Matthias Schrappe, streitbarer Medizinprofessor im Unruhestand, hat bei Cicero einen Meinungsbeitrag „Das neue lineare Denken“ veröffentlicht. Er beklagt darin eine Wiederkehr von hierarchischen Strukturen in der Politik und das Ausblenden kritischer Fragen in der öffentlichen Diskussion.
Dabei spannt er den Bogen von Corona bis zum Ukrainekrieg. Beim Ukrainekrieg verweist er beispielsweise darauf, in den Talkshows spiegele sich die starke pazifistische Fraktion der öffentlichen Meinung in keiner Weise wider. Es käme zu „Ausschluss- und Verhetzungsstrategien“. Schrappe sieht eine „neue Linearität“ des Denkens heraufziehen, die der Komplexität der Herausforderungen so wenig gerecht wird wie sie auf die mündige Beteiligung der Bürger/innen vertraue. Mehr noch: Die „Politik ergriff die Chance und reaktivierte die süße Versuchung des Durchregierens, endlich konnte man der Komplexität der gesellschaftlichen Strukturen wieder klares Handeln entgegensetzen.“
Man kann nun einwenden, Schrappe sei mit seinen Thesenpapieren zu Corona, die auch hier im Blog wiederholt angesprochen wurden, doch selbst ein gutes Gegenbeispiel zu der von ihm beklagen „neuen Linearität“ des Denkens, von der medienwirksamen Querdenkerei ganz zu schweigen. Bedenklicher ist aber, dass er seine Diagnose, die Politik habe die Chance des „Durchreagierens“ ergriffen, bedenklich nahe am Stil eben jener Querdenkerei formuliert, die hinter allem eh den großen Plan einer Welt-, Gates- oder Merkeldiktatur vermutet. Ebenso ist der Begriff „Linearität“ nahe an dem der „Gleichschaltung“ und in manchen Kreisen wird das sicher auch so verstanden. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass polarisierende Themen, seien es früher die Ostpolitik oder die Kernenergie, oder heute eben Corona und Ukrainekrieg, von einer Verschärfung der Debatte begleitet werden und die mediale Ausgewogenheit dabei mitunter zu wünschen übrig lässt. Wobei die Medien insgesamt weder bei Corona noch beim Ukrainekrieg „linear“ auf Regierungslinie sind, da ist Schrappes Wahrnehmung vielleicht durch den Blick auf die Talkshows etwas selektiv.
Schrappes Kommentar bewegt sich – gewollt oder ungewollt – in der Grauzone zwischen berechtigter Kritik und einem für verschwörungstheoretische Sichten anschlussfähigen Geraune. Positiv formuliert, könnte man Schrappes Kommentar so verstehen, dass er neue Formate des öffentlichen Diskurses über polarisierende Themen fordert, weil natürlich komplexe Probleme auch differenzierte Analysen und Antworten verlangen, da hat er völlig Recht. Wie solche Formate konkret aussehen könnten, wäre zu klären, da auf akute Krisen schnell reagiert werden muss (wenn man so will: mit „Durchregieren“) und dies dann politisch auch zu vertreten ist. Wobei die erste Antwort nicht die letzte sein muss. Weniger wohlwollend formuliert, lässt Schrappes Kommentar selbst das Gefühl für die Komplexität der Situation vermissen. Er läuft so Gefahr, durch unangemessene Linearität der anderen Art aus dem differenzierten Diskurs auszusteigen und stattdessen im Fahrwasser kulturpessimistischer Klagen zu enden, oder noch weiter im Abseits. Unterkomplexe Thesen von „Ausschluss- und Verhetzungsstrategien“ haben ein großes Potential, selbstbestätigende Reaktionen zu provozieren.
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