Die Geschichte des Verhältnisses zwischen Gesundheitsämtern und Politik ist keine gute Geschichte. Mit dem Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens hatten die Nazis 1934 einerseits eine einheitliche Rechtsgrundlage für die Gesundheitsämter geschaffen, andererseits die Gesundheitsämter zugleich auf Aufgaben der nationalsozialistischen Erb- und Rassenhygiene verpflichtet. In der Folge wurden die Gesundheitsämter zu Schaltstellen der nationalsozialistischen Medizinverbrechen, von den Zwangssterilisationen bis zum Krankenmord. Vor diesem Hintergrund wurden die bevölkerungsmedizinischen Befugnisse der Gesundheitsämter nach dem Krieg stark beschnitten, die Sozial- bzw. Bevölkerungsmedizin war als „Staatsmedizin“ insgesamt diskreditiert.
Mit der Rückkehr der Bevölkerungsmedizin unter dem englischen Label „Public Health“ nach Deutschland in den 1980er Jahren sind auch die Gesundheitsämter wieder stärker in den Blick geraten, wenn Themen wie die Gesundheitsberichterstattung, die Prävention oder die regionale Koordination von Akteuren im Gesundheitswesen diskutiert wurden. Man nahm die Gesundheitsämter wieder als offener als potentielle Mitgestalter „kommunaler Gesundheitslandschaften“ wahr. Das 2018 von der Gesundheitsministerkonferenz verabschiedete Leitbild für den ÖGD trägt als Untertitel die Formel „Public Health vor Ort“.
In der Coronakrise sind die Gesundheitsämter in einer seit Jahrzehnten nicht mehr gesehenen Weise hoheitlich in Erscheinung getreten. Sie haben zahlreiche Maßnahmen des Infektionsschutzes im öffentlichen Leben umgesetzt und überwacht, auch grundrechtseinschränkende Maßnahmen. Sie wurden damit auch mehr als vorher wieder als direkter Arm des Staates in Gesundheitsfragen wirksam und sichtbar. Dies hat die jahrelang weitgehend folgenlos geführte Diskussion um die Rolle der Gesundheitsämter bei Public Health-Aufgaben und ihre Befähigung dazu politisch virulent werden lassen. Eine unmittelbare Folge war der „Pakt für den ÖGD“, der eine personelle und technische Stärkung des ÖGD vorsieht, ausgestattet mit 4 Mrd. Euro bis Ende 2026, über die Fortsetzung des Pakts wird noch verhandelt. Des Weiteren sollte ein neues Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit eingerichtet werden, seine Zukunft ist durch den Zerfall der Ampel-Koalition derzeit offen.
Ebenfalls auf der politischen Agenda stehen Forderungen nach einer gesellschaftlichen „Aufarbeitung“ der Coronapolitik, einschließlich der Arbeit und Funktionsweise der Gesundheitsämter in der Coronakrise. Eine Autorengruppe aus der Deutschen Gesellschaft für Öffentliche Gesundheit und Bevölkerungsmedizin, einer der beiden neuen Fachgesellschaften des ÖGD, hat nun in zwei Artikeln explizit die Frage nach der politischen Steuerung der Gesundheitsämter und der ärztlichen Unabhängigkeit der Amtsärzte aufgeworfen und dabei auch an die unselige Vergangenheit der Gesundheitsämter erinnert.
Am 27.11.2024 haben Nicolai Savaskan und Peter Tinnemann in der ZEIT einen Kommentar unter der Überschrift „Haltet die Politik raus aus den Gesundheitsämtern!“ veröffentlicht, heute haben Alexandra Roth und René Gottschalk mit Frank Kunitz und Nicolai Savaskan als Mitautoren im Tagesspiegel Background unter der Überschrift „Gesundheitsämter vor politischer Polarisierung schützen“ dieses Anliegen noch einmal vorgebracht.
Die beiden Artikel eröffnen eine wichtige Diskussion, zentrale Punkte daraus sollen im Folgenden kurz kommentiert werden.
Aus dem ZEIT-Artikel:
„Die gegenwärtige politische Kultur und der Einfluss autoritär-populistischer Strömungen üben jedoch Druck auf aktuelle Debatten und auf Entscheidungen von Ärztinnen und Ärzten aus. So steht die Einflussnahme des Bundesgesundheitsministeriums auf die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts gerade im öffentlichen Diskurs.“
Die wissenschaftliche Unabhängigkeit des Robert Koch-Instituts zu sichern, war ein Auftrag aus dem Koalitionsvertrag der Ampel. Bei dem geplanten neuen Bundesinstitut stellt sich die gleiche Aufgabe, darauf haben nicht nur die Public Health-Fachgesellschaften wiederholt hingewiesen. Das bisher beim RKI angesiedelte „Datengeschäft“ des Gesundheitsmonitorings und der Gesundheitsberichterstattung sollte, wenn es denn an das neue Bundesinstitut verlagert wird, nicht noch ministeriumsnäher sein, sondern ebenfalls wissenschaftlich unabhängig.
„Damit das Vertrauen der Bürgerinnen in die ärztliche Arbeit der Gesundheitsämter gesichert wird, sollten Strukturen in der öffentlichen Verwaltung überdacht werden. Ziel müssen der gesundheitliche Schutz und die Förderung aller Menschen (…) sein. Dafür ist die Sicherstellung der ärztlichen Unabhängigkeit Voraussetzung. Universitätskliniken wurden nach intensiven politischen Diskussionen und der Empfehlung des Wissenschaftsrats in selbstverwaltete Körperschaften des öffentlichen Rechts überführt. Diese Entwicklung hat die organisatorische Unabhängigkeit vor politischer Einflussnahme gestärkt, ohne dass dabei demokratische Prinzipien beeinträchtigt wurden.“
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