Der Begriff „Vulnerabilität“ hat Konjunktur, keine Frage. „Vulnerabilität ist ein anthropologisches Grunddatum“, hat der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme „Vulnerabilität und Resilienz in der Krise“ festgestellt – und damit mit einem zweiten Begriff, der derzeit ständig bemüht wird, der „Resilienz“, verknüpft. Auf Vulnerabilität wird allerorten hingewiesen, Resilienz überall eingefordert.
Dem Google Ngram Viewer zufolge begann die publizistische Karriere des Begriffs allerdings schon Ende der 1990er Jahre, in etwa zeitgleich mit der des Risiko-Begriffs und kurz vor der des Resilienz-Begriffs übrigens. Vielleicht ein Reflex auf die Hochzeit des Neoliberalismus?
Frauke Rostalski, Mitglied des Ethikrats, hat nun die Vulnerabilität zum Signum der Gegenwartsgesellschaft erklärt und darüber ein Buch „Die vulnerable Gesellschaft – Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit“ geschrieben. 199 Seiten, 16 Euro im C.H.Beck-Verlag. Dazu hier eine neue 7-Zeilen-Rezension (wie immer mit großzügigem Verständnis, was eine “Zeile” ist).
Einleitung
Rostalski beobachtet, widergespiegelt in der Konjunktur des Begriffs „Vulnerabilität“ seit der Pandemie, eine „gesteigerte Vulnerabilität“ in der Gesellschaft. Sie rufe als Reaktion eine Ausweitung staatlicher Schutzvorschriften hervor, die zu einer Einschränkung der Freiheit aller führe.
Kap.1: Kennzeichen einer vulnerablen Gesellschaft
In diesem Kapitel führt Rostalski ihre These etwas weiter aus. Bei der „gesteigerten Vulnerabilität“ bezieht sie sich auf den Soziologen Andreas Reckwitz (S. 23). Zugleich definiert sie Vulnerabilität im Anschluss an den Philosophen Emmanuel Lévinas als menschliche Grundbefindlichkeit (S. 26). Lévinas sieht, geprägt durch den Holocaust, eine Verantwortung aller Menschen füreinander im Leid. Wie Reckwitz‘ Zeitdiagnose und Lévinas‘ überhistorische Wesensbestimmung des Menschen zusammenpassen, bleibt offen. Des Weiteren bezieht sie sich auf Byung-Chul Han (S. 28): Die Menschen heute seien „schmerzintolerant“, das 21. Jahrhundert sei das der „letzten Menschen“ Nietzsches, „Behaglichkeit“ stelle einen höheren Wert als Freiheit dar. Auch das wird nur zitiert, einen Beleg gibt es nicht. Eine Wiederholung der alten kulturpessimistischen Sicht einer Verweichlichung der Gesellschaft in den Worten des Zeitgeistes Byung-Chul Han? Etwas eigen ist zudem die Interpretation von Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ (S. 32): Beck zeige, dass Risiken sozial konstruiert seien. Das zeigt Beck auch, aber der springende Punkt bei ihm ist die Produktion von Risiken in der Moderne, kein Konstruktivismus.
Kap. 2: Der Staat der vulnerablen Gesellschaft
Das Kapitel hebt mehrfach hervor, dass staatliches Recht auch Freiheit verbürgt (z.B. S. 58), aber diese Einsicht wird bei Rostalski immer wieder verdrängt vom vulgärliberalen Bild des Hobbesschen Naturzustandes eines individuell freien, aber von der Gewalt des Stärkeren bedrohten Menschen (z.B. S. 46). Diesen Naturzustand gab es aber nie. Der Mensch kommt als evolutionär soziales Wesen aus starken Gruppenbindungen, Individualität ist das Ergebnis der gesellschaftlichen Freisetzung aus solchen Bindungen. Hier argumentiert Rostalski zu sehr ideologisch und zu wenig anthropologisch. In der Folge kann der Staat nur die – fiktive – ursprüngliche Freiheit einschränken, wenn er schützt. Rostalski bemüht geradezu groteske Beispiele, z.B. das Betretungsverbot eines baufälligen Hauses schränke die Freiheit ein, sich diesem Risiko auszusetzen (S. 50). Hier zeigt sich die Leere eines bloß formalen Freiheitsbegriffs.
Kap. 3: Das Recht auf dem Weg in die vulnerable Gesellschaft
An den Beispielen Ehrverletzungen, sexuelle Selbstbestimmung, Verletzungen durch Sprache, Suizidassistenz, Schwangerschaftsabbruch und Schutzvorschiften in der Pandemie veranschaulicht Rostalski das Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Schutz und Freiheit. Ihre These: Jede Schutzvorschrift nimmt Eigenverantwortung. So sehr diese These wiederum von einem bloß formalen Freiheitsbegriff lebt, dieses Kapitel ist ein starkes Kapitel, hier bewegt sich die Autorin in ihrem strafrechtlichen Kompetenzbereich und kann Recht und Gesellschaft gut verbinden. Trotzdem werden vermutlich manche Jurist:innen auch andere Positionen vertreten, das gehört ja sozusagen zu ihrem Berufsbild. Ob z.B. Konsens darüber besteht, dass die Grundrechte nur als Abwehrrechte des Individuums gegenüber dem Staat zu verstehen sind (S. 91/92), oder ob sie nicht auch auch Teilhaberechte zum Ausdruck bringen?
Kap. 4: Diskursvulnerabilität
Mit dem Begriff „Diskursvulnerabilität“ will Rostalski auf die Wahrnehmung von Verletzungen durch Diskurse, z.B. zum Gendern, hinweisen, und darauf, dass daraus Diskursverengungen resultieren, wie sie z.B. in den Debatten um den Ukrainekrieg, den Klimawandel oder eben die Pandemie zutage getreten seien. Ein Begriff mehr, aber ob Rostalski damit dem Streit um „Cancel-Culture“ einen substantiellen Erkenntniszugewinn verschafft hat?
Kap. 5: Vulnerabilität und Freiheit
Am Ende des Buches fasst die Autorin ihre Sicht noch einmal zusammen und plädiert im Anschluss an ihre Ausführungen zur „Diskursvulnerabilität“ für einen möglichst offenen Diskurs, auch als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Dem wird man im Prinzip zustimmen, die Feinheiten sind es, über die man streiten müsste. Zum Beispiel, was man verliert, wenn man die „Basis des freiheitlichen Rechtsstaats, wie ihn das deutsche Grundgesetz vorgibt“, ausschließlich von der „individuellen Freiheit des Einzelnen“ her bestimmt (S. 106). Böckenförde, ein Konservativer, hätte dazu vermutlich einige Anmerkungen gehabt.
Das Fazit
Das Buch liest sich schnell, es ist gut verständlich geschrieben und es regt zum Nachdenken an. Insofern tut es, was Bücher tun sollen. Ob es darüber hinaus mehr ist, als Becks „Risikogesellschaft“ von der traditionell grünen Lesart in FDP-Denke umzuschreiben, mag jeder Leser, und jede Leserin natürlich, für sich selbst entscheiden.
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