Meine aktive Dienstzeit ging gestern zu Ende. Nach ca. 66 Jahren, oder etwas kleinteiliger, fast 600.000 Stunden Lebenszeit, bin ich jetzt im sogenannten “Ruhestand” angekommen. Das ist die Lebensphase, für die die Gesellschaft auch nach Jahrzehnten der Diskussion über den demografischen Wandel immer noch kein zeitgemäßes Rollenbild hat und nach wie vor nicht weiß, ob sie den älteren Menschen gegenüber überhaupt noch Erwartungen hegen soll oder nicht.

Der Sterbetafel 2020/2022 zufolge beträgt meine Lebenserwartung noch ca. 17 Jahre. In den letzten 30 Jahren sind bei der ferneren Lebenserwartung meiner Altersgruppe gut 3 Jahre hinzugekommen. In den Coronajahren ist sie zwar wieder etwas zurückgegangen, bei den 65-Jährigen von 17,94 Jahren nach der Sterbetafel 2017/2019 auf zuletzt 17,63 Jahre. Da das aber Daten aus einer Periodensterbetafel sind, die mit den realen Sterberaten des jeweiligen Zeitraums arbeitet, hat dieser Rückgang für mich keine prognostische Bedeutung. Die erhöhte Sterblichkeit in den Jahren der Pandemie liegt schließlich hinter mir.

In all den Jahren haben gesundheitsförderliche und belastende Faktoren auf mich eingewirkt, meist keine besonders spürbaren. Vielleicht habe ich 200.000 Stunden sitzend zugebracht? Viele tausend Stunden sicher auch unter Stress, noch mehr unter der Belastung durch allgegenwärtige Luftschadstoffe. Solche Risikofaktoren sind für kurze Zeit in der Regel harmlos, man merkt vieles gar nicht, aber kumulativ über eine lange Zeit bleibt das sicher nicht folgenlos, auf Dauer können auch schwache Einflussfaktoren größere Wirkung entfalten. Gleiches gilt natürlich auch für die schönen Dinge des Lebens. Manches davon beeinflusst nur den Gesundheitszustand, das Wohlbefinden oder die Fitness, manches wird sich auch auf die Lebenserwartung auswirken.

Für die fernere Lebenserwartung der älteren Menschen wird die medizinische Versorgung bedeutsamer als in jüngeren Jahren. Das ist nicht verwunderlich, mit dem Alter nehmen eben die gesundheitlichen Beschwerden zu, auch die behandlungsbedürftigen. Bisher gewährleistet das Sozialsystem in Deutschland (fast) allen Menschen eine gute gesundheitliche Versorgung, unabhängig von ihrem Einkommen, wenngleich das nicht ohne Weiteres für Obdachlose, Asylbewerber und, für ein reiches Land wie Deutschland beschämend, oft auch nicht für eine gute pflegerische Versorgung im Alter gilt.

Wir gehen gerade härteren Zeiten entgegen. Die relative Stabilität des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems der letzten Jahrzehnte ist – vorerst – wieder einmal vorbei. Wie sich vor diesem Hintergrund die Gesundheitsversorgung im Alter künftig entwickelt und wer in welchem Umfang noch am medizinischen Fortschritt teilhaben wird, hängt auch davon ab, wie Verteilungsfragen in den kommenden Jahren politisch entschieden werden. Das ist kein Naturereignis, sondern Ergebnis von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen – noch dickere SUVs oder eine bessere Pflege, und auch von Klassenkämpfen. So altmodisch dieses Wort klingt, es hat an Aktualität nichts verloren. Es macht einen Unterschied, wer über den Reichtum der Gesellschaft verfügt, die, die ihn brauchen oder die, die ihn haben, einige wenige oder viele.

Kommentare (26)

  1. #1 N
    1. Mai 2024

    Erstmal ein erfüllter Lebensabend !
    Was die Gesellschaft darüber denkt, nur Positives.
    Männer mit grauen Schläfen sind attraktiv. Man traut ihnen viel zu.
    Reichtum wird überschätzt. Reichtum als Lebensziel ist nur sinnvoll wenn man seinen Reichtum zum Nutzen anderer nutzt.
    Lernen Sie Leute kennen. Machen Sie Reisen. Nicht in die Touristenzentren, ins Landesinnere.
    Und …. bleiben Sie gesund, es lohnt sich !

  2. #2 RPGNo1
    1. Mai 2024

    Gratuliere. Ich wünsche ein erfülltes Rentnerdasein. 🙂

  3. #3 Jolly
    1. Mai 2024

    Auf die Rente – und auf die Gesundheit, Prost!

  4. #4 rolak
    1. Mai 2024

    Möge der Übergang geschmeidig sein!

    Bei meiner lässig bis in die dritte nachfolgende Generation reichenden ToDo-list kann ich mir für mich Übergangsprobleme, Langeweile et al in keiner Weise vorstellen. Doch bei diversen, mittlerweile miterlebten Fällen ist ‘holperig’ ein starker Euphemismus…

  5. #5 DS
    Kiefersfelden
    1. Mai 2024

    Eine gute Zeit im neuen Lebensabschnitt wünsche ich.

    Ich freue mich darauf, zumindest einige gemeinsame Stunden in der neuen ehrenamtlichen Funktion gemeinsam miterleben und wohl auch gestalten zu können. Auf bald!

  6. #6 PDP10
    1. Mai 2024

    Na dann auch von mir herzlichen Glückwunsch zum Ruhestand.

    Hoffentlich wird der ein Unruhestand und wir lesen auch in Zukunft hier und nebenan noch viel von dir 🙂

  7. #7 wereatheist
    1. Mai 2024

    Am heutigen Kampftag der Arbeiterklasse ein Hoch auf den class war, wie die Anglophonen das nennen, und gute Erholung für alle Abgekämpften.

  8. #8 Stefan Bräunling
    2. Mai 2024

    Herzlichen Glückwunsch, lieber Joseph, alles Gute zunächst einmal für einen guten, erwartungsfrohen Übergang!

  9. #9 M. Hahn
    2. Mai 2024

    Alles Gute!!
    Das Rennen zwischen Achilles (Kuhn) und Schildkröte (fernere Lebenserwartung nach jeweils aktuellem Stand) möge lang sein und voller Sinn und Lebensfreude.

    Bitte weiterbloggen!

    • #10 Joseph Kuhn
      2. Mai 2024

      … dieses Rennen wird erst im Alter ab 70 kritisch: https://www.bmj.com/content/343/bmj.d7679 😉

      Weiterbloggen: Kein Problem, das war ja immer ein Feierabendvergnügen und mein Feierabend ist jetzt zeitlich großzügiger bemessen.

  10. #11 naja
    2. Mai 2024

    Ich freue mich für Sie (und für mich, wenn wir mehr interessante Beiträge von Ihnen lesen und diskutieren dürfen), dass Sie über Ihre Zeit jetzt freier verfügen können.

  11. #12 rolak
    2. Mai 2024

    erst im Alter ab 70 kritisch

    Da hilft, wie üblich in solchen Fällen, eine persönlich-lokale KalenderReform. Zwei kenne ich, die seit Jahren ihren Zweiundvierzigsten feiern…

  12. #13 zimtspinne
    2. Mai 2024

    Welcher Übergang?
    Heute arbeiten, morgen zu Hause, so schaut’s doch aus.
    Keine fließenden Übergänge, kein Spektrum, kein Kontinuum.

    Sanft Runterdosieren wäre bestimmt für viele hilfreich.
    🙂

    Ich weiß gar nicht, was man in dieser Situation sagt oder wünscht.
    Eine Vorwarnung wäre bestimmt für viele hilfreich!
    😉

    • #14 Joseph Kuhn
      2. Mai 2024

      @ zimtspinne:

      “Eine Vorwarnung wäre bestimmt für viele hilfreich!”

      In der Tat. Ich war plötzlich und unerwartet alt.

  13. #15 Beobachter
    2. Mai 2024

    Lieber Herr Kuhn, ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihren neuen Lebensabschnitt – und bleiben Sie gesund, das ist das Allerwichtigste.
    Und machen Sie all das, für das Sie bisher neben Ihrem Berufsleben/”Broterwerb” keine oder zu wenig Zeit hatten.
    Wg. Altersarmut brauchen Sie sich sicherlich keine Sorgen machen und so können Sie sich nun ganz auf das konzentrieren, was Ihnen wirklich am Herzen liegt und wichtig ist.
    Ich hoffe auf noch viele Ihrer anregenden Blog-Beiträge, an denen man mit persönlichem “Gewinn” “rumdenken” kann … 🙂

  14. #16 zimtspinne
    2. Mai 2024

    @ Beobachter

    ich habe gewusst, dass der Spruch kommen wird von dir und gehofft, dass er nicht kommen wird.

  15. #17 Beobachter
    2. Mai 2024

    @ zimtspinne, # 14:

    Welcher “Spruch”?

  16. #18 schorsch
    3. Mai 2024

    “200.000 Stunden sitzend zugebracht” – welch eine seltsame Formulierung.

    Auch ich habe ein paar Jahre gesessen (das übliche halt), aber in Stunden hat das keiner von uns umgerechnet (gut, die jüngeren vielleicht, in den letzten Tagen).

  17. #19 N
    4. Mai 2024

    Kleiner Witz
    Was haben Herr K. und ein Wiederholungstäter gemeinsam ?
    Sie haben 200 000 Stunden gesessen.

  18. #20 RGS
    Gerade in Randersacker
    4. Mai 2024

    Lieber Joseph Kuhn,
    jetzt habe ich ein paar Tage hier nicht vorbeigeschaut und schon sind Sie in Rente.
    Alles Gute für die neu zu vergebende Zeit.
    Kürzlich ging ein Bekannter in Rente, der sich mit den Worten verabschiedete: Es war eine erfüllte und gute Zeit und manchmal beginnt danach noch etwas besseres.
    Das wünsche ich Ihnen auch.

  19. #21 Oliver Kuß
    Düsseldorf
    5. Mai 2024

    Lieber Josef,
    hast Du gesehen? Das RKI, das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung und Lancet Public Health haben es sich nicht nehmen lassen, Dir zu Ehren und anlässlich Deines Eintritts in den Ruhestand, eine Arbeit zu publizieren, die sich mit Deinen großen Themen (Lebenserwartung und Soziale Ungleichheit in Deutschland) beschäftigt (https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/38702094/).
    Eine tolle Idee und Deinem Wirken über die Jahre absolut angemessen. Es ist ein Skandal, dass, wohl aus technischen Gründen, die Widmung an Dich verloren gegangen ist …:-)

    Liebe Grüße, einen guten Übergang und noch viele produktive Jahre mit den Themen, die Dir am Herzen liegen!
    Oliver

    • #22 Joseph Kuhn
      5. Mai 2024

      Lieber Oliver,

      so muss es wohl gewesen sein. 😉

      Wobei meine Rennstrecke ja eher die amtliche Gesundheitsberichterstattung war. Um die soziale Ungleichheit bei der Gesundheit haben sich vor allem Rolf Rosenbrock, Andreas Mielck und der leider viel zu früh verstorbene Thomas Lampert verdient gemacht.

      Mit den Kollegen aus dem BiB haben wir übrigens gerade ein Schwerpunktheft des Bundesgesundheitsblatts zur Lebenserwartung gemacht, erscheint in wenigen Tagen. Nachdem das BiB lange Zeit wissenschaftlich eher spärlich publiziert hatte, ist es seit einiger Zeit recht aktiv geworden, mit interessanten Analysen.

  20. #23 Soisses
    5. Mai 2024

    Lieber Joseph, alles Gute!

    Es ist natürlich eine zu persönliche Frage, also nicht direkt an Dich gerichtet, aber generell:

    Mich interessiert beim Thema Ruhestand immer auch, wie die Arbeit, die man verlassen hat, hinterher weiterläuft. Besser, schlechter, gar nicht?

    Man beklagt – öffentlich – den Mangel an Fachkräften.
    Man hofft – öffentlich – dass doch die Fachkräfte möglichst über die Altersgrenze hinaus arbeiten sollten.
    In der Praxis hingegen kann alles Mögliche eintreten: Man spart fröhlich Stellen ein, oder man verschleppt die Wiederbesetzung.

    Und ambivalent erleichtert fühle ich mich, wenn jemand in Rente geht, die oder den ich nicht vermissen kann. Leute, deren Standpunkt, deren Einsichten und Fähigkeiten sich nicht mehr weiterentwickelt haben. Stehengeblieben z.B. auf dem Stand der 1980er oder 90er Jahre.

    Bei mir dauert es noch ein bisschen. Hab gerade wieder Freude am Beruf. Hoffe auf angemessene Weiterentwicklung meiner wissenschaftlichen Standpunkte. Aber dann …

    • #24 Joseph Kuhn
      5. Mai 2024

      @ Soisses:

      “Mich interessiert beim Thema Ruhestand immer auch, wie die Arbeit, die man verlassen hat, hinterher weiterläuft. Besser, schlechter, gar nicht?”

      In meinem Fall wird es gut weitergehen, das Team ist kompetent und engagiert und ich gehe davon aus, dass mein Ausscheiden ihm auch Raum für neue Ideen gibt.

      Aber das ist natürlich je nach Arbeitsbereich und Stellensituation sehr unterschiedlich und wenn Stellen gar nicht nachbesetzt werden, können auch produktive Arbeitsbereiche schnell verschwinden.

  21. #25 Johanna
    Regensburg
    6. Mai 2024

    Vielen Dank für Ihre fundierten datengestützten Kommentare, die mir in vielen Bereichen sehr geholfen haben, eine Orientierung in dem postfaktischen Zeitalter nicht zu verlieren. Ich bin Ärztin und leider auch unter KollegenInnen mit Irrsinn konfrontiert. In der Coronapandemie war es besonders wertvoll. Danke, dass Sie die Zeit dazu gefunden haben – eine unglaubliche Leistung. Ich wünsche Ihnen vom Herzen alles erdenklich Gute!

  22. #26 Aginor
    7. Mai 2024

    Auch ich wünsche Ihnen alles Gute für den Ruhestand!

    Gruß
    Aginor