Nun ist es gewiss: Die fünf Männer, die in einem Mini-U-Boot zum Wrack der Titanic tauchen wollten, sind tot. Das Boot war wohl nicht für solche Tiefen geeignet, es ist implodiert. Die Insassen waren reiche Männer, die leichtsinnig ein extravagantes Abenteuer erleben wollten. Die Weltpresse hat seit dem Verschwinden des U-Boots ausführlichst über die internationalen Rettungsbemühungen mit Schiffen, Flugzeugen und Tauchrobotern berichtet, der Aufwand war enorm.
Kurz zuvor sind über 500 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Es ist unklar, was wirklich zu ihrer Rettung unternommen wurde, das wird noch untersucht. Die Weltpresse nahm ebenfalls Anteil, aber deutlich leiser. Es gibt so viele Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken und angeblich reagieren offizielle Stellen mitunter gar nicht, wenn sie auf seeuntüchtige Boote hingewiesen werden, in denen Flüchtlinge unterwegs sind und vielleicht kentern.
500 versus 5, auch darüber berichten die Medien. Gestern war in der Süddeutschen dazu ein Kommentar von Andrian Kreye. Er spricht die unterschiedlichen Hintergründe an – hier aus sozialer Not geflohene Menschen, dort eine Vergnügungsfahrt von Menschen mit viel Geld. Aber er verwehrt sich gegen Medienberichte, die im Tod der 500 eine größere Tragödie sehen als im Tod der Fünf:
„Die Regeln der abendländischen Ethik verbieten die Vergleiche. Der Tod der Unterwassertouristen [ist] für ihre Familien so tragisch, wie es der Tod der Flüchtlinge für ihre ist. Jede Wertung wäre eine unmenschliche Form des Utilitarismus. Auch wenn die Moral in beiden Geschichten ganz eindeutig ist. Die Flüchtlingskatastrophe vor Griechenland ist das Sinnbild des herzlosen Nordens, der nicht bereit ist, die Menschen zu retten, die aus dem Süden vor Krisen wie Krieg, Klima oder Armut fliehen mussten, an denen der Norden oft Mitschuld hat. Der Kern der U-Boot-Geschichte wiederum ist das Problem mit all den Milliardären, die mit neuen Technologien so superreich wurden. Das klappte in der Regel nur mit einem Höchstmaß an Rücksichtslosigkeit.“
Ich will dabei gar nicht auf den Widerspruch seiner Argumentation hinaus, wenn er sagt, der Vergleich verbiete sich und dann anfügt, die Moral in beiden Geschichten sei ganz eindeutig. Auch ob es viel Sinn macht, eine „abendländische“ Ethik mit Geltungsansprüchen auszustatten, muss man nicht diskutieren. Wenn Geltungsansprüche der Ethik als „abendländisch“ relativiert werden, dann haben sie den Charakter von historisch zufälligen regionalen Sitten und Gebräuchen. Das ist die Verbindlichkeit von “manche sagen so, manche so”.
Mir geht es vielmehr darum, ob Kreye beim Thema Vergleich den Utilitarismus zu Recht kritisiert oder nicht. Ich vermute, Kreye hatte bei seinem Satz das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz im Hinterkopf. Das Urteil untersagt den Abschuss eines Flugzeugs, das entführt wurde und terroristisch als Waffe gegen eine große Menschenmenge eingesetzt werden soll. Dabei geht es um Kants Ethik, die sich im Grundgesetz in Art. 1 im Schutz der Menschenwürde niedergeschlagen hat: Die Menschenwürde ist unantastbar, niemand darf nur als Mittel gesehen werden, zum bloßen Objekt degradiert werden.
Das ist zwar nicht die Basis des Utilitarismus, aber der Utilitarismus geht sehr wohl davon aus, dass alle Menschen gleich sind: „Jeder zählt als einer, keiner mehr als einer“, so der Stammvater des Utilitarismus, Jeremy Bentham. Die Utilitaristen wollten in sozialreformerischer Absicht darauf aufmerksam machen, dass der Arbeiter so viel zählt wie der Adlige, oder heutzutage der Flüchtling so viel wie der Millionär. Die Frage, warum man so viel mehr Mittel einsetzt, um die 5 reichen Männer zu retten, als die vielen Flüchtlinge im Mittelmeer, ist höchst berechtigt, ob man Utilitarist ist oder nicht, sie legt den Finger in die blutige Wunde unserer „westlichen Werte“.
Wäre die Situation so, dass zur Rettung entweder der 5 oder der 500 für eine konkrete Entscheidung nur ein fixes Budget verfügbar wäre, würde der Utilitarismus fragen, bei welcher Entscheidung – 5 oder 500 – mit dem Budget mehr gerettet werden könnten. Diese Entscheidung war hier nicht zu treffen. Es ging nicht um eine alternative Verwendung von begrenzten Mitteln, auch die Diskussion, bis zu welcher Summe sich ein Rettungsaufwand „lohnt“, ist im konkreten Fall müßig. Der Einsatz zur Rettung der 5 ist unter diesem Aspekt nicht zu kritisieren, die Versäumnisse bei der Rettung von Flüchtlingen sehr wohl.
Ein kleiner Exkurs: In der Gesundheitsökonomie kann die utilitaristische Vorgehensweise durchaus ethisch heikel werden, wenn zum Vergleich von Behandlungsalternativen unterschiedliche Outcomes in gemeinsamen Einheiten verrechnet werden, z.B. qualitätsadjustierten Lebensjahren (QUALYs). Das kann grundsätzlich dazu führen, dass bei der Priorisierung von Gesundheitsleistungen bei einem fixen Budget z.B. Schönheitsoperationen vor Krebsbehandlungen rangieren. Berühmt geworden ist eine ethisch unvertretbare Anwendung utilitaristischer Methoden 1987 in Oregon, als dem 7-jährigen Coby Howard eine Knochenmarkstransplantation verweigert wurde, weil andere Verwendungsoptionen der verfügbaren Mittel einen höheren Ertrag an QUALYs ergaben. Solche Ereignisse sprechen allerdings nicht gegen utilitaristische Entscheidungsverfahren im Gesundheitswesen, sondern gegen ihre gedanken- oder herzlose Anwendung.
Bei der Frage 5 oder 500 geht es, wie gesagt, nicht um solche Alternativen. Es geht „lediglich“ um die angesichts unserer so gerne bemühten „westlichen Werte“ schmerzhafte Erinnerung daran, dass uns Menschen nicht gleich viel wert sind, dass nicht „jeder als einer zählt.“
Für die Toten ist das anders. Der Tod macht alle Menschen gleich. Er ist für Arme wie Reiche das Ende allen Besitzes, aller Träume, aller Möglichkeiten, egal wie opulent oder bescheiden sie gewesen sein mögen. Die mittelalterlichen Totentänze haben es den Lebenden damals bildlich vorgeführt, als unvermeidbares Schicksal. Vielleicht hat die zeitliche Koinzidenz der 500 und 5 etwas von einem Totentanz, aber ein unvermeidbares Schicksal war weder der Tod im Mittelmeer noch der Tod im Nordatlantik. Mehr Gleichheit der Lebenschancen, vor dem Tod, wäre etwas zutiefst Utilitaristisches.
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