Follow the science
Die Klimaaktivisten haben den Satz „follow the science“ populär gemacht. Zu Recht. Zumindest, wenn man darunter versteht, dass die Politik die Augen nicht davor verschließen darf, was unübersehbar ist, was die wissenschaftlichen Spatzen von den Dächern pfeifen. Wenn die Politik unter Rücksicht auf mächtige wirtschaftliche Interessen oder aus ideologischen Prägungen heraus die Zukunft der Menschheit verheizt, muss die Wissenschaft laut und politisch werden.
In der Coronakrise ist der Satz schon weniger offensiv vorgebracht worden. Es war oft genug nicht klar, was „die Wissenschaft“ sagt und wohin man ihr folgen soll. Schulen schließen? Einfache Stoffmasken tragen? Besuche in Pflegeheimen verbieten? Tische in Restaurants desinfizieren? Einen Lockdown anordnen, und wann und wie lange? Ungeimpfte aus dem öffentlichen Leben fernhalten? Kleine Inzidenzschwankungen politisch mit der Verschärfung oder Lockerung von Maßnahmen beantworten?
Häufig musste die Politik hier unter Ungewissheit entscheiden, mit einer Wissenschaft, die in mehreren Stimmen sprach, dazu begleitet von den pseudowissenschaftlichen Misstönen der Querdenkerszene. Hier wäre mehr demokratischer Diskurs wünschenswert gewesen. Die aktuellen Forderungen nach einer „Aufarbeitung“ der Coronapolitik spiegeln dieses Defizit wider.
Zwei Welten
Politik ist ohnehin nicht einfach die Umsetzung von Wissenschaft in Handeln. Die vielfach zu beobachtende „Epistemisierung“ des Politischen“ verkennt, dass Wissenschaft und Politik zwei Welten sind, in denen mit unterschiedlicher Münze gezahlt wird: einmal geht es um die Suche nach Wahrheit, einmal um die Suche nach Interessensausgleichen. Im Gesundheitsbereich beispielsweise spricht man daher statt von „evidence-based Public Health“ immer öfter von „evidence-informed Public Health“. Dies trägt dem Umstand besser Rechnung, dass politische Entscheidungen auch politisch zu verantworten sind, möglichst demokratisch legitimiert. Die Philosophenherrschaft passt nicht in eine demokratisch verfasste Gesellschaft: Wissenschaft ist keine demokratische Veranstaltung, die Wahrheit ist kein Ergebnis von Interessensausgleichen, sie kennt auch keinen Minderheitenschutz. Dies steht nicht in Widerspruch zur Vorläufigkeit aller empirischen Befunde der Wissenschaft, d.h. die Möglichkeit der Revision von Ergebnissen ist beiden Welten durchaus gemeinsam.
Markt Schwabener Sonntagsbegegnung
Heute fand in Markt Schwaben wieder eine der „Markt Schwabener Sonntagsbegegnungen“ statt. Der Fraktionschef der CSU und frühere Gesundheitsminister Klaus Holetschek diskutierte mit dem Präsidenten der TU München, Prof. Thomas Hofmann, über Wissenschaft und Politik.
Den Einstieg in die Diskussion bildete ein kurzer Rückblick auf die Rolle der Wissenschaft in der Coronakrise und die Problematik, dass öffentliches Vertrauen und wissenschaftliche Unsicherheiten nicht im Selbstlauf zueinander finden. Aus diesem Punkt hätte man mehr machen können, etwa was die Herausforderungen wissenschaftlicher Politikberatung angeht, das Zusammenspiel von Ressortforschung und universitärer Forschung, das Verhältnis zwischen wissenschaftsbasierter und politikerklärender Kommunikation oder die Rolle der Medien und Wissenschaftsredaktionen.
Nach einem Hinweis von Thomas Hofmann auf den „TUM Think Tank“ und einer Anregung von Klaus Holetschek, dieser Think Tank könne die Coronakrise ja noch einmal reflektieren, nahm die Diskussion allerdings einen anderen Verlauf. Thomas Hofmann sprach die Notwendigkeit an, in Deutschland besser zu werden bei der Umsetzung von Forschung in wirtschaftliche Innovationen und dass hier die Bürokratie vieles erschwere. Das ist sicher richtig, aber damit war ein Trigger gesetzt, von dem die Diskussion nicht mehr wegkam. Die beiden Diskutanten ebenso wie das Publikum haben Bürokratie-Anekdoten aus ihrem Alltag berichtet, erheiternd bis erschreckend, aber nicht unbedingt auf der Höhe der organisationssoziologischen Forschung und nur noch bedingt erhellend im Hinblick auf das Thema Wissenschaft und Politik.
Am Rande
Wenig zielführend für die Diskussion war auch, dass unter Verweis auf eine Umfrage des Marktforschungsinstitutes „Trendence“, Jugendliche wollten mehrheitlich Beamte werden, eher Vorurteile über die Jugend von heute bedient wurden. Zum einen geht Bildungs- und Arbeitsmarktforschung anders, zum anderen hätte man hinterfragen müssen, was solche Antworten in Meinungsumfragen womöglich stimuliert, was das z.B. mit gesellschaftlichen Unsicherheiten zu tun haben könnte. Hier wäre es sicher aufschlussreicher gewesen, nicht über die Jugend zu reden, sondern mit ihr. Ebenfalls nicht gerade wissenschaftsbasiert war die unwidersprochene Polemik eines bekannten Unternehmensberaters gegen die betriebsärztliche Betreuung auch kleinerer Unternehmen. Seine Äußerung, die Verpflichtung bestehe ab einer Beschäftigtenzahl von 50, war zudem nicht einmal wissensbasiert – die Verpflichtung besteht ab einer Mitarbeiterzahl von 1, aber es muss nicht unbedingt ein Betriebsarzt engagiert werden. In einer Zeit, in der gesunde und leistungsfähige Beschäftigte immer wichtiger werden, eine aus der Zeit gefallene Polemik.
Dennoch: Auch diese Sonntagsbegegnung war anregend, wie viele zuvor, und einer Vertiefung der Diskussion zum Thema Wissenschaft und Politik bei anderer Gelegenheit steht ja nichts im Wege.
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Nachtrag 22.4.2024: Das Schöne an solchen Veranstaltungen ist, das sie nachwirken. Gestern hatte Thomas Hofmann kurz die bayerische Hightech-Agenda gelobt, ein milliardenschweres Förderprogramm, aus dem u.a. 100 Professuren für KI gefördert werden. Daran hätte man eine Diskussion über Ziele und Instrumente staatlicher Forschungsregulation anschließen können, oder auch der Folgen intensiver Drittmittelforschung, und inwiefern damit die Münze „Wahrheit“ umgemünzt wird. Auf der einen Seite wären hier Förderprogramme, Stiftungsprofessuren usw. zu betrachten, auf der anderen Seite Forschungsrestriktionen, etwa mit Blick auf Gain-of-function-Forschung mit gefährlichen Krankheitserregern oder beim Klonen von Menschen. Ob von den Diskutanten wohl jemand zur alten „Starnberger Finalisierungsthese“ hätte Stellung nehmen können?
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