Derzeit kann man auf der politischen Bühne eine Medikalisierung der Prävention beobachten, vom „Gesundes-Herz-Gesetz“ bis zum Errichtungsgesetz für das „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“. Dagegen kommen Verbesserungen im Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherschutz kaum mehr von der Stelle. Das hat viele Gründe, einer ist, dass die Ampel auch hier unter einer parteieninkompatibilitätsbedingten Selbstblockade leidet.

Aber natürlich sind auch in der Medizin die präventiven Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft, egal es ob um Impfungen, Raucherentwöhnung, Jugendvorsorgeuntersuchungen oder anderes geht. Ein bevölkerungsmedizinisch hoch relevanter Bereich sind die nosokomialen Infektionen. Der Begriff leitet sich ab von „Nosokomeion“ (griechisch für Krankenhaus) bzw. „Nosocomium“ (lateinisch für Krankenhaus). Nach § 2 Punkt 8 Infektionsschutzgesetz (IfSG) werden damit Infektionen bezeichnet, „die im zeitlichen Zusammenhang mit einer stationären oder einer ambulanten medizinischen Maßnahme“ stehen und nicht schon vorher bestanden. § 23 IfSG sieht für nosokomiale Infektionen spezifische Präventionsmaßnahmen vor, auch das Arbeitsschutzrecht kommt zum Tragen.

Das RKI schreibt auf seiner FAQ-Seite zur Zahl der nosokomialen Infektionen in Deutschland:

„Jedes Jahr kommt es in Deutschland zu geschätzten 400.000 bis 600.000 nosokomialen Infektionen und etwa 10.000 bis 20.000 Todesfällen dadurch. Die Zahlen beruhen auf einer Berechnung, die das Robert Koch-Institut gemeinsam mit dem Europäischen Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und der Berliner Charité (NRZ für Surveillance von nosokomialen Infektionen) im Jahr 2019 veröffentlicht hat.“

Das ist eine ganze Menge. Eine Meldepflicht für nosokomiale Infektionen gibt es nur für „zwei oder mehr nosokomiale Infektionen, bei denen ein epidemischer Zusammenhang wahrscheinlich ist oder vermutet wird“ (§ 6 (3) IfSG). Fallzahlen werden daher aus Studien ermittelt. Im Oktober 2023 hat die Bundesregierung auf eine Anfrage der Unionsfraktion, wie viele nosokomialen Infektionen es 2022 gegeben habe, lapidar geantwortet:

„Nosokomiale Infektionen sind nicht meldepflichtig, ihre Häufigkeit wird im Rahmen von Studien geschätzt. Wie in der Vorbemerkung der Fragesteller vermerkt, wird aktuell die jährliche Anzahl der nosokomialen Infektionen auf 400 000 bis 600 000 und die der Todesfälle auf 15 000 bis 20 000 geschätzt.“

In der Vorbemerkung der Fragesteller hieß es:

„Nach einer Schätzung des RKI vom November 2019 (aktuellere Daten liegen derzeit leider nicht vor) komme es in Deutschland jährlich zu ca. 600 000 nosokomialen Infektionen (…) – davon sind bis zu 20 000 Todesfälle (…).“

Die Publikation aus dem Jahr 2019, auf die sich das RKI bezieht, ist auf der FAQ-Seite des RKI auch abrufbar (Zacher et al. 2019). Schaut man in diese Studie, so kann man lesen, dass es Daten eines europäischen Surveillance-Projekts sind und dass die deutschen Daten von 2011 sind. Grundlage waren damals Daten aus einer repräsentativen Stichprobe mit 46 Krankenhäusern und 9.626 Patient:innen sowie einer eingeschränkt repräsentativen Stichprobe mit 132 Krankenhäusern und 41.539 Patient:innen.

Ganz so alt ist der Datenstand allerdings nicht. Es gibt, ebenfalls beim RKI verlinkt, vom Referenzzentrum für nosokomiale Infektionen auch einen Bericht mit Datenstand 2016 (wieder Krankenhäuser) sowie einen mit Datenstand 2022. Die Stichprobe 2022 umfasst 252 Krankenhäuser und 66.586 Patient:innen. Dabei wurde auch ein Ersterwerb von Infektionen in Pflegeeinrichtungen erfasst. Wenn ich die Zahlen richtig interpretiere, sind sie 2016 gegenüber 2011 etwas zurückgegangen und 2022 wieder etwas angestiegen. Für den ambulanten Bereich scheint es keine belastbare Gesamtschätzung zu geben. Vom ambulanten Operieren abgesehen (§ 23 (4) IfSG), gibt es hier auch keine bundeseinheitlich vorgegebene Dokumentationspflicht für nosokomiale Infektionen – eine pragmatische Lösung, wer sich im Wartezimmer eines Hausarztes angesteckt hat, ist meist nicht feststellbar.

Auf die Details will ich nicht weiter eingehen, das ist nicht mein Kompetenzrevier. Aber geht man davon aus, dass die Zahlen in den Krankenhäusern im Großen und Ganzen noch immer so sind, wie sie 2011 waren, stellt sich die Frage, warum dem so ist. Gibt es zu wenig Hygienefachleute in den Krankenhäusern? Setzt die Krankenhausfinanzierung nicht die richtigen Anreize zur Vermeidung von nosokomialen Infektionen? Werden die nach § 23 IfSG vorgeschriebenen Hygienepläne im Klinikalltag nicht gut genug umgesetzt? Macht sich der Mangel an Pflegekräften auch hier bemerkbar? Ist die infektionshygienische Überwachung durch die Gesundheitsämter unzureichend? Wird Hygiene an den Universitäten nicht mehr ausreichend vermittelt? Fachleute haben sicher noch viel mehr Fragen.

Eine hätte ich auch noch: Bei 10.000 bis 20.000 Toten jährlich allein im stationären Bereich, also mehr als den Suiziden, weit mehr als den Verkehrstoten und noch weit mehr als den tödlichen Arbeitsunfällen wäre hier mehr Prävention in der Medizin dringend geboten. Werden die aktuellen Reformen im Gesundheitswesen dazu einen Beitrag leisten?

Kommentare (17)

  1. #1 Staphylococcus rex
    15. Juli 2024

    Nosokomiale Infektionen sind erst einmal eine Begriffssache, Infektionen, die sich ab dem dritten Krankenhaustag manifestieren, werden in der Regel als nosokomial gezählt. Spannend wird es, wenn man ein klein wenig in die Tiefe geht.

    Viele Infektionen sind Device/Fremdkörper assoziiert (Bakterien haften hervorragend auf Plastikoberflächen). Deshalb gibt es im KH Programme zur Erfassung von Infektionen von Venenkathetern, Beatmungspatienten und Blasenkathetern. Es gibt Erfahrungswerte für verschiedene Patientengruppen und Krankenhausgrößen, wieviele Device-Tage pro 1000 Patiententage und wie viele Infektionen pro 1000 Patiententagen vorkommen. Die Häuser, die deutlich über dem Median liegen (bei Anwendungsdichte und Infektionen) müssen sich damit auseinandersetzen.

    Eine andere Gruppe nosokomialer Infektionen sind postoperative Wundinfektionen. Auch dafür gibt es Erfassungssysteme, auch hier gibt es Erfahrungswerte, an denen sich Krankenhäuser messen können.

    Eine weitere Gruppe sind Clostridium difficile-Infektionen nach Antibiotikagabe, hier sind nach IfSG nur die schweren Verläufe meldepflichtig.

    Und zusätzlich sind Krankenhäuser ein Ort, wo Menschen kohortiert sind und wo eine Vielzahl an Erregern zu Ausbrüchen führen kann, dann greift wie oben beschrieben §6(3).

    Langer Rede kurzer Sinn, ein Teil der nosokomialen Infektionen ist vermeidbar, hier lohnt es sich zu kämpfen. Ein anderer Teil der nosokomialen Infektionen ist schicksalshaft, weil dort Menschen zusammenkommen, die bereits besiedelt oder infiziert sind und deshalb ihre Erreger weitergeben, und weil viele medizinische Eingriffe mit einem Infektionsrisiko behaftet sind. Nach meiner Erfahrung gibt es immer wieder Häufungen nosokomialer Infektionen bei schwülwarmem Wetter und in Phasen von Personalmangel (vermutlich wegen unzureichender Pflege der Fremdkörper). Eine Komplettausstattung der Krankenhäuser mit Klimaanlagen (im Hochsommer) und eine konsequente Einhaltung der geforderten Personalvorgaben könnte hier nach meiner Einschätzung eine Menge an Leben retten.

  2. #2 RGS
    16. Juli 2024

    @ Staphylococcus rex:
    spannende Erkenntnisse. Dass Klimaanlagen präventiv wirken ist eine ähnliche Erkenntnis wie die Erkenntnis, dass das Abwasser in Soho die Cholera verbreitete und dass in das Abwassersystem investiert werden muss.
    Politische Hürden allerorten und auch noch 170 Jahre später.
    https://www.gavi.org/vaccineswork/john-snow-and-pump-handle-public-health

  3. #3 Staphylococcus rex
    16. Juli 2024

    @ RGS, weil Nosokomiale Infektionen ein Dachbegriff sind, macht eine Diskussion zu diesem Thema nur dann Sinn, wenn man bei den einzelnen Gruppen nosokomialer Infektionen genau hinschaut, mit welchem Ressourceneinsatz man welche Effekte erreichen kann. In der Regel ist hier die Krankenhaushygiene einbezogen und es sind Eingriffe in die konkreten Abläufe vor Ort erforderlich.

    Klimaanlagen und Personalvorgaben sind einerseits trivial als Einflussgröße zu erkennen, andererseits aber besonders schwierig für eine Intervention. Die Bausubstanz der meisten Krankenhäuser ist aus einer Zeit, als der Klimawandel noch kein Thema war und als billiges russisches Erdgas in ausreichender Menge zur Verfügung stand. Ich weiß nicht wie teuer eine komplette energetische Sanierung von Krankenhäusern wäre (incl. Dämmung und Einbau von Klimaanlagen), ich weiß nur, dass dies Investitionskosten sind, die von den Krankenhäusern nicht aus eigener Kraft gestemmt werden können.

    Bei Personalvorgaben nützen offene Stellen wenig, wenn die Fachkräfte fehlen. Letztendlich muss die Zahl der Krankenhausstandorte verringert werden und dort, wo in der Fläche größere Häuser sich nicht rechnen, muss die Kooperation der kleineren Häuser verbessert werden. Eigentlich ist der Krankenhausplan Ländersache, aber gleichzeitig ist die Schließung von Krankenhäusern ein politisches Minenfeld, das kein Politiker freiwillig betritt. Deshalb wird es nach meiner Einschätzung größtenteils über eine “kalte Flurbereinigung” laufen mit wenigen punktuellen Eingriffen seitens der Bundesländer in versorgungsrelevante Häuser. Solange diese Flurbereinigung läuft, läßt sich an dieser Stellschraube wenig drehen.

  4. #4 Staphylococcus rex
    16. Juli 2024

    Für die Erfassung nosokomialer Infektionen gibt es eine KRINKO-Empfehlung:
    https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Krankenhaushygiene/Kommission/Downloads/Surv_NI_Rili.pdf?__blob=publicationFile

  5. #5 RGS
    16. Juli 2024

    @Staphylococcus rex:
    Der NHS in UK hat die Ambition bei Krankenhäusern den CO2 Ausstoß zu verringern.
    https://www.england.nhs.uk/greenernhs/a-net-zero-nhs/

    Im Prinzip bräuchten wir so etwas hier auch.
    Es wäre ein großes Investitionsprogramm nötig. Damit ließen sich dann auch gleich Klimaanlagen einbauen.
    PV plus Solarthermie plus Wärme- und Batteriespeicher in Krankenhäusern oder besser in der Kommune EE-Nahenergienetze.

  6. #6 naja
    16. Juli 2024

    Ist “parteieninkombatibilitätsbedingten“
    ein Kunstwort, weil die Ampel-Parteien nicht nur inkompatibel, sondern auch Kombattanten sind?

    • #7 Joseph Kuhn
      16. Juli 2024

      @ naja:

      Nein, so raffiniert habe ich nicht gedacht. Das war ein schlichter Schreibfehler, möglicherweise mit fränkischem Hintergrund. Ist korrigiert, danke für den Hinweis.

    • #8 rolak
      17. Juli 2024

      Unter den Wortschöpfungen fiel mir nur das ‘Kompetenzrevier’ auf, garantiert absichtlich und imho ziemlich gelungen.

      • #9 Joseph Kuhn
        17. Juli 2024

        … mein Wortschöpfungskompetenzrevier hat zwei Zonen: Kurzzone und Begriffsassoziationenineinemwortweiterhäkelmethodenzone 😉

        • #10 rolak
          17. Juli 2024

          🤣 Nur weiter so!

  7. #11 PDP10
    16. Juli 2024

    @Joseph Kuhn:

    parteieninkompatibilitätsbedingten

    Jedenfalls ist das einen schöne Wortschöpfung. Und ich möchte mir einbilden, dass du die extra für mich geschöpft hast 😉

  8. #12 Fluffy
    17. Juli 2024

    Der NHS in UK hat die Ambition bei Krankenhäusern den CO2 Ausstoß zu verringern.

    Das kann überaus missverständlich wirken. Schließlich ist jede Form aeroben Lebens mit der Produktion von CO2 verbunden.

  9. #13 hto
    wo "Wer soll das bezahlen?" ...
    17. Juli 2024

    Die menschenwürdigste Prävention wäre, wenn unser “Zusammenleben” OHNE den irrationalen Zeit-/Leistungsdruck zu einer Karriere von Kindesbeinen organisiert wäre, also OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik in “gesundem” Konkurrenzdenken zur materialistischen “Absicherung”.

    • #14 Joseph Kuhn
      17. Juli 2024

      @ hto:

      In der DDR hieß es einst “Der Sozialismus ist die beste Prophylaxe!” Nosokomiale Infektionen gab es dort aber auch.

  10. #15 Fluffy
    17. Juli 2024

    In der DDR hieß es auch Kaufhalle anstatt Supermarkt.
    Wenn es sehr heiß ist gehe ich gerne mal einkaufen, weil es im Supermarkt/Kaufhalle so schön kühl ist.
    Man muss auch nicht gleich mit Kanonen auf Spatzen schießen, wenn man von

    kompletter energetischer Sanierung von Krankenhäusern spricht

    Besonders heiß ist es im Sommer, wenn viel Sonne scheint, und man nicht weiß, wohin mit der vielen Solarenergie. Diese dann für lokale Klimaanlagen zu nutzen, wäre für so manchen “Experten” mal überlegenswert.

  11. #16 Staphylococcus rex
    17. Juli 2024

    @ Fluffy, Krankenhäuser sind Großverbraucher in bezug auf Energie:
    https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-11/energiekosten-krankenhaus-stromverbrauch-klinikum-dessau

    Bei einer guten Wärmedämmung wäre es eine Option, die Klimaanlage nur dann einzuschalten, wenn Solarstrom massenhaft verfügbar ist. Bei einer schlechten Dämmung sind es die tropischen Nächte, wo eine Klimaanlage am dringendsten gebraucht würde.

  12. #17 RGS
    17. Juli 2024

    München ist schon recht weit mit seinem kommunalen Kältenetz. Andere Kommunen schlafen da vermutlich…

    https://www.swm.de/magazin/energie/fernkaelte