Heute vor einem Jahr hat Russland die Ukraine überfallen, zum zweiten Mal, nachdem es 2014 schon einmal die von ihm selbst im Budapester Memorandum 1994 garantierten Grenzen der Ukraine verletzt und die Krim annektiert hatte. Brutale Machtpolitik, gleichwohl fast schon achselzuckend hingenommen.
Diesmal hat sich der Westen allerdings richtig erschrocken. Der neue Krieg hat dem Westen die Illusion genommen, dass es nicht so schlimm ist, wenn Putin Menschen abschlachtet, dass er trotzdem ein „lupenreiner Demokrat“ und vor allem ein verlässlicher Geschäftspartner sein könne. So lange die Leichenberge in Grosny oder in Syrien lagen, weit weg, konnte man Putins Menschenverachtung gut verdrängen.
Jetzt, mit dem Krieg vor der eigenen Haustür und dem unguten Gefühl, dass sich Putin, wenn man ihn nicht stoppt, vielleicht demnächst auch Polen oder das Baltikum vornimmt und dann die Konfrontation mit der NATO noch einmal ganz andere Dimensionen annimmt, jetzt verdrängen wir statt dessen, dass rund um den Globus viele mörderische Konflikte weitergehen. Jemen, der Südsudan, Tigray, Libyen, Irak, Syrien, Myanmar, Afghanistan, Mali. Das alles ist durch den Ukrainekrieg wieder ganz weit weggerückt.
In der öffentlichen Diskussion sind die Rollen des Bösewichts und der Guten derzeit klar verteilt: Putin ist der Schurke, keine Frage, er ist wirklich einer, der Westen steht für liberale Werte, für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Eindeutige Fronten? Im globalen Süden sieht man da manches anders, man hat da nicht immer die besten Erfahrungen mit dem Westen gemacht, aber der Süden ist auch weit weg. Leben da nicht Eingeborene, die in Lehmhütten hausen, Kakao anbauen und von unseren Hilfsorganisationen versorgt werden? Gut, neuerdings schürfen sie auch seltene Erden aus dem Boden. Was verstehen die schon von Politik. Dass manche Regionen in den armen Ländern diesen Vorstellungen auch noch wirklich entsprechen, macht die Sache nicht unbedingt besser. Den Politikern dort mag China eher als Entwicklungsmodell für den Weg aus der Armut vor Augen stehen als das geldige Deutschland.
Dazu noch sind die westlichen Werte auch in den Augen vieler Europäer und US-Amerikaner inzwischen von Fäulnis befallen. Was sind das für Werte, die Wohnen in den Städten unerschwinglich machen, die mit sklavenartigen Arbeitsverhältnissen Profite erwirtschaften lassen, oder Menschen im Alter aus der Gesellschaft ausgrenzen und in unbezahlbare Pflegeheime abschieben? All das gepaart mit neoimperialer Überheblichkeit, mit Missachtung der „Peripherie“, mit dem Übersehen von Warnsignalen, dass auch nach dem angeblichen „Ende der Geschichte“ nicht die ganze Welt nach diesen nicht mehr so hell leuchtenden westlichen Werten strebt. Das Scheitern der Exportversuche liberaler Gesellschaftsmodelle in den Irak oder nach Afghanistan, die Abwendung von den „westlichen Werten“ in der Türkei, in Südostasien, selbst innerhalb der EU, in Polen oder Ungarn: Es hat kein Nachdenken über die eigene Entwicklung befördert, immer waren nur die anderen die Problemfälle.
Vielleicht ist auch dieser Verlust an „soft power“ ein Teil der Erklärung dafür, dass Putins Propaganda in Russland, aber auch andernorts, auch bei uns, auf durchaus fruchtbaren Boden fällt, samt seinen altbackenen „antiwoken“ kyrillischen Männlichkeits- und Härteidealen. Vielleicht muss „der Westen“ auch bei seinen vielzitierten Werten wieder aufrüsten, nicht nur bei den Panzern. Im Interesse der eigenen Bürger:innen wäre es ohnehin. Aber diese Herausforderung ist noch nicht in den Köpfen angekommen, es gibt in Deutschland nach wie vor keinen „Wumms“ im Wohnungsbau oder in der Pflege. Vom Klimawandel ganz zu schweigen.
Das alles ändert natürlich nichts daran, dass Putin gestoppt werden muss. Im Moment helfen da nur Waffen. Aber der Ukrainekrieg sollte doch auch das Nachdenken darüber anregen, was ein gutes Leben ausmacht, was für alle erstrebenswert ist und allen eine Zukunft bietet, was sich umso mehr auch gegen die Putins und Xis dieser Welt zu verteidigen lohnt.
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