Seit mehr als 20 Jahren gibt es das „Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte“. In diesem Jahr stand es unter der Überschrift „Zwangsarbeit, Medizin und Wissenschaft“. Es ging um Forschung und Experimente in Konzentrationslagern und anderen Zwangsstätten:
„In den Zwangsstätten des nationalsozialistischen Deutschland wurde nicht nur das Leben und die Arbeitskraft der Inhaftierten ausgebeutet, sondern auch ihr Wissen. Umgekehrt wurden die Lager auch zu Orten der (vermeintlichen oder tatsächlichen) Gewinnung von Wissen unter mörderischen Bedingungen.“
Darüber haben gestern und heute ca. 50 Fachleute und Interessierte im Max Mannheimer Haus in Dachau diskutiert. Impulse gaben renommierte und bald renommierte Wissenschaftler:innen: Prof. Dr. Moritz Epple, Mathematiker, Professor für Wissenschaftsgeschichte in Frankfurt, Prof. Dr. Volker Roelcke, Mediziner, Professor für Medizingeschichte in Gießen, Dr. Astrid Ley, Historikerin und stellvertretende Leiterin der Gedenkstätte Sachsenhausen, Dr. Karsten Wilke, Historiker, Hochschule Düsseldorf, Prof. Dr. Mark Spoerer, Volkswirt, Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Regensburg, Nelli Kisser, Doktorandin in Frankfurt, Dr. Anne Sudrow, Historikerin in Berlin und 2022 Gastprofessorin am Fritz Bauer-Institut, Prof. Dr. Wolfgang Benz, Historiker, Professor (em.) in Berlin und Dr. Dirk Riedel, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter des NS-Dokumentationszentrums München.
Forschung in den KZs und anderen Zwangsstätten war Forschung in „entregulierten Räumen“. Die rechtlich auch damals durchaus schon bestehenden Vorgaben für Forschung an Menschen galten dort nicht.
Es ging bei der Tagung – natürlich – um die grausamen medizinischen Experimente an Häftlingen in den KZs, deren Verstümmelung und Tod bedenkenlos in Kauf genommen wurde, des Weiteren um den Einsatz von KZ-Häftlingen in der deutschen Wirtschaft, um die Rolle von Häftlingen in der Forschung zur Schädlingsbekämpfung und biologischen Kriegsführung sowie um Forschungen zur ökologischen Landwirtschaft im KZ Dachau mit Bezügen bis zur Gegenwart der anthroposophischen Landwirtschaft.
Ein Diskussionskern war die Frage, in welchem Umfang die Forschung in den KZs eine sinnlose Forschung war, ein Beispiel dafür war die Forschung zur biologischen Kriegsführung mit Malariaerregern, und in welchem Umfang damit damals wichtige wissenschaftliche Fragestellungen bearbeitet wurden, etwa in der Luftfahrtmedizin, die auch nach dem Krieg weiterverwendet wurden.
Was bedeutet solche Forschung, sinnlose wie ernsthafte, bei der so viele Menschen grausamst wie Versuchstiere „verbraucht“ wurden, viele starben, für den Wissenschaftsbetrieb, für die Wissenschaftsethik, für das Verständnis dessen, was Wissenschaft ist und sein sollte? Darf man mit den Ergebnissen weiterarbeiten, als ob sie aus „ganz normaler“ Wissenschaft stammen würden?
Daran anschließen recht grundsätzliche wissenschaftstheoretische Fragen: Wie ist Forschung vor verbrecherischen Entgleisungen wie in der Nazi-Zeit zu schützen? Reichen forschungsorganisatorische Regularien wie eine möglichst freie und öffentliche Diskussion über Forschungsmethoden, oder die beharrliche Prüfung an der Empirie? Welche Rolle spielt das Gewissen der Wissenschaftler, die „intellektuelle Redlichkeit“, um einen Begriff von Ernst Tugendhat zu bemühen? Welche das jeweilige „Denkkollektiv“ (Ludwik Fleck)?
Weiter: Ist Wissenschaft mehr als die Gewinnung nützlichen Wissens (nützlich für wen auch immer)? Kommt man bei der Definition von guter Wissenschaft weiter, wenn man unterscheidet zwischen „ernsthafter“ Forschung auf dem Methodenniveau der damaligen Zeit und einer pseudowissenschaftlichen Methodik, die a priori keine verwertbaren Ergebnisse erwarten ließ? Oder muss man Wissenschaft doch anspruchsvoller definieren, als ein menschendienliches und die Menschenwürde respektierendes Unterfangen?
Solche Fragen wurden in den zwei Halbtagen aufgeworfen. Sie lassen sich in so kurzer Zeit nicht ausdiskutieren, auch nicht in zwei Wochen oder zwei Monaten. Die Assoziationen dieser Fragen reichen vom Postulat der Werturteilsfreiheit Max Webers über den Positivismusstreit in der deutschen Soziologie bis zur Starnberger Finalisierungsthese, also der Überzeugung, dass Wissenschaft nicht abschließend dadurch definiert ist, wie man empirisch gültiges Wissen produziert, mit dem Ziel von Aussagesystemen nach dem Hempel-Oppenheim-Schema, sondern dass Wissenschaft als Teil der menschlichen Kulturentwicklung grundsätzlich eine ethische Bindung hat. Auch zu den neueren Wissenschaftsdebatten rund um die Klimawissenschaft, die Risiken des Tabakkonsums oder Corona könnte man Wege bahnen. Ein weites Feld.
Die Tagung wird wie ihre Vorläufer dokumentiert, d.h. die Beiträge der Referent:innen werden irgendwann nachlesbar sein. Vermutlich wird der Band mit der den Historiker:innen eigenen Gründlichkeit erstellt und es wird etwas dauern. Aber das Warten dürfte sich lohnen.
———————-
Zum Weiterlesen:
• Blogbeitrag „Werte und Wissenschaft“
• Blogbeitrag „Wissenschaft? Erziehung? Erziehungswissenschaft?”
• Rupnow D et al. (Hrsg.) Pseudowissenschaft. Frankfurt 2008.
• Pethes N. et al. (Hrsg.) Menschenversuche. Frankfurt 2008.
• Bungard W. (Hrsg.) Die „gute“ Versuchsperson denkt nicht. München/Wien/Baltimore 1980.
• Maschewsky W. Das Experiment in der Psychologie. Frankfurt/New York 1977.
Kommentare (36)