Die November-Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ ist wieder einmal besonders lesenswert. Unter anderem wird darin das neue Buch von Timothy Snyder „Über Freiheit“ durch einen kurzen Textauszug vorgestellt.

Snyder plädiert dafür, Freiheit nicht nur negativ zu definieren:

„Ein Individuum ist frei, glauben wir, wenn die Regierung aus dem Weg ist. Negative Freiheit ist unser gängiges Verständnis. (…) Aber reicht die Beseitigung von etwas in der Welt aus, um uns frei zu machen? Ist es nicht mindestens genauso wichtig, Dinge hinzuzufügen? Wenn wir wirklich frei sein wollen, werden wir bejahen, nicht nur verneinen müssen.“

Von dieser Sicht aus, so Snyder, geraten auch Freiheit und Sicherheit in einen Gegensatz. Wenn man die Freiheit nur durch äußere Gefahren bedroht sieht, muss man insbesondere auf Sicherheit achten, und paradoxerweise dafür auch Freiheit einschränken.

Des Weiteren macht Snyder diesen halbierten Freiheitsbegriff für die falschen Hoffnungen nach dem Zerfall der Sowjetunion fest, es würde nun durch die freie, kapitalistische Wirtschaft von ganz alleine alles gut. Francis Fukuyama sah gar in einem hegelschen Geschichtsdeterminismus das „Ende der Geschichte“ gekommen, in einer Art Freihandelsdemokratie. Dem war bekanntlich nicht so, weder in den postsowjetischen Ländern noch sonst wo auf der Welt. Im Gegenteil erleben wir eine irritierende Renaissance des Autoritarismus weltweit. Hans Rosling würde seinen in „Factfulness“ ausgebreiteten Zukunftsoptimismus zumindest in dieser Hinsicht wohl gründlich überdenken müssen.

Snyder trifft mit seinen Beobachtungen einen richtigen Punkt. Ich weiß nicht, wie gut er mit der Freiheitsdiskussion in Deutschland vertraut ist. Letztlich kann man seine These als Paraphrasierung von „Böckenfördes Diktum“ sehen, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Böckenförde verweist – Säkularisierung hin oder her – auf die Bedeutung religiöser Traditionen, ähnlich wie neuerdings der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch „Demokratie braucht Religion“.

Dass „Freiheit von“ nicht reicht und es auch auf „Freiheit zu“ ankommt, und dazu wiederum nicht nur die Abwesenheit äußerer Zwänge, sondern auch die Verfügbarkeit von „sozialem Kapital“, von Werten, von Orientierungen an Menschenfreundlichkeit und Verantwortung, nötig ist, ist ein alter Topos der Freiheitsdebatte.

Das muss nicht unbedingt in religiöse Gefilde führen, aber es führt zur Frage, wer wir sind, was unsere Menschenwürde ausmacht und wie wir leben wollen. Wer arm ist, ist nicht frei. Wer jederzeit seine Wohnung oder seinen Arbeitsplatz verlieren kann, ist nicht frei. Wer nicht weiß, ob er für seine Kinder einen Kita-Platz bekommt oder für pflegebedürftige Angehörige einen Heimplatz, ist nicht frei. Die Freiheitsfrage ist eng mit der sozialen Frage verknüpft.

Lisa Herzog hat vor Jahren einmal ein instruktives Buch „Freiheit gehört nicht nur den Reichen“ geschrieben. Sie erläutert darin, wie das, was die Reichen als ihr individuelles Verdienst ansehen, von gesellschaftlichen Voraussetzungen abhängt, die von allen geschaffen werden. Es gibt eine Flut von guten Büchern, die in eine ähnliche Richtung gehen, von Sandel bis Skidelsky. Leider werden gerade die, die Anlass hätten, ihren Freiheitsbegriff zu überdenken, solche Bücher nicht lesen.

Einem Begriff von Freiheit als rücksichtslosem Egoismus huldigen nicht zufällig viele Superreiche. Sie sehen sich durch Ansprüche der Gesellschaft an ihre soziale Verantwortung in ihrer „Freiheit“ eingeschränkt und versuchen, dem zu entgehen, und sei es durch die Zerstörung jedweder staatlicher Ordnung. „Kapitalismus ohne Demokratie“ heißt ein Buch von Quinn Slobodian, das solche Strategien der Staatszerstörung beschreibt (das Buch gibt es übrigens neuerdings auch verbilligt im Programm der Bundeszentrale für politische Bildung).

Die aktuelle „Blätter“-Ausgabe schließt dazu passend mit einer Rezension des neuen Buchs „Grazy Rich“ von Julia Friedrichs, die seit langem die geheime Welt der Superreichen mit ihren Recherchen etwas aufzuhellen versucht.

Es sind aber nicht nur die Superreichen, die die negative Freiheit für die ganze Freiheit halten. Diese Denkweise ist weit verbreitet und sie verbreitet sich umso einfacher, je weniger die sprichwörtlichen „kleinen Leute“ im Alltag positive Erfahrungen mit Gestaltungsspielräumen und nur gemeinsam erreichbaren Dingen eines guten Lebens machen. Der Textauszug Snyders in den „Blättern“ endet so:

Die negative Freiheit „verleitet uns zu der Annahme, dass wir unsere Probleme gelöst haben, wenn wir sie privatisiert haben, während wir damit in Wirklichkeit nicht anderes erreichen, als uns voneinander zu trennen.“

Dass, wenn jeder an sich selbst denkt, an jeden gedacht ist, stimmt eben nicht. Das ist keine revolutionär neue Einsicht, aber man kann es in unseren Zeiten nicht oft genug wiederholen. Wie weit der negative Freiheitsbegriff auch hilft, die postsowjetischen Veränderungen in Russland besser zu verstehen und ob man Putin und Trump damit parallelisieren kann, wie Snyder meint, sei dahingestellt. Aber wir werden gewiss nicht freier leben, wenn die Trumps, Putins, Musks und Thiels dieser Welt ungehindert von Menschenrechten, Steuern, Umweltvorschriften und anderen lästigen Einschränkungen ihrer egomanen Freiheit tun und lassen können, was sie wollen.

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Netterweise wieder von Makroskop übernommen: https://makroskop.eu/uber-freiheit/

Kommentare (8)

  1. #1 M. Hahn
    1. November 2024

    Danke für die interessante Zusammenfassung und die Gedanken.
    Ich werde das jetzt nicht durch eigenes Laut-Denken verschönern. Aber ich habe das mal zum Anlass für ein Probeabo der “Blätter” genommen.

    • #2 Joseph Kuhn
      1. November 2024

      @ M. Hahn:

      Dann haben Sie jetzt die Freiheit zu einem Abo genutzt, was nicht daran hindert, im Falle des Falles die Freiheit von einem Abo zu nutzen. 😉

  2. #3 hto
    1. November 2024

    „Demokratie braucht Religion“ – Sicher, aber wenn sich die Religion weiter auf die falsche Interpretation der entsprechenden Philosophie konzentriert, dann ist Freiheit, wie bei den apokalyptischen Evangelikalen in den USA, weiter ein Begriff für den Verstand jenseits des vernunftbegabten Lebens.

  3. #4 Uli Schoppe
    3. November 2024

    @hto

    Das muss nicht unbedingt in religiöse Gefilde führen, aber es führt zur Frage, wer wir sind, was unsere Menschenwürde ausmacht und wie wir leben wollen.

    hast Du auch gelesen?

  4. #5 hto
    3. November 2024

    @Uli Schoppe

    Ja klar, ich bin schließlich auch kein religiöser Mensch, sondern ein Mensch der die Vernunft in Gott als Teil des Geistes / Zentralbewusstseins / der Schöpfung sieht, was für unkorrumpierbare Menschenwürde und Menschenrecht unverhandelbare Konsequenzen hat – Ich kann dann aber Religiosität mit dem Glauben an eine ordnende Person akzeptieren.

  5. #6 DH
    3. November 2024

    “Das ist keine revolutionär neue Einsicht, aber man kann es in unseren Zeiten nicht oft genug wiederholen”
    Wichtiger Punkt. Viele haben sich den Begriff der Freiheit madig machen lassen durch dessen neoliberale und idenditäre Verkürzungen.
    Das greifen sie dann zwar an, merken aber nicht, daß sie diesen destruktiven Kräften schon dadurch auf den Leim gehen daß sie deren Verkürzungen ungeprüft übernehmen.
    Tatsächlich gilt es die Deutungshoheit über den Inhalt und den Begriff des Liberalismus zurückzugewinnen, ein wesentlicher Aspekt ist, daß ” Die Freiheitsfrage (ist) eng mit der sozialen Frage verknüpft. ” ist.
    Statt Hartz vier und Co zu erfinden hätte etwa die FDP Sturm laufen müssen gegen solche Ideen.
    Auch aktuell zeigt Lindner daß er eher dem Freiheitsbegriff des Rechts des Stärkeren zuneigt, etwa bei seinem Eintreten für “die freie Wahl des Verkehrsmittels”, also Auto und Co.
    Tatsächlich gibt es auch ein Recht auf Freiheit von Dreck und Lärm, das höher zu bewerten ist- auch hier zeigt sich daß der real existierende Liberalismus in einer Art Entwicklungsstörung festhängt, ökologischer Liberalismus ist bislang noch Zukunftsmusik (in der FDP).
    Auffällig auch daß die laut schreienden Libertären- oder “Rechtsanarchisten”, wie die FAZ mal über die tea party geschrieben hat- hemmungslos auf den Staat zurückgreifen wenn es ihnen genehm ist, Stichworte Datensammelwut in den USA, eine dort mehrfach höhere Inhaftiertenquote, Bankenrettung oder auch die Hilfen bei Naturkatastrophen.

  6. #7 Staphylococcus rex
    4. November 2024

    Absolute Freiheit ist eine Illusion. Weder kann ich mich ungestraft über die Naturgesetze hinwegsetzen (wenn ich auf dem Dach eines Hauses stehe, muss ich auf dem Weg nach unten die Treppe oder den Fahrstuhl benutzen und kann nicht einfach springen), noch kann ich in einer menschlichen Gesellschaft ignorieren, dass die Durchsetzung meiner Interessen gleichzeitig die Interessen anderer Personen beeinträchtigt oder beschädigt. Das Zauberwort hier heißt Akzeptanz. Durch die Akzeptanz werden Regeln als normaler Bestandteil meiner Umwelt wahrgenommen und nicht mehr als erlebte Unfreiheit.

    Die Demokratie als besondere Form der menschlichen Gemeinschaft hat deshalb auch ihre Regeln, um stabil zu funktionieren. Eine der offensichtlichen Regeln ist das Mehrheitsprinzip, die Mehrheit bestimmt, wo es lang geht. Auch auf die Gefahr hin mich zu wiederholen, aber eine mindestens ebenso wichtige Regel ist die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidungen durch die betroffenen Minderheiten. Diese Aktzeptanz kann nur erreicht werden, wenn die Minderheiten in den Entscheidungsprozeß einbezogen werden und rote Linien respektiert werden.

    Religiöse Menschen haben einen besonderen Zugang zur Demokratie, durch die Akzeptanz ihrer religiösen Dogmen sind mit den Konzept der Akzeptanz vertraut. Das Problem dabei ist, wenn die Religionsführer ein Problem mit dem Konzept der Demokratie haben, dann hat es auch die ganze Gemeinde. Der bessere Weg ist deshalb die Akzeptanz des Regelwerks der Demokratie durch Aufklärung und Empathie zu erreichen.

    Gerade wenn man Diskussionen mit Anhängern populistischer Parteien führen muss, fällt auf, dass in dieser populistischen Blase Aufklärung und Empathie marginalisiert werden und deshalb die Akzeptanz des Regelwerks der Demokratie schwer beschädigt ist.

    PS: Der Reichtum der Superreichen wird geschaffen durch die Ausbeutung anderer Menschen (und der Natur). Wenn sich diese Superreichen einen eigenen Freiheitsbegriff erschaffen wollen, um sich ihrer Verantwortung für die menschliche Gesellschaft zu entledigen, dann ist dies in besonderer Weise verlogen.

  7. #8 Staphylococcus rex
    4. November 2024

    Kleine Ergänzung: Das Regelwerk der Demokratie sind keine Steintafeln, die vom Himmel gefallen sind, sondern das Regelwerk wird von den Menschen gemacht, die es akzeptieren und sich daran halten. Dabei fließen ethische und moralische Grundsätze ein, auch ist dieses Regelwerk über die Zeit hinweg wandelbar. Im alten Griechenland waren Frauen und Sklaven von der Demokratie ausgeschlossen, das Frauenwahlrecht hat es erst vor ca. 100 Jahren in der breiten Akzeptanz geschafft.

    Wenn man Freiheit als Handlungsspielräume versteht, dann kann man die Handlungsoptionen grob in drei Gruppen einordnen: Es gibt theoretische Handlungsoptionen, auf die man bewußt verzichtet, weil man das Regelwerk akzeptiert hat. Es gibt Handlungsoptionen, auf die man bewußt wegen der Angst vor Strafe verzichtet, obwohl man die Regeln nicht akzeptiert. Das ist wahrgenommene Unfreiheit. Und es gibt Handlungsspielräume, die man nutzen kann, das ist wahrnehmbare Freiheit. Wenn man Freiheit positiv definieren möchte, dann sind dies einerseits die verfügbaren Handlungsspielräume und andererseits das Verhältnis zwischen wahrgenommener Freiheit und wahrgenommener Unfreiheit.

    Geld verschafft Handlungsspielräume, aber das würde diesen Beitrag sprengen. Unabhängig vom Geld wird Freiheit von der Akzeptanz bestehender Regeln sowie von der Fähigkeit definiert, die vorhandenen Handlungsspielräume durch Wissen und Netzwerke wirklich ausnutzen zu können.