Bekanntlich hatte man sich von der Impfung gegen Corona anfangs mehr erhofft. Sie sollte die Infektion an sich verhindern und somit die Pandemie rasch beenden. Heute wissen wir, dass die Impfung Infektion und Transmission nur bedingt reduziert und auch das nicht lange. Der Nutzen mit Blick auf schwere Verläufe und Tod ist aber gegeben, insofern hat die Impfung „pandemiepolitisch“ geholfen, dass die Strategie „flatten the curve“ erfolgreich war. Bevor manche jetzt Schnappatmung bekommen: Damit meine ich nicht, dass alles an den Coronamaßnahmen gut und erfolgreich war.
Ein wichtiges Forschungsfeld bei der Corona-Impfung sind die Nebenwirkungen, unter anderem, weil so viele Menschen gegen Corona geimpft werden und daher auch seltene Nebenwirkungen in der Summe häufig auftreten.
Viele Querdenker sehen nicht nur keinen Nutzen der Impfung, sie sehen auch Nebenwirkungen in einem nie gekannten Ausmaß. Teile dieser Szene vertreten gar die These, die Impfung diene der gezielten Bevölkerungsreduktion. Aber auch „gemäßigte“ Querdenker sind von den Nebenwirkungen oft in einem Maße gebannt, dass sie Dinge sehen, die es nicht gibt.
Ein aktuelles Beispiel ist ein Beitrag von Gunter Frank, einem eigentlich klugen Kopf, der früher allerhand Gesundheitsirrtümer scharf und manchmal in recht witziger Form kritisiert hat. Bei Corona ist ihm allerdings die Fähigkeit zum kritischen Denken, vor allem zum selbstkritisch kontrollierten Denken, abhanden gekommen. Hier verfolgt er eine Mission. Er will entlarven.
Auf der populistischen Seite „Achse des Guten“ hat er am 28.11.2022 einen Kommentar zu einer Studie von Bowe et al. veröffentlicht, in der angeblich ein brisanter Befund geschickt und gezielt verborgen wurde. Dass die Wahrheit über die Impfung verheimlicht wird, ist ein stetig wiederkehrender Topos der Querdenker. Auch hier zur Schnappatmungsprophylaxe: Das bedeutet natürlich im Umkehrschluss nicht, dass die Pharmaindustrie immer mit offenen Karten spielt.
Frank stellt fest:
„Studien zeigen oft das Gegenteil dessen, was sie behaupten (…) Keiner der besagten Experten ist offensichtlich in der Lage, Studien richtig zu lesen und entsprechend einzuordnen. Es offenbart sich eine eklatante Unfähigkeit, mit statistischen Zahlen richtig umzugehen. (…)
Demnach sinken bei jeder neuen Infektion die mit der Re-Infektion statistisch korrelierenden Neuerkrankungen. Aber auch diese Schlussfolgerung ist völlig irrelevant, denn es gibt einen wichtigen Einflussfaktor, den keiner erwähnt. Auch die Studienautoren nicht. Denn er ist gut versteckt. Dazu muss man die sogenannten „Supplementaries” (Ergänzungen) anklicken und sich die Tabellen als Excel-Tabellen herunterladen. (…)
Klicken Sie nun auf Table 4. Hier können sie schwarz auf weiß lesen, dass die geringste Sterblichkeit die Nicht-Geimpften haben, die höchste Sterblichkeit die einmal Geimpften und danach die zweimal oder mehrfach Geimpften. Findet sich dazu im Text der Studie ein Wort? Ich habe es nicht gefunden. Warum? Weil dann die Chancen für eine Publikation und damit einen weiteren Karriereschritt der Autoren gesunken wäre.“
Impfungen erhöhen die Sterblichkeit bei Reinfektion? Das würde sich nahtlos ins gut gepflegte Querdenker-Narrativ von den tödlichen Corona-Impfungen fügen. Komisch nur, dass das angesichts der vielen Reinfektionen im Gefolge der Omikron-Variante nicht längst aufgefallen ist. Aber wenn die Wissenschaftler aus Angst vor einem Karriereknick alles unter den Tisch kehren?
Die Tabelle, auf die Frank Bezug nimmt, ist diese und es geht um die von mir gelb hinterlegte erste Zeile zur Risikoerhöhung nach Reinfektion:
Auf den ersten Blick stutzt man: Das Hazard Ratio (HR) für die Mortalität beträgt bei den Ungeimpften 1,67, bei den einmal Geimpften 2,25 und bei den zweimal Geimpften 1,97. Der Unterschied zwischen den Ungeimpften und den einmal Geimpften ist zudem statistisch signifikant. Hat er also Recht?
Die hier angegebenen HRs vergleichen Mortalitätsrisiken mit und ohne Reinfektion nach 6 Monaten, also bei Ungeimpften mit und ohne Reinfektion und bei den Geimpften mit und ohne Reinfektion. Die 1,67 lassen sich im Wesentlichen so lesen, dass eine Reinfektion bei Ungeimpften im Zeitfenster von 6 Monaten die Mortalität um 67 % erhöht. Aber: Die Impfstatus-Gruppen untereinander lassen sich damit nicht ohne Weiteres vergleichen.
Beim Vergleich der HRs zwischen den Gruppen hat man es mit einer ganzen Reihe von potentiellen Verzerrungsfaktoren zu tun. Hier sei nur ein Punkt angesprochen: Bei den HRs geht es nicht um Sterberaten (absolute Risiken), sondern um Ratenverhältnisse (relative Risiken). Es ist davon auszugehen, dass die Gruppen eine unterschiedlich hohe Mortalität bei der Erstinfektion haben, bei den Ungeimpften höher als bei den Geimpften. Das Mortalitätsrisiko bei Reinfektion muss daher bei ihnen entsprechend hoch ausfallen, damit das HR über 1 kommt. Wenn aus der Gruppe der Ungeimpften viele Vulnerable schon bei der Erstinfektion gestorben sind, trifft die Reinfektion auf eine besonders robuste Gruppe. Ein geringerer Zuwachs beim Mortalitätsrisiko bei den Ungeimpften im Vergleich mit den Geimpften steht dann nicht mit einer unerwünschten Wirkung der Impfung in Zusammenhang, sondern mit dem hohen Sterberisiko der Ungeimpften bei der Erstinfektion. Analoge Punkte wären bei den Geimpften zu bedenken. Zu vergleichen wären hier absolute Mortalitätsrisiken, nicht relative. Auch andere Gruppenunterschiede sind möglicherweise durch die Adjustierungen geschlüpft, bis hin zum Testverhalten.
Die Studienautoren schreiben denn auch völlig korrekt und unverheimlicht:
“Analyses of prespecified subgroups based on vaccination status before reinfection (no vaccination, one vaccination or two or more vaccinations) showed that reinfection (compared to no reinfection) was associated with a higher risk of all-cause mortality, hospitalization, at least one sequela and sequelae in the different organ systems (Fig. 2 and Supplementary Table 4) regardless of vaccination status.”
Insofern ist Gunter Franks „Enthüllung“ wohl ein Missverstehen der HRs in der Tabelle. Absicht würde ich ihm nicht unterstellen wollen. Er ist eher dem überall lauernden confirmation bias zum Opfer gefallen: Er sah, was er sehen wollte.
Ich habe über die Tabelle kurz mit Kollegen gesprochen, die mehr von Epidemiologie verstehen als ich, schließlich bin auch ich nicht gegen den confirmation bias gefeit, und habe auch sonst schon viel Freude mit Fehlern aller Art gehabt. Aber diese Sache sahen sie so wie ich. Einer sagte nett noch: „Aber wenn die Querdenker/innen Gefallen an dem Artikel finden, dann räumen sie ja schon mal ein, dass es SARS-CoV-2 gibt, dass man daran erkranken kann und dass man daran sterben kann. Ist doch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.“
Vielleicht sollte man es aus der Perspektive sehen.
Kommentare (9)