Seit mehr als 20 Jahren gibt es das „Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte“. In diesem Jahr stand es unter der Überschrift „Zwangsarbeit, Medizin und Wissenschaft“. Es ging um Forschung und Experimente in Konzentrationslagern und anderen Zwangsstätten:

„In den Zwangsstätten des nationalsozialistischen Deutschland wurde nicht nur das Leben und die Arbeitskraft der Inhaftierten ausgebeutet, sondern auch ihr Wissen. Umgekehrt wurden die Lager auch zu Orten der (vermeintlichen oder tatsächlichen) Gewinnung von Wissen unter mörderischen Bedingungen.“

Darüber haben gestern und heute ca. 50 Fachleute und Interessierte im Max Mannheimer Haus in Dachau diskutiert. Impulse gaben renommierte und bald renommierte Wissenschaftler:innen: Prof. Dr. Moritz Epple, Mathematiker, Professor für Wissenschaftsgeschichte in Frankfurt, Prof. Dr. Volker Roelcke, Mediziner, Professor für Medizingeschichte in Gießen, Dr. Astrid Ley, Historikerin und stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte Sachsenhausen, Dr. Karsten Wilke, Historiker, Hochschule Düsseldorf, Prof. Dr. Mark Spoerer, Volkswirt, Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Regensburg, Nelli Kisser, Doktorandin in Frankfurt, Dr. Anne Sudrow, Historikerin in Berlin und 2022 Gastprofessorin am Fritz Bauer-Institut, Prof. Dr. Wolfgang Benz, Historiker, Professor (em.) in Berlin und Dr. Dirk Riedel, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter des NS-Dokumentationszentrums München.

Forschung in den KZs und anderen Zwangsstätten war Forschung in „entregulierten Räumen“. Die rechtlich auch damals durchaus schon bestehenden Vorgaben für Forschung an Menschen galten dort nicht.

Es ging bei der Tagung – natürlich – um die grausamen medizinischen Experimente an Häftlingen in den KZs, deren Verstümmelung und Tod bedenkenlos in Kauf genommen wurde, des Weiteren um den Einsatz von KZ-Häftlingen in der deutschen Wirtschaft, um die Rolle von Häftlingen in der Forschung zur Schädlingsbekämpfung und biologischen Kriegsführung sowie um Forschungen zur ökologischen Landwirtschaft im KZ Dachau mit Bezügen bis zur Gegenwart der anthroposophischen Landwirtschaft.

Ein Diskussionskern war die Frage, in welchem Umfang die Forschung in den KZs eine sinnlose Forschung war, ein Beispiel dafür war die Forschung zur biologischen Kriegsführung mit Malariaerregern, und in welchem Umfang damit damals wichtige wissenschaftliche Fragestellungen bearbeitet wurden, etwa in der Luftfahrtmedizin, die auch nach dem Krieg weiterverwendet wurden.

Was bedeutet solche Forschung, sinnlose wie ernsthafte, bei der so viele Menschen grausamst wie Versuchstiere „verbraucht“ wurden, viele starben, für den Wissenschaftsbetrieb, für die Wissenschaftsethik, für das Verständnis dessen, was Wissenschaft ist und sein sollte? Darf man mit den Ergebnissen weiterarbeiten, als ob sie aus „ganz normaler“ Wissenschaft stammen würden?

Daran anschließen recht grundsätzliche wissenschaftstheoretische Fragen: Wie ist Forschung vor verbrecherischen Entgleisungen wie in der Nazi-Zeit zu schützen? Reichen forschungsorganisatorische Regularien wie eine möglichst freie und öffentliche Diskussion über Forschungsmethoden, oder die beharrliche Prüfung an der Empirie? Welche Rolle spielt das Gewissen der Wissenschaftler, die „intellektuelle Redlichkeit“, um einen Begriff von Ernst Tugendhat zu bemühen? Welche das jeweilige „Denkkollektiv“ (Ludwik Fleck)?

Weiter: Ist Wissenschaft mehr als die Gewinnung nützlichen Wissens (nützlich für wen auch immer)? Kommt man bei der Definition von guter Wissenschaft weiter, wenn man unterscheidet zwischen „ernsthafter“ Forschung auf dem Methodenniveau der damaligen Zeit und einer pseudowissenschaftlichen Methodik, die a priori keine verwertbaren Ergebnisse erwarten ließ? Oder muss man Wissenschaft doch anspruchsvoller definieren, als ein menschendienliches und die Menschenwürde respektierendes Unterfangen?

Solche Fragen wurden in den zwei Halbtagen aufgeworfen. Sie lassen sich in so kurzer Zeit nicht ausdiskutieren, auch nicht in zwei Wochen oder zwei Monaten. Die Assoziationen dieser Fragen reichen vom Postulat der Werturteilsfreiheit Max Webers über den Positivismusstreit in der deutschen Soziologie bis zur Starnberger Finalisierungsthese, also der Überzeugung, dass Wissenschaft nicht abschließend dadurch definiert ist, wie man empirisch gültiges Wissen produziert, mit dem Ziel von Aussagesystemen nach dem Hempel-Oppenheim-Schema, sondern dass Wissenschaft als Teil der menschlichen Kulturentwicklung grundsätzlich eine ethische Bindung hat. Auch zu den neueren Wissenschaftsdebatten rund um die Klimawissenschaft, die Risiken des Tabakkonsums oder Corona könnte man Wege bahnen. Ein weites Feld.

Die Tagung wird wie ihre Vorläufer dokumentiert, d.h. die Beiträge der Referent:innen werden irgendwann nachlesbar sein. Vermutlich wird der Band mit der den Historiker:innen eigenen Gründlichkeit erstellt und es wird etwas dauern. Aber das Warten dürfte sich lohnen.

———————-
Zum Weiterlesen:

• Blogbeitrag „Werte und Wissenschaft“
• Blogbeitrag „Wissenschaft? Erziehung? Erziehungswissenschaft?”
• Rupnow D et al. (Hrsg.) Pseudowissenschaft. Frankfurt 2008.
• Pethes N. et al. (Hrsg.) Menschenversuche. Frankfurt 2008.
• Bungard W. (Hrsg.) Die „gute“ Versuchsperson denkt nicht. München/Wien/Baltimore 1980.
• Maschewsky W. Das Experiment in der Psychologie. Frankfurt/New York 1977.

Kommentare (36)

  1. #1 Holger
    19. Oktober 2024

    auf youtube gibt es gar schreckliche Zusammenfassungen speziell auch zu Japan
    https://de.wikipedia.org/wiki/Einheit_731

  2. #2 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    19. Oktober 2024

    XXX

    [Kommentar gelöscht. Wer bei jedem Thema immer dasselbe schreibt, schreibt Überflüssiges. JK]

  3. #3 DH
    19. Oktober 2024

    “Darf man mit den Ergebnissen weiterarbeiten, als ob sie aus „ganz normaler“ Wissenschaft stammen würden?”
    Sehr interessante Frage, ich würde sie mit einem klaren “Ja” beantworten.
    Den Opfern ist es ja schon passiert daß sie in die Fänge übler Kräft geraten sind, meist mit der baldigen Beendigung ihres Lebens einhergehend.
    Wenn man ihnen jetzt noch ihre Erkenntnisse wegnimmt, gewinnen ihre Peiniger ein weiteres Mal, quasi postthum.
    Außerdem ist es eine Höchstleistung unter solchen Bedingungen zu Wissen zu gelangen, was man den Opfern dann auch noch entziehen würde.
    Es ist ja kein Problem das immer wieder in den historischen Kontext zu stellen und, wenn möglich, die eigentlichen Urheber einer Erkenntnis mit Namen zu erwähnen.

  4. #4 DH
    19. Oktober 2024

    Die (pseudo-)ökologische Seite der Nazis wird oft übersehen, ihnen ist da was gelungen was normal nicht die Stärke rechter Kräfte ist.
    Auch (entfernt) verwandte Themen waren weit verbreitet, so hatte das Dritte Reich das schärfste Tierschutzgesetz seiner Zeit, die Partei war auch eine der dogmatischen Vegetarier, Himmler wollte seine SS zu einer Truppe von Vegetariern und Nichtrauchern machen.
    Ohne irgendeine Gleichsetzung zu betreiben, aber wir müssen da schon ein wenig aufpassen, solche Tendenzen haben wir auch heute.
    Vermutlich schon damals, definitiv aber heute, gelingt es den progressiven Kräften nicht mehr diese Themen ausreichend zu besetzen, was, damals wie heute, Rechten die Möglichkeite bietet dies (erneut) selbst zu tun.
    Bisher schwurbelt die AfD herum mit Klimaleugnung u.ä., aber es gibt im rechtsradikalen Hintergrund bereits Kräfte die selber ÖkoLandbau betreiben und sich diesem Thema insgesamt öffnen.
    Heute ist dieses Thema weitaus existenzieller, wer hier die Deutungshoheit erlangt, hat erstmal eine große politische Zukunft.

  5. #5 Ludger
    19. Oktober 2024

    Ein Diskussionskern war die Frage, in welchem Umfang die Forschung in den KZs eine sinnlose Forschung war, […]

    [Hervorhebung durch mich]
    Die Formulierung verstört mich. Wenn man z.B. mehrfach systematisch Menschen im Eiswasserbad sterben lässt und ihre Vitalparameter bei ihrem Sterbevorgang mit wissenschaftlicher Genauigkeit protokolliert, kann das für die U-Boot-Kriegsführung im Nordatlantik noch so von Interesse sein. Es bleiben Morde. Morde werden nicht sinnvoll oder weniger sinnlos , wenn ihre Ergebnisse nützlich sind. Der Wert der Menschenwürde der Opfer wiegt mehr als die Nützlichkeit.

    • #6 Joseph Kuhn
      19. Oktober 2024

      @ Ludger:

      So ist es. Mord bleibt Mord. Verschwinden die Fragen damit?

  6. #7 RGS
    20. Oktober 2024

    Ich hatte hier an anderer Stelle schon mal auf die Arbeit von Prof. Benno Müller-Hill aus den 1980er Jahren hingewiesen und einen Artikel von ihm, den man kostenfrei im Zeitarchiv lesen kann wenn man sich registriert:
    https://www.zeit.de/1984/29/toedliche-wissenschaft/komplettansicht

    Ich habe ihn hier mal hereinkopiert.

    Sollte das hier den Rahmen sprengen, dann bitte wieder löschen.

    Ab hier beginnt der Artikel aus der Zeit:
    Welche Erkenntnisse gewannen Wissenschaftler bei ihren entsetzlichen Menschen-Experimenten während der Nazi-Zeit?:
    Tödliche Wissenschaft

    Aus der ZEIT Nr. 29/1984
    13. Juli 1984, 9:00 Uhr

    Die verdrängte Geschichte der Humangenetik unter Hitler

    Von Benno Müller-Hill

    Weshalb machen Sie das? Wie oft habe ich diese Frage schon gehört, seit ich angefangen habe, mich mit der Geschichte der Humangenetik in Nazi-Deutschland zu befassen. Diese Frage hört man im deutschen Wissenschaftsbetrieb selten, und wenn man sie hört, signalisiert sie tiefe Zweifel: Zweifel, ob ein Forschungsprojekt vernünftig ist; Zweifel, ob der Forscher in der Lage ist, die Forschungsarbeit durchzuführen.
    Naturwissenschaftler interessieren sich nicht für die Geschichte ihrer Wissenschaft. Sie leben in der Gegenwart. Fünfzehn Jahre alte Veröffentlichungen sind Prähistorie. Wenn sich ein Naturwissenschaftler für die Geschichte seines Faches interessiert, dann kann man im allgemeinen annehmen, daß ihm sonst nichts einfällt – er gehört nicht mehr dazu. Und wenn einer sich dazu noch für die nie publizierte Geschichte “schlechter Experimente” interessiert, und das war das große “eugenische Experiment” der Nazis, dann ist die Verständnislosigkeit vollkommen. Ein Experiment, das nicht gegangen ist, interessiert niemanden. Dem widmet man keine Zeile.

    Ja, weshalb mache ich das? Vor einigen Jahren hielt ich eine Vorlesung über “Die Philosophen und das Lebendige”. Dabei bemerkte ich, daß am Ende des letzten Jahrhunderts ein eigenartiger Prozeß einsetzte, der die Aufgabe der Sinngebung der Welt den Philosophen und Theologen entzog und sie Ärzten und Naturwissenschaftlern überantwortete. In der letzten Stunde meiner Vorlesung wollte ich über die biologischen Ideologen des “Dritten Reiches” sprechen. Ich stellte fest, daß es nur wenig Literatur über sie gab.

    Während eines Forschungsfreisemesters konnte ich mich ein halbes Jahr meinen Nachforschungen widmen. Damals und in den darauffolgenden Jahren habe ich zunächst Wissenschaftszeitschriften, Bücher und Broschüren diagonal gelesen. Später ging ich in in- und ausländische Archive. Dann habe ich versucht, die überlebenden Anthropologen und Psychiater ausfindig zu machen und mit ihnen zu sprechen.

    Der große alte Gelehrte

    Tödliche Wissenschaft – Seite 2
    Was habe ich gefunden? Die wahre Geschichte der Humangenetik wurde in allen ihren Aspekten mit größter Intensität verdrängt. Und ich habe gefunden, daß es normale Wissenschaft war:

    Es ist ein besonderes und seltenes Glück für eine an sich theoretische Forschung, wenn sie in eine Zeit fällt, wo die allgemeine Weltanschauung ihr anerkennend entgegenkommt, ja, wo sogar ihre praktischen Ergebnisse sofort als Unterlage staatlicher Maßnahmen willkommen sind. Als vor Jahren der Nationalsozialismus nicht nur den Staat, sondern auch unsere Weltanschauung umformte, war die menschliche Erblehre gerade reif genug, Unterlagen zu bieten. Nicht als ob jener eine ,wissenschaftliche’ Unterbauung nötig gehabt hätte als Beweis für seine Richtigkeit – Weltanschauungen werden erlebt und erkämpft, nicht mühsam unterbaut –, aber für wichtige Gesetze und Maßregeln waren die Ergebnisse der menschlichen Erblehre als Unterlagen im neuen Staat gar nicht zu entbehren!

    So schrieb Professor Eugen Fischer am 28. 3. 1943 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Professor Fischer war nicht irgendwer – er war der gerade emeritierte Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik und emeritierter ordentlicher Professor für Anthropologie an derUniversität zu Berlin. Er litt auch nicht an Altersschwache! Er hat bis zu seinem Tode im Jahr 1967 wissenschaftlich publiziert.
    Es lohnt sich hier, daran zu erinnern, für welche “Gesetze und Maßregeln” die menschliche Erblehre bis 1943 “als Unterlage” gedient hatte:

    Das “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums”, das alle Juden vom Staatsdienst ausschloß, kam der Forderung der “völkischen” Genetiker nach “Trennung” von allen Fremdrassigen entgegen.
    Das “Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses” war eine alte Forderung vieler Humangenetiker. Hochgerechnet etwa 400 000 Personen wurden bis 1939 sterilisiert. Etwa 1 000 davon starben an der Operation.
    Die “Nürnberger Gesetze” verboten unter drakonischer Strafdrohung die Ehe und sexuelle Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden.
    Professor Fischer hatte als Gutachter an der illegalen Zwangssterilisierung aller deutschen Farbigen mitgewirkt.
    Einer von Professor Fischers Abteilungsleitern, Professor F. Lenz, hatte für das nie erlassene “Euthanasie-Gesetz” folgende Formulierung vorgeschlagen: Das Leben eines Kranken, der infolge unheilbarer Geisteskrankheit sonst lebenslänglicher Verwahrung bedürfen würde, kann durch ärztliche Maßnahmen, unmerklich für ihn, beendet werden.” Ohne Gesetz wurden etwa 200 000 Geisteskranke bis 1945 getötet.
    Eine Gruppe von Anthropologen unter der Leitung des Psychiaters Dr. Dr. Robert Ritter hatte Ende 1942 die Vorbereitungen für den Genozid an den Zigeunern weitgehend abgeschlossen. Über 90 Prozent der Zigeuner – alle nicht reinrassigen – waren zu Sterilisierung und Lager bestimmt. Ein Doktorand Professor Fischers arbeitete als Gast in dem diesbezüglichen Institut.
    Professor Fischer war im März 1941 Ehrengast einer Tagung in Frankfurt. Dort wurde die Deportation aller europäischen Juden in ein polnisches bzw. außereuropäisches “Reservat”, wo sie unter straffer Polizeiaufsicht nützliche Arbeit leisten sollten, diskutiert. Hier wurde auch die Sterilisierung aller Viertelsjuden vorgeschlagen. Volkstod ist nie schneller Tod, hatte ein Universitätsprofessor ausgeführt.
    Professor Fischer hatte im März 1942 an einer Konferenz im Ostministerium teilgenommen, in der die Verschrottung durch Arbeit der Ostvölker diskutiert wurde.
    Professor Fischer hatte, als er den oben zitierten Artikel schrieb, noch nicht die an ihn im Juni 1944 ergangene Einladung Minister Rosenbergs angenommen, an einem “Internationalen Antijüdischen Kongreß” als “Leiter der rassenbiologischen Arbeitsgemeinschaft” teilzunehmen.
    Eine Human-Wissenschaft wie Human-Genetik ist eine merkwürdige Wissenschaft. Der Wissenschaftler muß den von ihm untersuchten Gegenstand als Objekt betrachten, aber das Objekt ist ein Mensch. Der Wissenschaftler darf dem von ihm untersuchten oder bearbeiteten Objekt während der Arbeit keine Gefühle entgegenbringen, aber das Objekt ist ein fühlender Mensch.

    Die Humanwissenschaftler hatten sich angewöhnt, die von ihnen untersuchten Menschen zu bewerten. Es War üblich unter Psychiatern, ihre schizophrenen oder sonstigen Patienten als “minderwertig” zu bezeichnen. Anthropologen wie Professor Fischer bezeichneten die Farbigen als “minderwertig”. Die Juden als “minderwertig” zu bezeichnen, verbot ihnen zunächst eine innere Stimme, die Juden waren “anders”. Als mit der Endlösung begonnen wurde, bezeichnete auch Professor Fischer die Juden als “minderwertig” und einer anderen Spezies angehörig. – als Tiere. Mit Objekten wie Tieren kann man alles machen.

    Tödliche Wissenschaft – Seite 3
    Normale Wissenschaft

    Es gab keine Medikamente zur Therapie von Geisteskranken. Es gab keine Therapie für das Nomadentum oder Judentum: Da die Gelehrten davon ausgingen, daß Schizophrenie, wie Judentum, biologisch vererbt wurde, erhob sich für sie die Frage, was tun. Die Quelle verstopfen, aus der all das fließt, forderte der Psychiater Professor Rüdin für seine Patienten. Das hieß “Trennung”, also Einschließung, um ihre Fortpflanzung endgültig zu verhindern, Sterilisation und schließlich Mord. Sie wollten den Wahnsinn mit den Wahnsinnigen, das Elend mit den Elenden, das Nomadentum mit den Nomaden und das Judentum mit den Juden ausrotten.

    Der Gelehrte machte seine Feldarbeit, er arbeitete im Labor oder am Schreibtisch. Die Verordnungen und Gesetze, die seine Objekte trafen, wurden in Ministerien formuliert. Zur Durchführung dieser Gesetze und Verordnungen waren sowohl der Justiz- und Polizeiapparat als auch der Medizinapparat nötig. Der Gelehrte sah nicht die Durchführung seiner Gutachten und Empfehlungen. Er hielt sich für einen reinen Wissenschaftler. Es war auch normale Wissenschaft.

    Die Wissenschaftler waren auf normalen Wege berufen worden. Sie erhielten ihr Forschungsgeld über die auch heute üblichen Kanäle durch den Staat: durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, durch die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, durch verschiedene Ministerien. Sie berieten staatliche Stellen als Kommissionsmitglieder, sie schrieben populärwissenschaftliche Artikel, die die Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen erläuterten und guthießen. Sie waren stolz, ihre Wissenschaft dem Volke dienstbar zu machen.

    Das Kriegsende kam wie ein Schock. Sie vernichteten ihre Akten und sagten, wenn sie gefragt wurden, daß sie nichts gewußt hätten. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie beispielsweise hatte den Krieg unversehrt überstanden. In zwei Lastwagen wurde das wichtigste Inventar vor Kriegsende in den Westen gebracht. Von den Akten ist so gut wie nichts erhalten geblieben.

    Sie hatten begutachtet und beraten. Aber sie hatten nichts angeordnet oder gar durchgeführt. Dr. Dr. Robert Ritter hatte den Genozid der Zigeuner vorbereitet. Er hatte das Jüngste Gericht für die Zigeuner in die Gegenwart gelegt und die wenigen “reinen” Zigeuner von den “unreinen” getrennt. Das Gericht, das sich im Jahr 1950 mit ihm befaßte, glaubte ihm, daß er die Zigeuner hatte retten wollen – und stellte das Verfahren gegen ihn ein.

    Und Professor Fischer? Kein Gericht hat sich mit ihm befaßt; im Spruchkammerverfahren wurde er als “Mitläufer” eingestuft. Alle Humangenetiker in Deutschland waren seine Schüler. Er hatte nie die Hand gegen irgendjemand erhoben. Keiner der Gelehrten nahm die Chance wahr, wahrhaftige Aufzeichnungen über den Weg der Humangenetik ins Verderben zu machen. Und wenn sie oder ihre Schüler wieder anfingen zu veröffentlichen, dann veröffentlichten sie so, als wäre nichts geschehen. Ich habe alle meine Gesprächspartner, die Schüler von Professor Eugen Fischer waren, gefragt, ob Fischer ein Antisemit war. Alle außer einem, der “Vielleicht” meinte, antworteten mit “Nein”; Fischer sei alles gewesen nur kein Antisemit – derselbe Fischer, der noch im Juni 1944 eine Einladung annahm, als Teil-Präsident eines von Rosenberg organisierten Antijüdischen Kongresses zu wirken. Wie soll man das verstehen?

    Tödliche Wissenschaft – Seite 4
    Mengele, der Nachwuchsforscher

    Wie Professor Eugen Fischer zum Symbol des bedeutenden alten Gelehrten wurde, der seine Intelligenz dem Nationalsozialismus lieh, so wurde Dr. Dr. Joseph (“Beppo”) Mengele zum Symbol des jungen Humanwissenschaftlers, dessen Intelligenz im Nationalsozialismus mißbraucht wurde. Mengele hatte eine anthropologische Doktorarbeit an der philosophischen Fakultät in München angefertigt und dann eine zweite an der medizinischen Fakultät in Frankfurt. Als Professor Otmar von Verschuer Nachfolger von Professor Fischer in Berlin wurde, war Mengele bei der SS. Er arbeitete kurze Zeit als Gast im Kaiser-Wilhelm-Institut bei Professor von Verschuer. Als Mengele nach Auschwitz versetzt wurde, beantragte Professor von Verschuer Geld für ihn von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. In dem Antrag heißt es:
    Als Mitarbeiter in diesem Forschungszweig ist mein Assistent Dr. med. et Dr. phil. Mengele eingetreten. Er ist als Hauptsturmführer und Lagerarzt im Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt. Mit Genehmigung des Reichsführers SS werden anthropologische Untersuchungen an den verschiedensten Rassengruppen dieses Konzentrationslagers durchgeführt und die Blutproben zur Bearbeitung an mein Laboratorium geschickt.

    Der Antrag wurde von Professor Sauerbruch genehmigt. Die Blutproben wurden später im Kaiser-Wilhelm-Institut für Biochemie von einem Gast und Stipendiaten der Deutschen Forschungsgemeinschaft analysiert. Alle Anthropologen, die ich fragte, äußerten sich positiv über Mengele: intelligent, freundlich, harter Arbeiter, Lieblingsschüler von Professor von Verschuer, lauteten die Aussagen.

    Durch Zufall lernte ich einen Arzt und Nichtanthropologen kennen, der von sich sagen konnte, Mengele sei seit 1931 sein bester Freund gewesen. Er erzählte, daß Mengele 1940 zu den Gebirgsjägern ging. Aber dort habe ihn ein Vorgesetzter dermaßen schikaniert, daß er die einzige Möglichkeit zur Versetzung benutzte: zur SS zu gehen. Ich habe Mengeles wenige publizierte Vorkriegsarbeiten gelesen. Sie sind so, wie die Arbeiten von jungen Wissenschaftlern üblicherweise sind. Von dem, was er in Auschwitz erarbeitete, ist nichts erschienen. Eine Arbeit über die verschiedenfarbigen Augen einer siebenköpfigen Zigeunerfamilie, deren Mitglieder in einer Auschwitzer Krankenbaracke gleichzeitig starben, erreichte als Manuskript gerade noch den Referenten. Sie wurde nicht mehr gedruckt.

    Mengele hat an der Rampe von Auschwitz Hunderttausende für die Gaskammer ausgewählt – der Prozeß der Selektion war ja das Privileg der humangenetisch gebildeten Lagerärzte. Sein jüdischer Sklavenassistent Dr. Nyizli hat ein – leider nicht ins Deutsche übersetztes – Buch über seine Tätigkeit bei Mengele geschrieben. Auch er beschreibt Mengele als intelligent. Mengele war, wie einer meiner Gesprächspartner sagte, der Typ des durchschnittlichen deutschen Habilitanden. Nicht jeder dieser Habilitanden hatte das Unglück, nach Auschwitz versetzt zu werden. Andere nahmen die vakanten Professuren für Humangenetik nach dem Krieg ein. Mengele befindet sich irgendwo auf freiem Fuß. Professor von Verschuer, zum Mitläufer eingestuft und zum Ordinarius nach Münster berufen, ist tot. Wenn er nach Mengele und Auschwitz gefragt wurde, hat er gesagt, da habe er nichts mehr mit ihm zu tun gehabt.

    Die meisten Naturwissenschaftler, mit denen ich mich unterhielt, nahmen – wohl aus Selbstachtung – an, es sei nichts, rein gar nichts herausgekommen bei diesen experimentellen Arbeiten. Nichtnaturwissenschaftler dagegen befürchteten, es sei Bedeutendes herausgekommen, das heute überall angewendet würde. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Ich muß hier allerdings gestehen, ich bin der Frage nicht besonders intensiv nachgegangen. Hier sind einige Fall-Beispiele:-

    Tödliche Wissenschaft – Seite 5
    Was ist dabei herausgekommen?

    Mengele und wohl auch Professor von Verschuer haben ihre Unterlagen vernichtet. Wie ich hörte – ich konnte das bisher nicht nachprüfen – haben auch die Amerikaner den größten Teil der Laborjournale der von ihnen verurteilten Ärzte vernichtet.
    In Auschwitz war unter anderen der Gynäkologe Professor Clauberg tätig. Er arbeitete eine Methode zur ambulanten Sterilisierung von Frauen aus. Seine Idee – er hat seine Resultate nicht publiziert – hat überlebt. Sie wird heute viel angewandt.
    Der Hirnanatom Professor J. Hallervorden, ließ sich über 600 Hirne von Euthanasieopfern aus den Gaskammern schicken. Daraus entstanden Arbeiten über die Hirn-Pathologie seltener Erkrankungen.
    Der Psychiater Professor C. Schneider, der ein großes Projekt zur Erforschung der “Idiotie” in Heidelberg begann, in dessen Verlauf die Kinder – anderswo – getötet wurden, hoffte, man könne später “Idiotie” bereits am Embryo nachweisen und dann einen Schwangerschaftsabbruch herbeiführen. Er hat den Weg dafür nicht gefunden, das haben andere getan, aber seine Hoffnung hat sich erfüllt.
    Im ganzen kann man sagen, Spektakuläres ist nicht entdeckt oder entwickelt worden. Aber man darf nicht vergessen, die Zeit war kurz und die Umstände ungünstig.

    Nochmals: Weshalb machen Sie das?

    Wie kannst du bei ihnen sitzen und mit ihnen sprechen, haben mich oft jüdische Freunde und Kollegen gefragt. Es ist mir nicht leicht gefallen hinzugehen, und gerade am Anfang hatte ich oft Furcht. Aber ich wollte wissen, wie es dazu kam, daß gerade sie Teil der Vernichtungsmaschine geworden waren. Alle waren gastfreundlich. Bei manchen konnte ich entsetzt sehen, wie auch ich – wäre ich eine Generation früher geboren – an ihren Platz hätte geraten können. Andere waren fremder: Sie sagten, sie hätten damals nichts von den organisierten Morden an den Juden, Zigeunern und Geisteskranken gewußt. Die meisten sagten das, und viele kannten heute noch nicht die Zahl en, und einige wollten sie nicht wissen. Da merkte ich, daß man seinen Eltern mehr verdankt als man zugeben will. Mein Vater wußte davon, und er hat es mir entsetzt erzählt, als ich noch ein Kind war.

    Naturwissenschaft ohne Reflexion – ohne Blick zurück – ist blind. Es ist wahr, wenn ich zurücksehe, dann sehe ich in diesen Humanwissenschaften nur Trümmer und vergossenes Blut. Walter Benjamins Engel sah ähnliches. Es war sein Unglück, ein Deutscher zu sein, aber die Engel der Geschichte haben viele Vaterländer.

    Weshalb tue ich es also? Ich denke, ich bin es den Opfern meiner Wissenschaft, der Genetik, schuldig, daß ich sie kennenlerne und daß ich sie nie vergesse. Nur so hoffe ich fähig zu werden, mich in der Zukunft richtig zu entscheiden und nicht wie meine Vorgänger zu versagen. Und vielleicht ist auch das eine Illusion.

    Mein Hauptinteresse hat sich wieder der Genetik und der Biochemie zugewandt. Auf die Frage, “Wie kann man die Wiederkehr der Barbarei durch Wissenschaft verhindern?”, sehe ich nur einen Weg: die immer neue Herstellung größtmöglicher nationaler und internationaler Öffentlichkeit. Aber das ist ein täglich neu zu errichtender und immer wieder verfallender Damm gegen das Meer der Barbarei.

    Link zum Artikel in der Zeit:
    https://www.zeit.de/1984/29/toedliche-wissenschaft/komplettansicht

  7. #8 N
    20. Oktober 2024

    15. September 1935 die Nürnberger Gesetze treten in kraft. Die Geburtstunde des gesetzlichen erlaubten Unrechts.
    8. August 1945 das Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird im Londoner Statut als Straftatbestand festgelegt.
    20. November 1946 der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, indem die Kriegsverbrecher nach diesem Straftatbestand verurteilt werden.

    2025 jährt sich das Londoner Statut zum 75. Mal.
    Wir haben also nicht mehr viel Zeit uns mit dieser Problematik auseinanderzusetzen um dann im web und in den Zeitungen mit sinnvollen und verantwortungsvollen Beiträgen aufzuwarten. Als Deutsche haben wir die Pflicht dazu.

  8. #9 Ludger
    20. Oktober 2024

    J.K.:

    Verschwinden die Fragen damit?

    Die Frage, “in welchem Umfang die Forschung in den KZs eine sinnlose Forschung war, […]”, ist eine Sinnfrage. Ich vermute, dass das Wort “sinnlos” umgangssprachlich benutzt wurde und die Frage eigentlich war, ob es verwertbare Ergebnisse gegeben hat. Durch verwertbare Ergebnisse wird die KZ-Forschung aber nicht sinnvoll. Der Zweck heiligt nicht die Mittel.

    • #10 Joseph Kuhn
      20. Oktober 2024

      @ Ludger:

      “Der Zweck heiligt nicht die Mittel.”

      Natürlich nicht. Diese These hat auf der Tagung niemand vertreten. Die Apologetik der Nazi-Ärzte im Nürnberger Prozess hat diese These bemüht: Man hätte einige wenige geopfert, um viele zu retten – sozusagen ein Versuch, utilitaristisches Kapital anzuzapfen. Es wurde auch behauptet, die Opfer wären zum Tode verurteilte Verbrecher gewesen, die sich durch die Teilnahme eine Begnadigung verdienen konnten – eine reine Lüge.

      Warum die Argumentation der Nazi-Ärzte die KZ-Experimente nicht rechtfertigen kann (Ausnutzung Notlage, Zwang, keine Einwilligung, z.T. Ermordung nach dem Experiment zum Zweck nachträglicher Obduktion usw.), muss man hoffentlich nicht ausführlicher begründen. Insofern kann ich Ihnen nur uneingeschränkt Recht geben.

      Die Fragen der Tagung haben sich damit trotzdem nicht erledigt, es ging ja nicht darum, die Experimente zu rechtfertigen oder zu verurteilen (sicher waren sich alle Teilnehmer:innen in der Verurteilung einig), sondern darum, ob sie “wissenschaftlich” waren, bzw. welche es waren und was das bedeutet, z.B. für die Nutzung nach dem Krieg (Stichwort Schleudersitze, Stichwort ökologischer Landbau), oder für das, was man als “wissenschaftlich” ansieht.

  9. #11 BPR
    20. Oktober 2024

    Gerade hat die World Medical Association eine aktuelle Revision der Deklaration von Helsinki, erstmals beschlossen 1964, verabschiedet. Sie ist ergänzt mit zahlreichen klugen Kommentaren zu finden bei JAMA vom 19.10.2024: 10.1001/jama.2024.21972.

    Darin als Punkt 7: The primary purpose of medical research involving human participants is to generate knowledge to understand the causes, development, and effects of diseases; improve preventive, diagnostic, and therapeutic interventions; and ultimately to advance
    individual and public health.
    These purposes can never take precedence over the rights and interests of individual research participants.

    • #12 Joseph Kuhn
      20. Oktober 2024

      @ BPR:

      Danke für den Hinweis. Die Medizinethik hat eine lange Geschichte, sie fängt nicht nach dem Krieg mit dem Nürnberger Kodex an. 1931 hatte das Reichsinnenministerium sogar medizinrechtliche Richtlinien zu den Voraussetzungen von Humanexperimenten erlassen. Allerdings waren KZs und andere Zwangsstätten eben, wie es auf der Tagung formuliert wurde, “entregulierte Räume”: weder hat man sich dort für die nach wie vor geltenden Richtlinien des Reichsinnenministeriums interessiert noch für die ja ebenfalls fortgeltende Reichsverfassung.

      Was die individuellen Rechte der Menschen gegenüber kollektiven Interessen angeht, zieht Art. 1 GG ein eindeutige Grenze, das ist bis in die einzelgesetzliche Ebene hinein wirksam, siehe z.B. das berühmte Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2006 zum Luftsicherheitsgesetz.

  10. #13 hto
    wo der zeitgeistlich-reformistische Kreislauf ...
    20. Oktober 2024

    Immer wieder “erstaunlich”, wie leichtfertig kommuniziert wird, wo mittels Krieg, bzw. der wettbewerbsbedingten Symptomatik wegen, sogar Menschen eines ganzen Kontinents (Afrika) immernoch als Versuchslabor missbraucht werden, von den anderen Ländern, die der “demokratischen” Welt- und “Werteordnung” nahestehen sollen mal ganz abgesehen.

    • #14 Joseph Kuhn
      20. Oktober 2024

      @ hto:

      Versuchen Sie mal, Ihren pathologischen Negativismus ein bisschen unter Kontrolle zu kriegen. Hier wird nicht “leichtfertig” kommuniziert, indem z.B. fragwürdige Medikamententests in Afrika (diese sind sogar literarisch verarbeitet: John le Carré: Der ewige Gärtner”) oder in Gefängnissen und Heimen oder anderen prekären Lagen ausgeblendet werden.

      Es ging bei der Tagung in der Reihe der Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte aber nun mal um Forschung in KZs und andere Nazi-Zwangsstätten, nicht um den Rest heikler Forschung. Parallelen und Unterschiede etwa zur Tuskegee-Studie wurden allerdings durchaus diskutiert – ernsthaft und nicht “leichtfertig”.

  11. #15 Staphylococcus rex
    20. Oktober 2024

    Ein wichtiger Aspekt in dieser Diskussion ist aus meiner Sicht die Frage nach Alternativen für die damals beteiligten “Forscher”. Wenn ich mich richtig erinnere, wurde in NS-Deutschland viel zu Barbituraten geforscht. Der Hinweis von Ludger#5 zum Eiswasserbad war für mich neu. Unabhängig von der konkreten Fragestellung handelt es sich um Interventionsstudien. Sind ethisch saubere Herangehensweisen in fachlicher Hinsicht wirklich unterlegen? Was wären die Alternativmethoden gewesen?

    1) Einschränkung des Interventionsbereichs, ist der wissenschaftliche Wert einer Dosis-Wirkungsbeziehung soviel schlechter, wenn die Messreihe nicht zum Tod oder Dauerschaden des Probanden führt?
    2) Tierversuche, wenn der obere Bereich einer Dosis-Wirkungsbeziehung wirklich untersucht werden muss, dann sind Tierversuche eine Alternative. Auch hier gibt es ethische Grenzen, aber die sind andere als bei Versuchen an Menschen.
    3) Beobachtungsstudien, bei Barbituraten wären dies Patienten nach Suizidversuch, beim Thema Eiswasser wären dies Schiffbrüchige. Eine saubere Dokumentation einer medizinischen Behandlung ist ohnehin erforderlich. Die nachträgliche Berechnung der einwirkenden Dosis ist etwas ungenauer als bei einer echten Interventionsstudie, auch dauert es wesentlich länger, einen ausreichenden Datensatz zu sammeln.
    4) Versuche mit Geweben oder Organoiden oder mathematische Modelle stehen heute zur Verfügung, waren damals aber höchstens für spezielle Fragestellungen verfügbar.

    Zusammenfassend möchte ich sagen, bereits damals in der NS-Zeit hatten Forscher bereits ein reichhaltiges Methodenspektrum zur Verfügung. Der “Mehrwert” von Menschenversuchen im KZ bestand in einer gewissen Ersparnis von Kosten, Zeit und einem minimalen Erkenntnisgewinn im Randbereich einer Dosis-Wirkungsbeziehung. Zum damaligen Zeitpunkt steht einem minimalem Erkenntnisgewinn unermeßliches Leid der betroffenen unfreiwilligen Probanden gegenüber. Zu dieser Abwägung wären auch die damaligen “Forscher” imstande gewesen.

  12. #17 Staphylococcus rex
    20. Oktober 2024

    PS: Warum haben sich damals Ärzte für die Forschung im KZ einspannen lassen? Waren dies alle Menschenhasser und Psychopathen? Ich kann nur spekulieren, aber die “Einstiegsdroge” war vermutlich ganz normale pharmakologische Forschung. Die Kohortierung im KZ und der Verzicht auf eine Einverständniserklärung führen dazu, dass die gleiche Forschung mit einem Bruchteil des Budgets in wesentlich kürzerer Zeit abgeschlossen und publiziert werden konnte. Dies führte damals zu einem “Wettbewerbsvorteil” der daran beteiligten “Forscher” und zu einer Gruppendynamik.

    Wir reden hier bei dieser speziellen “Forschung” über zwei Grenzüberschreitungen. Die eine Grenzüberschreitung ist der Verzicht auf das Einverständnis des Probanden. Die zweite Grenzüberschreitung ist die Entmenschlichung des Probanden und die Bereitschaft den Tod des Probanden in Kauf zu nehmen.

    Bei der ersten Grenzüberschreitung kann man den “Wettbewerbsvorteil” angreifen, z.B. durch ein Publikationsverbot derartiger Ergebnisse und durch ein Zulassungsverbot derartig beforschter Substanzen. Wenn partizipierende Firmen nachträglich Entschädigungen an die Probanden zahlen müssen, reduziert dies ebenfalls den “Wettbewerbsvorteil”.

    Bei der zweiten Grenzüberschreitung hilft nur eine klare Sprache. eine derartige “Forschung” ist in jedem Fall eine vorsätzliche Körperverletzung, ggf. in Kombination mit fahrlässiger oder vorsätzlicher Tötung. Die Planer tragen die volle juristische Verantwortung, aber auch für die Beihilfe gibt es juristische Bewertungen.

    • #18 Joseph Kuhn
      20. Oktober 2024

      @ Staphylococcus rex:

      “pharmakologische Forschung”

      Um pharmakologische Forschung ging es auch, aber bei weitem nicht nur.

      Der Einstieg in die KZ-Experimente war recht unterschiedlich. Es gab Karrieristen, die hier eine ungewöhnliche Chance sahen (z.B. Siegmund Rascher), es gab renommierte Seuchenforscher (z.B. Claus Schilling), die hier die “entregulierten Räume” nutzten, es gab militärmedizinische Fragen, die man man beantworten wollte, wie die bereits erwähnten Höhenversuche, es gab verrückte Landwirtschafts-Ideen von Himmler, Anreize über Forschungsförderung, industrielle Interessen usw. usw.

      “Wettbewerbsvorteil”

      “Wettbewerbsvorteile” durch Forschung unter Ausbeutung und Ermordung von KZ-Häftlingen wurden vor allem auch von Staaten genutzt, siehe die DLR, oder das Raketenprogramm der USA mit Wernher von Braun oder Forschung zu biologischen Waffen mit Kurt Blome usw. usw.

      Die Strafverfolgung auch schlimmster Täter stand dabei oft zurück.

  13. #19 Staphylococcus rex
    20. Oktober 2024

    @ Joseph Kuhn, die Höhenversuche ändern nach meiner Einschätzung nichts am Gesamtbild. Höhenversuche waren damals relevant für Besatzungen von Jagdfliegern und Bombern, insbesondere weil durch den neuartigen Düsenantrieb derartige Flugzeuge immer größere Höhen erreichten. Auch damals hätte man bis zu einem gewissen Grad Versuche an Freiwilligen (Piloten und Bergsteigern) durchführen können. Auch haben wir das Problem, dass die Höhentoleranz individuell stark schwankt (ich persönlich weiß von früheren Wanderungen, dass meine Obergrenze bei ca. 4800 m liegt, während andere Menschen locker Höhen bis 5500 m tolerieren).

    Für die konkrete Frage, für welche Einsatzhöhe eine konkrete Person uneingeschränkt oder mit Einschränkungen geeignet ist, muss nach meiner Einschätzung keine ethische Grenze überschritten werden. Auch hier haben wir die Möglichkeit der nachträglichen Auswertung von Unfällen bei Bergsteigern und Piloten. Mir fällt im Augenblick keine wirklich wichtige Fragestellung ein, bei der derartige Forschungen einen signifikanten und unverzichtbaren Erkenntnisgewinn bringen.

    Der Begriff “marginal” mag manchmal untertrieben sein, wenn wir aber Rechtsgüter wie das Leiden einzelner Menschen und den Erkenntnisgewinn für die Allgemeinheit gegeneinander abwägen, dann müssen für den Erkenntnisgewinn schon Begriffe wie “Signifikant” und “Unverzichtbar” zutreffen. Nehmen wir als Beispiel eine weltumspannende Seuche (eine hypothetische Kreuzung aus Tollwut und Grippe), welche die Menschheit in wenigen Monaten an den Rand der Ausrottung bringen könnte. Wenn für einen derartigen Erreger ein Tiermodell nicht zur Verfügung steht und Zeit der limitierende Faktor ist, welche Optionen hätten wir? Sowohl potentielle Impfstoffe als auch antivitale Substanzen könnten an freiwilligen Personen mit beruflich erhöhtem Expositionsrisiko geprüft werden.
    Mit gezielten Menschenversuchen könnte lediglich minimal Zeit gespart werden. Wenn die Existenz der Menschheit auf dem Spiel steht, könnte der Zeitgewinn relevant sein. Wenn die Existenz der Menschheit auf dem Spiel steht, dann dürfte es auch Freiwillige geben, so dass die Grenze zu Menschenversuchen ohne Einwilligung nicht überschritten werden muss.

    • #20 Joseph Kuhn
      20. Oktober 2024

      @ Staphylococcus rex:

      “Auch damals hätte man bis zu einem gewissen Grad Versuche an Freiwilligen (Piloten und Bergsteigern) durchführen können.”

      Ich bin kein Fachmann für Luftfahrtmedizin und schon gar nicht für den Stand der damaligen wissenschaftlichen Sachlage. Man hat wohl Selbstversuche bis zu fiktiven Flughöhen bis 12.000 m durchgeführt, die dann aufgrund der aufgetretenen Beschwerden nicht weitergeführt wurden. Mit den KZ-Häftlingen wurden, wenn ich das recht erinnere, Versuche bis zu fiktiven Höhen von 18.000 m durchgeführt.

      Ob es Freiwillige gegeben hätte und ob man versucht hat, welche zu finden, weiß ich nicht, aber vermutlich wäre die Bereitschaft angesichts der absehbaren hohen Todesrate bzw. des Risikos bleibender Schäden bei den Höhenversuchen wie bei den Unterkühlungsversuchen, ebenso bei den Versuchen zur Behandlung von Gasbrand mit Sulfonamiden oder der Entwicklung von Impfstoffen gegen Fleckfieber, recht gering gewesen.

      Ob die gewonnen Erkenntnisse zu manchen Fragen relevant waren, müsste man im Einzelnen prüfen, da sind wir sicher beide keine Fachleute. Bei der Tagung wurde das für manche der Forschungsarbeiten bejaht.

      Dass man ungeachtet eventuell relevanter Erkenntnisse die ethischen – und wie gesagt auch rechtlichen – Grenzen nicht hätte überschreiten dürfen, darüber besteht ja Konsens, wie jetzt bereits mehrfach geschrieben wurde. Die Diskussion scheint sich gerade etwas im Kreis zu drehen, und sie ist, wenn sie aus dem Bauchgefühl heraus geführt wird, auch unergiebig. Sollten Sie etwas Interessantes zum Thema lesen, gerne berichten.

  14. #21 Staphylococcus rex
    20. Oktober 2024

    @ Joseph Kuhn, ich bin bei Detailfragen ebenfalls kein Fachmann. Trotzdem lohnt es sich, gelegentlich Äußerungen (wie hier zum Erkenntnisgewinn bei Höhenexperimenten) zu hinterfragen.

    Wenn damals Selbstversuche mit Freiwilligen bis zu einem Druckäquivalent von 12 000 m und bei KZ-Häftlingen bis zu einem Druckäquivalent bis 18 000 m durchgeführt wurden, welche Relevanz kann man daraus ableiten?

    Normale Verkehrsflugzeuge fliegen in Höhen zwischen 30 000 und 40 000 Fuß (ca. 10 000 m). Militärmaschinen und Überschallflugzeuge fliegen auch höher (für den Eurofighter wird eine Dienstgipfelhöhe von knapp 17 000 m und eine Maximalhöhe von knapp 20 000 m angegeben).
    https://de.wikipedia.org/wiki/Flughöhe
    https://de.wikipedia.org/wiki/Eurofighter_Typhoon

    Gefährlich wird es bei einem plötzlichen Druckabfall, bei einem sehr schnellen Druckabfall kommt zum Sauerstoffmangel auch noch die Dekompression:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Druckabfall_im_Flugzeug
    Bei ca. 10 000 m Flughöhe hat man bei plötzlichem Druckverlust ohne zusätzlichen Sauerstoff ein Zeitfenster von ca. 15 Sekunden bis zur Bewußlosigkeit. Darauf sind die technischen und organisatorischen Maßnahmen ausgerichtet, dieses kurze Zeitfenster optimal zu nutzen. Bei einem Überschallflugzeug mit höherer Flughöhe ist dieses Zeitfenster deutlich kürzer.

    Worauf ich hier hinausmöchte, bei den meisten Fragestellungen ist das Ziel die Handlungsfähigkeit des Probanden. Derartige Fragestellungen können in der Regel mit Freiwilligen beantwortet werden. Alles was dann passiert, wenn die Grenze der Handlungsfähigkeit überschritten ist, mag von einem theoretischen Interesse sein, rechtfertigt aber nicht das Leid von Menschen ohne deren Einwilligung.

    PS: Die Dosis-Wirkungsbeziehung von radioaktiver Strahlung mit dem menschlichen Organismus hat ebenfalls ihre dunklen Kapitel, aber das würde diese Diskussion bei weitem sprengen. Staatsräson und Demokratie haben auch ihr Spannungsverhältnis.

    • #22 Joseph Kuhn
      20. Oktober 2024

      @ Staphylococcus rex:

      “welche Relevanz kann man daraus ableiten?”

      Das weiß ich nicht und wie schon gesagt, ich will hier nicht aus einem Bauchgefühl heraus herumspekulieren, über flugmedizinische Fragestellungen zur damaligen Zeit habe ich mich nicht belesen. Auf der Tagung haben sich dazu Leute geäußert, die zu den damaligen Experimenten geforscht haben.

      Dass so oder so die Ergebnisse die Methoden nicht rechtfertigen, können wir jetzt auch noch drei mal hinschreiben, oder diesen Punkt einfach als unstrittig abhaken.

  15. #23 Staphylococcus rex
    20. Oktober 2024

    @ Joseph Kuhn, wenn sich für Sie die Diskussion im Kreis dreht, dann tut mir das leid, wahrscheinlich weil wir mit unterschiedlichen Prioritäten an die Frage herangehen. Mich beschäftigt die Frage von Ludger#5 nach der Sinnhaftigkeit dieser Forschung und wie man damit heutzutage umgehen soll.

    Wissen, welches auf unethischem Weg gewonnen wurde, muss permanent hinterfragt werden und beschädigt das Gebäude der Wissenschaft. Für mich persönlich war die bisherige Diskussion wichtig, um ungefähr abschätzen zu können, welcher Anteil an Erkenntnissen aus unethischer Forschung kann durch Wissen aus sauberer Forschung ersetzt werden, welcher Anteil ist heute noch unverzichtbar und welcher Anteil befriedigt eine morbide Neugier, gehört aber in den “Giftschrank” der Wissenschaft.

    Das Wissen darum, wie lange es exakt braucht im Eiswasser zu sterben oder bei einem Höhenäquivalent von 18 000 m zu ersticken gehört für mich in die letzte Kategorie (“Giftschrank”) und sollte ausschließlich Fachleuten mit einem berechtigten Interesse zugänglich sein.

    Relevant wird dieses Wissen, wenn in Lehrbüchern oder Publikationen darauf Bezug genommen wird. Jede unkritische Erwähnung/Nutzung dieses Wissens ist eine nachträgliche Rechtfertigung der Täter. Das bedeutet, dort wo dieses Wissen durch sauberes Wissen ersetzt werden kann, sollte dies geschehen, auch wenn ggf. die Exaktheit etwas darunter leidet. Wenn z.B. bei bestimmten Substanzen die LD50 vom Tiermodell anstatt von Menschenversuchen angegeben wird oder wenn anstatt den Ergebnissen von Menschenversuchen Daten aus der Unfallforschung benutzt werden, dann ist das in Ordnung.

    Soweit ich es aus der bisherigen Diskussion sehen kann, gibt es wenn überhaupt nur wenige Einzelfälle, wo das Wissen der damaligen Experimente auch heute noch unverzichtbar ist. Da wir hier alle keine Fachleute sind, sehe ich den Rechtfertigungszwang deshalb auch bei den Spezialisten, die darüber Lehrbücher oder Publikationen schreiben. Wir sind es den Opfern von damals schuldig, in einer Publikation oder Lehrbuch darauf hinzuweisen, wenn Ergebnisse auf verbrecherischem Weg gewonnen wurden. Und in letzter Konsequenz hat jeder Wissenschaftler eine Aufarbeitungspflicht, wenn er in seinem Fachgebiet derartige Daten verwendet und dazu gehört auch das Ziel nachträglich Daten mit fragwürdiger Herkunft durch “saubere” Daten zu ersetzen.

    Der Versuch, das Fundament der Wissenschaft auf eine saubere Basis zu stellen, steht dabei für mich nicht im Widerspruch zur Kenntnis der Geschichte der Wissenschaft und um ihre Irrwege.

  16. #25 DH
    20. Oktober 2024

    Wenn man im Nachhinein Ergebnisse ablehnt, weil die Methoden mörderisch waren, stellt man in den Raum damit einen wesentlichen Beitrag leisten zu können, damit solche Vorgänge in Zukunft unterbleiben.
    Wäre dem so wäre das ein Argument, nur gibt es darauf keinerlei Hinweise.

    • #26 Joseph Kuhn
      21. Oktober 2024

      @ DH:

      Ob es um Prävention geht, oder eher um öffentliche bekundete Scham und Respekt vor den Toten?

      Hinsichtlich der Prävention wurden auf der Tagung viele Erwartungen in eine kritische Öffentlichkeit gesetzt, mehr als in die Selbstreinigungskräfte der Wissenschaft. Als Beispiel dafür wurde auf die bereits erwähnten Syphilis-Experimente in Tuskegee in den USA hingewiesen, die erst durch Presseberichte nach einem Whistleblowing beendet wurden.

      Allerdings sehe ich da einen wesentlichen Unterschied zu den KZ-Experimenten: Die Syphilis-Experimente fanden in einem Land mit freier Presse statt, in Nazi-Deutschland hätte ein Whistleblower – zumindest was die deutsche Presse angeht – nichts bewirken können. Das unterstreicht die Verantwortung, vorher etwas zu tun.

      Aber Königswege wird es bei solchen Fragen vielleicht nicht geben.

      Nachtrag:
      Vielleicht in dem Zusammenhang auch von Interesse: The Lancet Commission on medicine, Nazism, and the Holocaust: historical evidence, implications for today, teaching for tomorrow

  17. #27 Richard
    21. Oktober 2024

    Wie man mit den Forschungsergebnissen aus der NS-Zeit umgehen soll, ist eine Frage, die schon seit Längerem über einen Anatomieatlas und anatomische Präparate geführt wird. Siehe dazu “Eduard Pernkopf – Ein Nazi und sein Atlas”,
    https://medicusblog.at/eduard-pernkopf-ein-nazi-und-sein-atlas/ oder
    What Should Be Done with Pernkopf’s Anatomical Illustrations
    https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9302929/

  18. #28 Joseph Kuhn
    21. Oktober 2024

    Tagungsbericht in der Süddeutschen

    Gestern online, heute in der Printausgabe, leider hinter der Paywall: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/dachau/dachau-kz-symposium-versuche-haeftlinge-zwangsarbeit-lux.JrwmQkBdGnvA6Y5faVZXLq?reduced=true

  19. #29 N
    21. Oktober 2024

    Darf man mit den Ergebnissen von Menschenversuchen mit Menschen weiterarbeiten, als ob sie aus „ganz normaler“ Wissenschaft stammen würden?

    Wem gehören die Forschungsergebnisse und wer darf sie verwerten ?
    Forschungsergebnisse sind in der Regel über das Urheberrecht geschützt,

    Das besagt, dass spätestens 70 Jahre nach dem Tode der Person das Urheberrecht erlischt., allerdings kann es vererbt werden. Also 70 Jahre nach dem Tode des letzten Erbberechtigten erlischt das Recht an einer wissenschaftlichen Arbeit.

    Da in den KZ die Opfer selbst der Gegenstand der Forschung waren kann man sagen, die Verwandten der Opfer haben das Recht die Herausgabe der Protokolle und Ergebnisse zu verlangen.

    Wenn die Opfer Angehöriger anderer Nationen waren bedarf es also internationaler Absprache.

    Inwieweit diese Sichtweise durch bestehende Gesetze abgesichert ist, darüber sollten sich jetzt Juristen und Staatsrechtler äußern.

    • #30 Joseph Kuhn
      21. Oktober 2024

      @ N:

      Nichts für ungut, aber um Urheberrechtsfragen geht es bei dem Thema nun wirklich nicht.

  20. #31 N
    21. Oktober 2024

    XXX

    [Kommentar gelöscht. Bitte in der Rush Hour der Einfälle mal wieder einen Gang zurückschalten. Danke JK]

  21. #32 DH
    21. Oktober 2024

    @Joseph Kuhn
    Die Lancet-Kommssion, u.ä., kann einer der Wege sein wie man Prävention betreiben kann (ich kann mir sowas Ähnliches auch vorstellen unter dem Dach der EU, wenn es um die Bewältigung alter nationaler Konflikte geht, um sie nicht unter den Teppich zu kehren und in ein ziviles Fundament zu gießen).
    “Ob es um Prävention geht, oder eher um öffentliche bekundete Scham und Respekt vor den Toten?”
    Ein verständliches Motiv und ich gehe von der Ehrlichkeit der Teilnehmer aus, in der Politik ist das leider oft nicht so, wo NS-Vergangenheit heute oft instrumentalisiert wird zur moralischen Selbstdarstellung, sowohl von idenditätspolitischer als auch von rechtspopulistischer und neoliberaler Seite her- allerdings in recht platter Form, detaillierte Betrachtungen finden da nicht statt.
    “kritische Öffentlichkeit gesetzt, mehr als in die Selbstreinigungskräfte der Wissenschaft.”
    So ist es.
    ” Das unterstreicht die Verantwortung, vorher etwas zu tun.”
    Wie in Ihrem verlinkten Artikel bereits beschrieben, gehen die Meinungen auseinander, wer die größte Gefahr für die Demokratie darstellt, und das ist gut so. Die nächste Diktatur könnte auch von rechts kommen, die nächsten Massenmorde eher nicht, weil die Rechte dafür zu sehr beobachtet wird.
    Sollte es je wieder ein solches Regime geben, kommt es mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einer unerwarteten Ecke, was ja vor 33 auch für die Nazis selber galt.
    Denkbar und sogar am wahrscheinlichsten sind auch Mischformen aus verschiedenen Versatzstücken, auch das haben die Nazis (mit Abstrichen) vorweggenommen.

  22. #33 RGS
    21. Oktober 2024

    @Joseph Kuhn
    #28 Tagungsbericht Süddeutsche Zeitung

    Mich stören schon die Überschrift und der Untertitel des Berichts, weil sie wohlfeil Wertungen enthalten.
    „Die absurden Experimente…“ das waren nach damaligen Kriterien normale wissenschaftliche Experimente, die ggf. von DFG gefördert wurden oder gefördert hätten werden können.

    „Historiker liefern beim Dachauer Symposium neue Erkenntnisse dazu, wie die Nationalsozialisten die Häftlinge in den Konzentrationslagern für ihre pseudowissenschaftlichen Versuche missbrauchten und zur Arbeit für die Rüstungsindustrie zwangen.“
    Hier stört mich dass behauptet wird, es habe sich um pseudowissenschaftliche Versuche gehandelt. Nein das waren normale wissenschaftliche Versuche in der damaligen Zeit.
    Es ist überheblich mit 80 Jahren Abstand darauf zu blicken und zu behaupten, das sei damals keine „state of the art science“ gewesen. Doch das war sie.

    Es ist leicht mit 80 Jahren Abstand überheblich auf die Wissenschaft der Vorfahren zu blicken.

    Das Erschreckende finde ich, dass es Barbarei war und gleichzeitig normale Wissenschaft.

    • #34 Joseph Kuhn
      22. Oktober 2024

      @ RGS:

      Ich glaube, Sie tun dem SZ-Artikel Unrecht. Nach „damaligen Kriterien normale wissenschaftliche Experimente“ waren es nicht, siehe die erwähnte Verletzung der nach wie vor geltenden Richtlinien des Reichsinnenministeriums von 1931. Zudem waren manche der Forschungen auch wirklich „pseudowissenschaftlich“, etwa im landwirtschaftlichen Bereich, auch darauf wurde schon hingewiesen.

      Der Artikel berichtet breiter als ich über das Themenspektrum des Symposiums, dafür geht in der Tat manche der Fragestellungen wie die nach der Verwertbarkeit und Verwertung der Forschungen etwas unter.

  23. #35 RGS
    22. Oktober 2024

    Im obigen Artikel von Benno Müller-Hill wird ein Forschungsantrag für das Team von Verschuer/Mengele erwähnt:
    „Wie Professor Eugen Fischer zum Symbol des bedeutenden alten Gelehrten wurde, der seine Intelligenz dem Nationalsozialismus lieh, so wurde Dr. Dr. Joseph (“Beppo”) Mengele zum Symbol des jungen Humanwissenschaftlers, dessen Intelligenz im Nationalsozialismus mißbraucht wurde. Mengele hatte eine anthropologische Doktorarbeit an der philosophischen Fakultät in München angefertigt und dann eine zweite an der medizinischen Fakultät in Frankfurt. Als Professor Otmar von Verschuer Nachfolger von Professor Fischer in Berlin wurde, war Mengele bei der SS. Er arbeitete kurze Zeit als Gast im Kaiser-Wilhelm-Institut bei Professor von Verschuer. Als Mengele nach Auschwitz versetzt wurde, beantragte Professor von Verschuer Geld für ihn von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. In dem Antrag heißt es:
    Als Mitarbeiter in diesem Forschungszweig ist mein Assistent Dr. med. et Dr. phil. Mengele eingetreten. Er ist als Hauptsturmführer und Lagerarzt im Konzentrationslager Auschwitz eingesetzt. Mit Genehmigung des Reichsführers SS werden anthropologische Untersuchungen an den verschiedensten Rassengruppen dieses Konzentrationslagers durchgeführt und die Blutproben zur Bearbeitung an mein Laboratorium geschickt.
    Der Antrag wurde von Professor Sauerbruch genehmigt. Die Blutproben wurden später im Kaiser-Wilhelm-Institut für Biochemie von einem Gast und Stipendiaten der Deutschen Forschungsgemeinschaft analysiert. Alle Anthropologen, die ich fragte, äußerten sich positiv über Mengele: intelligent, freundlich, harter Arbeiter, Lieblingsschüler von Professor von Verschuer, lauteten die Aussagen.“

    Ich fände es spannend zu wissen, ob dieser Forschungsantrag der Richtlinie des Reichsinnenministeriums entsprach.

    Hatte diese Richtlinie dann eine praktische Relevanz?
    Sprich gab es Fälle, wo sie zum Einsatz kam? Oder wurde sie einfach in der Praxis der DFG ignoriert?

    Das könnte ich ggf. alles selbst nachlesen, aber ich habe keine Zeit dafür.

    • #36 Joseph Kuhn
      22. Oktober 2024

      @ RGS:

      “Sprich gab es Fälle, wo sie zum Einsatz kam?”

      Im KZ Auschwitz wohl eher nicht.