In Deutschland ist Gründerzeit. Zumindest, was neue Parteien angeht. Das ist ein Zeichen dafür, dass es in der Gesellschaft gärt und neue Parteien beanspruchen demzufolge in der Regel auch, systemkritisch zu sein. Das war bei den Grünen so, das ist bei den aktuellen Neugründungen auch so. Manche, wie die Grünen, hegen ihre fundamentalistischen Flügel ein und werden systemstabilisierend, manche, wie die AfD, radikalisieren sich und verstehen Systemkritik dann als Kritik an Demokratie und Weltoffenheit, manche, wie „Die Basis“, kommen über ihr obskurantistisches Milieu nicht hinaus, bei manchen, wie dem Bündnis Wagenknecht, weiß man noch nicht so recht, was es will und manche sind von vornherein systemstabilisierend angelegt, wie die neue Werteunion des Herrn Maaßen. Allerdings will die Werteunion ausgerechnet die Teile des Systems stabilisieren, die reformbedürftig sind, sie präsentiert sich als retrokonservative Partei.
Gestern hat sich der Verein „Werteunion“ auf einem Schiff auf dem Rhein zur Partei erklärt: Sie hat keinen festen Boden unter den Füßen und wo die Reise hingeht, ist offen. Es grüßt die Loreley.
Zunächst, so heißt es, will man die Lücke zwischen Union und AfD schließen, also die von der Union erklärte „Brandmauer“, die ohnehin keine ist, zur Brücke umbauen. Natürlich ganz unideologisch. Dazu im Gründungsprogramm vom 17.2.2024, erster Abschnitt „Verfassung, Recht und Entideologisierung“:
„Die WerteUnion setzt sich für eine Stärkung der freiheitlichen Demokratie und für ein Zurückdrängen des „Wokismus“ und anderer Ideologien ein, die die freiheitliche Gesellschaft und ihren Zusammenhalt beschädigen. Ein Zwang oder Druck zur Anwendung von Gendersprache und Genderideologie haben in staatlichen Einrichtungen, im öffentlichrechtlichen Rundfunk und in (Hoch-)Schulen nichts zu suchen.“
So kann man mit dem Begriff „Entideologisierung“ ideologische Duftmarken setzen – brückenbauend vom konservativen „bürgerlichen“ bis ins extreme rechte Spektrum. „Endideologisierung“ wäre die bessere Überschrift gewesen.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk samt jeder staatlicher Finanzierung von Medien soll beseitigt werden. Gewiss wird eine radikale Privatisierung der Medien zur Endideologisierung beitragen. Danach kann man vielleicht auch Finanzverwaltung und Polizei privatisieren, das baut Brücken zu den libertären Freibeutern.
Ein wesentlicher Programmpunkt der neuen Partei ist die Begrenzung der Migration. Ein bisschen völkisches Denken baut schließlich auch Brücken zu Freunden mit alternativen Vorstellungen für Deutschland. Wirtschaftspolitisch wird das abenteuerlich:
„Der partielle Fachkräftemangel und das demographische Problem müssen vor allem durch arbeitsmarkt-, bildungs- und familienpolitische Maßnahmen gelöst werden.“
„Kinder statt Inder“ war mal ein dummer Spruch eines CDU-Ministerpräsidenten, im Jahr 2000. Viele Kinder hat der Rüttgers-Storch nicht gebracht, aber sicher so manchen Inder abgeschreckt. Der Sachverständigenrat Wirtschaft geht davon aus, dass der Arbeitsmarkt in Deutschland eine Netto-Zuwanderung von jährlich 400.000 Menschen braucht. Die Werteunion sollte ein sofortiges Verbot von Kondomen und anderen Verhütungsmitteln fordern. Dann haben wir vielleicht in 30 oder 40 Jahren die biodeutschen Nachwuchskräfte, die wir heute brauchen. Bis dahin führen diese Brücken nach Rechts ins ökonomische Nirgendwo.
Aber wirtschaftspolitischer Sachverstand geht der Werteunion eh ab:
„Der Staat muss sich wieder auf seine Kernaufgaben beschränken. Deshalb muss die Staatsquote deutlich gesenkt werden. Überflüssige Bürokratien und Behörden sind abzuschaffen. Mit der Reduktion der Staatsquote muss eine Senkung der Abgabenbelastung einhergehen. Markt und Wettbewerb dürfen nicht länger durch Bürokratie und immer mehr überhandnehmende Regulierungen und Vorschriften gelähmt werden.“
Das ist nicht Entideologisierung, sondern liberale Ideologie auf Hilfsschulniveau. Die Staatsquote hat mit den Staatsausgaben nur bedingt zu tun, mit „überflüssigen Bürokratien“ praktisch gar nichts. Zwar wird gefällig auch angemerkt, dass der Markt „kein Selbstzweck“ sei, sondern „dem Wohle aller dienen“ soll, aber wie das gehen soll ohne Regulation, darüber verliert die Werteunion lieber keine Worte. Letztlich bleibt es beim Credo aller Marktliberalen: Der Markt wird es schon richten.
In der Klimapolitik ist die Werteunion ganz aus der Zeit gefallen:
„Eine weitere Reduzierung des Kohlendioxidanteils durch Deutschland wird keine messbaren Auswirkungen auf den Klimawandel haben, aber zur Zerstörung oder Abwanderung unserer Industrien und zur Verarmung von Teilen der deutschen Bevölkerung führen. (…) Die WerteUnion fordert, dass so viele der stillgelegten Kernkraftwerke wie möglich wieder in Betrieb genommen werden.“
Beim Thema Wissenschaft positioniert sich die Werteunion als Unwerteunion:
„Entscheidend ist eine freie, offene und kritische Diskussion, bei der es keine Tabus und keine von der Kritik ausgenommenen Theorien geben darf.“
Im besten Fall heißt das, freie Fahrt für die Homöopathie an den Hochschulen, im schlimmsten Fall ist man auch offen für Rassentheorie und Remigrationsforschung. So ganz ohne Tabus.
Abschnitt 11 des Papiers behandelt dann, danach hatte ich eigentlich gesucht, die „Medizinische Versorgung, Gesundheit und Pflege“. Die neue Partei setzt sich für evidenzbasierte Medizin ein – dagegen wird niemand etwas haben, für den Ausbau geriatrischer und palliativer Strukturen in der Pflege und für eine Aufarbeitung von Corona. Fertig. Die Pflegekräfte fallen vom Himmel, Hausärztemangel, Krankenhausreform, Digitalisierung im Gesundheitswesen usw. – wozu Worte über solche Dinge verlieren, wo man sich doch schon zur Genderfrage und zur Migration geäußert hat.
An der Stelle war dann auch ich fertig. Was heute alles so als Partei durchgeht. Das hätte es unter Adenauer nicht gegeben!
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