Vor kurzem hatten wir hier vor dem Hintergrund von Protesten der „Letzten Generation“ in einem langen Thread darüber diskutiert, was Protest darf. Die Frage ist in den Medien anlässlich der Proteste in Lützerath erneut virulent geworden. Wiederum stehen sich Positionen gegenüber, bei denen auf der einen Seite betont wird, es ginge nicht an, gegen demokratisch zustande gekommene Entscheidungen geltendes Recht zu verletzen und auf der anderen Seite, so einfach könne man diese Proteste nicht delegitimieren.
Dazu sei auf zwei aktuelle Kommentare hingewiesen:
1. Maximilian Steinbeis kritisiert im aktuellen Editorial von „Verfassungsblog“ die von Innenministerin Nancy Faeser und in einem FAZ-Kommentar von Reinhard Müller propagierte Sicht, mit dem auf demokratischem Wege zustande gekommenen Kompromiss zwischen RWE und der Politik sei kein Platz mehr für Proteste gegen das Abbaggern von Lützerath. Faeser wird in den Medien mit diesen Worten zitiert:
„In einer Demokratie entscheiden Parlamente und demokratisch gewählte Regierungen. Wer seine Anliegen mit Gewalt erzwingen will, verlässt diesen Konsens.“
Da fehlt nur noch Schröders „Basta“. Und Reinhard Müller sieht in den Protesten in Lützerath „die kontinuierliche Desavouierung demokratisch legitimierter Entscheidungen“ und den „Traum von einem anderen Reich“, auch die polemische Formulierung vom „Klima-Terrorismus“ bringt er wieder ins Spiel.
Steinbeis wendet dagegen ein:
„Was man sicherlich nicht verlangen kann, ist Konsens. Demokratie ist dazu da, die Auseinandersetzung über das politisch Wünschenswerte unter Verschiedenen offen zu halten, nicht sie zu schließen. Die Überstimmten müssen gerade nicht zustimmen. Sie können und dürfen das Entschiedene weiterhin für falsch halten. Sie müssen sich nicht einreihen in den allgemeinen Volkswillen. Sie dürfen dagegen und nicht einverstanden bleiben. Sie dürfen protestieren. Natürlich darf man gegen demokratisch legitimierte Entscheidungen protestieren.“
Und weiter:
„Was daran rechtfertigt auch nur im Entferntesten eine Parallele zu irgendwelchen Reichsbürgern oder anderen autoritären Umsturzversuchen?“
Es gehe bei den Protesten ja gerade nicht darum, etwas ein für alle mal im eigenen Sinne zu bestimmen und demokratische Auseinandersetzungen zu beenden, wie es z.B. bei Trumps oder Bolsonaros Anhängern der Fall war, als die das Parlament stürmen wollten, oder bei den Rechten und ihren Phantasien eines autoritären Führerstaats, sondern im Gegenteil um das Offenhalten der Diskussion.
Auch in dieser Sache ist sicher mit der Positionierung von Maximilian Steinbeis nicht das letzte Wort gesprochen, aber mit einem „legal Entschieden, basta“ gewiss auch nicht.
2. Im aktuellen SPIEGEL 3/2023 gibt es einen Leitartikel von Sophie Garbe. Sie fragt, ob die gegenwärtige Haltung der Bundesregierung am Ende auf zwei unerwünschte Alternativen hinausläuft:
„Entweder die Proteste intensivieren sich, und die Gräben werden noch tiefer. Oder sie hören ganz auf, weil die Aktivisten resignieren, weil sie das Gefühl haben, nichts zu erreichen. Aus demokratischer Sicht wäre diese Option wohl noch fataler.“
Und auch Garbe weist darauf hin, dass die Motivation dieser Proteste demokratische Politik gar nicht grundsätzlich infrage stellt:
„Denn im Kern ist ein Großteil des Klimaaktivismus staatsgläubig, die Proteste sind immer auch ein Appell an die Politik.“
In dieser Debatte kommen verschiedene Problemkreise zur Sprache, die man auseinanderhalten sollte, unter anderem:
• Die Verbindlichkeit demokratisch bzw. legal hergestellter Entscheidungen
• Das Recht, solche Entscheidungen zu kritisieren und auch gegen solche Entscheidungen zu demonstrieren
• Die Legitimität, gegen solche Entscheidungen durch Regel- und Rechtsbrüche Widerstand zu leisten
• Die Legitimität von Gewalt bei solchen Widerstandsaktionen
• Die politische Klugheit auf der einen Seite, Protest hörbar zu gestalten, aber die Mehrheit der Bevölkerung nicht abzuschrecken
• Die politische Klugheit auf der anderen Seite, einen in der Sache berechtigten Protest nicht vorschnell zu kriminalisieren
• Die Pflicht des Staates, einen wirksamen Klimaschutz umzusetzen
• Das Verhältnis zwischen Protest gegen rechtsverbindliche Entscheidungen und der Ablehnung des Staates
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Zum Weiterlesen:
• Maximilian Steinbeis (2023). Nichts ist gut. Editorial Verfassungsblog 13.1.2023.
• Jörg Alt (2022). Widerstand! Gegen eine Ökonomie, die tötet. Vier-Türme-Verlag Münsterschwarzach.
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