In der Diskussion um das Verhältnis des Querdenkens zur Wissenschaft ist immer wieder davon die Rede, Querdenken sei ein „Glaube“. Man findet in der Tat unschwer religiöse Elemente im Querdenken – wie übrigens auch auf der anderen Seite des Diskurses, wenn auch dort zumeist nicht so ausgeprägt.
Einige dieser religiösen Elemente des Querdenkens seien hier kurz benannt:
Besitz einer höheren Wahrheit
Querdenken beruht darauf, dass man bereits weiß, was wahr ist. Daher braucht man im Grunde keine Studien, um sich des Gewussten zu versichern, das Gewusste mutiert zu Glaubensinhalten. Diese stehen nicht zur Revision. Studien und Statistiken sind gut, wenn sie den Glauben stützen, ihn offenbaren, ansonsten sind sie Teufelszeug, mit dem die Menschen nur verwirrt werden sollen.
Heil und richtiges Leben
Die höhere Wahrheit ist eingebettet in das Wissen um das richtige Leben. Querdenken will Orientierung und Sicherheit geben. Querdenken ist daher nicht nur Kritik an der „Mainstream-Wissenschaft“, sondern am Leben des Mainstreams, am Unsicheren, Vorläufigen, Nichtwissen. Man lebt in Umkehr und Abkehr: vom Staat, von der Pharmaindustrie, vom „normalen“ Schlafschafdasein. Extremere Formen führen in die Esoterik und Sektenbildung, von Q-Anon bis zum Reichsbürgertum.
Zeichen, Rituale und Gottesdienste
Vieles von dem, was im Querdenken gesagt wird, dient primär nicht der Verständigung über empirische Fragen, sondern als Zeichen. Wörter wie „Impftote“, „Giftspritze“, „Ivermectin“ usw. sind Erkennungszeichen für die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft, die Demos haben Gottesdienstcharakter, mit liturgischen Elementen wie der Predigt oder Sprechakten, die an die Segnung der Gläubigen erinnern. Auch Kollekten sind allgegenwärtig.
Propheten, Priester, Märtyrer
Wie jede religionsartige Glaubensgemeinschaft hat auch das Querdenken Propheten und Priester. Bhakdi spielt die Rolle des Propheten geradezu mustergültig. Seine Bücher haben „Bibel“-Charakter. Man prüft nicht, was dort steht, man beruft sich darauf. Homburg und Co. sind eher Priester und Kirchenbeamte. Sie verwalten den Glauben, pflegen die gemeinsamen Rituale, halten die Gemeinde durch rechtgläubige tweets zusammen. Wenn ihr Handeln juristische Folgen hat, werden sie zu Märtyrern – Kunstblutzeugen des Glaubens
Gläubige und Ungläubige
Die Gläubigen, die die Wahrheit hinter den Täuschungsversuchen des Bösen erkannt haben und ihren Propheten und Priestern folgen, können gerettet werden. Die Ungläubigen aber sind verloren, sie sind im besten Fall „Schlafschafe“, im schlimmsten Fall Teufel, die die Gläubigen absichtlich mit Studien, Daten und Argumenten in Versuchung führen wollen. Dem gilt es zu widerstehen.
Gut-Böse-Dichotomie
Im Querdenken findet sich oft eine harsche Einteilung von Positionen und Menschen in „gut“ und „böse“. Vor allem in einschlägigen Threads kann man diese Scheidung in zwei moralische Welten gut erkennen. Die Bekämpfung des Bösen rechtfertigt alles, was man selbst tut.
Apokalypse
Viele Querdenkende sehen in der Coronapolitik einen Weg in die Apokalypse. Die Freiheit ist verloren, die Diktatur kommt, der Great Reset wird alles nach dem Willen der Eliten umstürzen, die Geimpften werden sterben: Der Untergang steht bevor und wer es sehen will, kann es sehen.
Schuld und Verdammung des Bösen
Das Böse wird als schuldbeladen dargestellt. Der anderen Seite wird dann nicht nur Irrtum, sondern Absicht am Verderben der Menschheit unterstellt. Häufig resultiert daraus der Wunsch nach Vergeltung und Verdammung: Wieler, Drosten & Co. sollen vor Gericht gestellt werden, in manchen Threads wünscht man sie an den Galgen. Der „Corona-Ausschuss“ muss allerdings noch etwas an sich arbeiten, bis er in die Fußstapfen der Heiligen Inquisition treten kann.
Eine Leerstelle im Querdenken scheint es beim Gottesbild zu geben. Vielleicht ist der religiöse Schatten, den das Querdenken wirft, atheistisch, oder, denkt man Gruppen wie „Christen stehen auf“, mit Blick auf das Gottesbild einfach konventionell. Wie bei allen Analogiebetrachtungen passt manches besser, manches weniger gut, an manches habe ich sicher auch nicht gedacht und manches trifft, wie eingangs gesagt, auch auf die „andere Seite“ zu. Insofern vielleicht ein gutes Diskussionsthema.
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