im Lichte des gemachten Bildes. Auch das hat eine Analogie in der Welt der Wissenschaft, wenn Forschungsparadigmen verfolgt werden und das einfache Hypothesentesten ausmanövrieren.
Und ganz ehrlich: Ist es nicht zu schön, wenn man in einem Thread ganz genau weiß, was der andere eigentlich meint, besser als er selbst? Und ihm seine Dummheit vorhalten kann?
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Frühere Blogbeiträge dazu zum Weiterlesen:
• Scienceblogs-Erfahrungen und ein Diskussionsprinzip
• Vertrauen und Verunsicherung
• Misstrauen und Wissenschaftlichkeit
• Ständiges Entscheiden und Rechthaberei
• Wissen und Meinen
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