Wie ein Springteufelchen ist der Leak der RKI-Protokolle aus dem Sommerloch gehüpft. Medial ist der Querdenkerszene durchaus ein Coup gelungen, wenn auch in journalistisch zweifelhafter Form. Ein zentraler Punkt in der Diskussion um die geleakten RKI-Protokolle ist, wie schon im Frühjahr bei den offiziell freigegebenen Protokollen, das Verhältnis von „Wahrheit“ und „Macht“, ein ebenso alterwürdiges wie immer aktuelles Thema.
Mit Leidenschaft wird diskutiert, ob die Politik Einfluss auf Bewertungen und Empfehlungen des RKI genommen hat, ob das RKI wissenschaftlich neutral gearbeitet hat, ob die Medien der Politik nach dem Munde geredet haben.
Das sind durchaus wichtige Fragen, die aber bislang seltsam schablonenhaft verhandelt werden, mit einem zu engen Verständnis von „follow the science“. Wissenschaft und Politik stehen nicht in einem Gefolgschaftsverhältnis, zumal die Wissenschaft bei Corona selten nur mit einer Stimme sprach. Politik kann nicht einfach „der Wissenschaft folgen“, nicht bei der Festlegung von Grenzwerten für Schadstoffe, nicht bei der Schuldenbremse, nicht bei der Bahnreform und auch nicht bei Corona. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, relevante gesellschaftliche Interessen zu vermitteln.
Im Zusammenhang mit den Protokollen wird Wissenschaft oft zu einer interessensneutralen Instanz stilisiert, und einzelne Wissenschaftler:innen demgegenüber zu korrupten Mietmäulern, der Staat zum fürsorglichen Vaterersatz, und seine menschlichen Vertreter:innen demgegenüber zu machtbesessenen, wahrheitsverachtenden Bösewichtern. „Ich will Handschellen klicken hören“, wird der nach rechtsquer abgedriftete frühere Fernsehmoderator Peter Hahne in seiner Szene zitiert, an das „gesunde Volksempfinden“ appellierend.
Solche Arrangements eröffnen keine Perspektiven, sie verschließen sie. Aber es ließe sich mehr daraus machen, das Verhältnis von „Wahrheit“ und „Macht“ konstruktiver fassen. In der Literatur gibt es eine Menge von praxisorientierten Papieren dazu, was eine gute wissenschaftliche Politikberatung ausmacht, von Renate Mayntz‘ „Speaking Truth to Power: Leitlinien für die Regelung wissenschaftlicher Politikberatung“ bis zu dem Impulspapier von Stefanie Molthagen-Schnöring und Jan Wöpking “Gute wissenschaftliche Politikberatung nach der Pandemie: Zehn Empfehlungen“.
In Krisen, wenn von der Politik schnelle und klare Entscheidungen gefordert werden, die Wissenschaft aber oft nur Wahrscheinlichkeiten liefern kann, wird das Geschäft politiknaher wissenschaftlicher Gremien besonders schwierig, mit starken Erwartungen an eine Vereindeutigung des Ungewissen – und die Versuchung der Politik, sich hinter der Wissenschaft zu verstecken, wird besonders groß. Während Corona war das als “heftiger Druck von oben“ im Krisenstab ebenso spürbar wie bei der STIKO. Insofern liegt es nahe, dieses Geschäft etwas krisenfester zu machen.
Hilfreich dabei wäre eine Auswertung der einschlägigen Literatur, der aktuell für Bundesbehörden und Sachverständigengremien geltenden Regelungen und, last but not least, der Erfahrungen aus Gremien wie dem RKI-Krisenstab. Vielleicht lohnt da und dort sogar ein Blick in den längst vergessenen Evaluationsbericht des Sachverständigenausschusses nach § 5 (9) IfSG und der Stellungnahme der Bundesregierung dazu, z.B. was Evidenzbasierung und Partizipation bei der Risikokommunikation angeht.
Im Koalitionsvertrag der Ampel ist ein entsprechender Neuregelungsbedarf explizit festgehalten worden, mit der Ankündigung, einerseits ein Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit aufzubauen, andererseits die Unabhängigkeit des RKI in seiner wissenschaftlichen Arbeit sicherzustellen. Was das konkret für die Aufgaben dieser Institute bedeutet, in der Forschung, bei Datenerhebungen, bei Empfehlungen oder der Gesundheitsberichterstattung, wäre auszubuchstabieren, z.B. in einem Organisationserlass, und in der Wahrnehmung der Rechts-, Fach- und Dienstaufsicht durch das BMG zu berücksichtigen.
Dann hätte die Geschichte mit den Protokollen vielleicht doch etwas Gutes gehabt, zur „Aufarbeitung“ beigetragen, statt als Sommerlochfüller nur mit Streit um die Interpretation von Sätzen und mit Anschuldigungen und Rechtfertigungen zu enden.
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