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Die Geschichte des Verhältnisses zwischen Gesundheitsämtern und Politik ist keine gute Geschichte. Mit dem Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens hatten die Nazis 1934 einerseits eine einheitliche Rechtsgrundlage für die Gesundheitsämter geschaffen, andererseits die Gesundheitsämter zugleich auf Aufgaben der nationalsozialistischen Erb- und Rassenhygiene verpflichtet. In der Folge wurden die Gesundheitsämter zu Schaltstellen der nationalsozialistischen Medizinverbrechen, von den Zwangssterilisationen bis zum Krankenmord. Vor diesem Hintergrund wurden die bevölkerungsmedizinischen Befugnisse der Gesundheitsämter nach dem Krieg stark beschnitten, die Sozial- bzw. Bevölkerungsmedizin war als „Staatsmedizin“ insgesamt diskreditiert.

Mit der Rückkehr der Bevölkerungsmedizin unter dem englischen Label „Public Health“ nach Deutschland in den 1980er Jahren sind auch die Gesundheitsämter wieder stärker in den Blick geraten, wenn Themen wie die Gesundheitsberichterstattung, die Prävention oder die regionale Koordination von Akteuren im Gesundheitswesen diskutiert wurden. Man nahm die Gesundheitsämter wieder als offener als potentielle Mitgestalter „kommunaler Gesundheitslandschaften“ wahr. Das 2018 von der Gesundheitsministerkonferenz verabschiedete Leitbild für den ÖGD trägt als Untertitel die Formel „Public Health vor Ort“.

In der Coronakrise sind die Gesundheitsämter in einer seit Jahrzehnten nicht mehr gesehenen Weise hoheitlich in Erscheinung getreten. Sie haben zahlreiche Maßnahmen des Infektionsschutzes im öffentlichen Leben umgesetzt und überwacht, auch grundrechtseinschränkende Maßnahmen. Sie wurden damit auch mehr als vorher wieder als direkter Arm des Staates in Gesundheitsfragen wirksam und sichtbar. Dies hat die jahrelang weitgehend folgenlos geführte Diskussion um die Rolle der Gesundheitsämter bei Public Health-Aufgaben und ihre Befähigung dazu politisch virulent werden lassen. Eine unmittelbare Folge war der „Pakt für den ÖGD“, der eine personelle und technische Stärkung des ÖGD vorsieht, ausgestattet mit 4 Mrd. Euro bis Ende 2026, über die Fortsetzung des Pakts wird noch verhandelt. Des Weiteren sollte ein neues Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit eingerichtet werden, seine Zukunft ist durch den Zerfall der Ampel-Koalition derzeit offen.

Ebenfalls auf der politischen Agenda stehen Forderungen nach einer gesellschaftlichen „Aufarbeitung“ der Coronapolitik, einschließlich der Arbeit und Funktionsweise der Gesundheitsämter in der Coronakrise. Eine Autorengruppe aus der Deutschen Gesellschaft für Öffentliche Gesundheit und Bevölkerungsmedizin, einer der beiden neuen Fachgesellschaften des ÖGD, hat nun in zwei Artikeln explizit die Frage nach der politischen Steuerung der Gesundheitsämter und der ärztlichen Unabhängigkeit der Amtsärzte aufgeworfen und dabei auch an die unselige Vergangenheit der Gesundheitsämter erinnert.

Am 27.11.2024 haben Nicolai Savaskan und Peter Tinnemann in der ZEIT einen Kommentar unter der Überschrift „Haltet die Politik raus aus den Gesundheitsämtern!“ veröffentlicht, heute haben Alexandra Roth und René Gottschalk mit Frank Kunitz und Nicolai Savaskan als Mitautoren im Tagesspiegel Background unter der Überschrift „Gesundheitsämter vor politischer Polarisierung schützen“ dieses Anliegen noch einmal vorgebracht.

Die beiden Artikel eröffnen eine wichtige Diskussion, zentrale Punkte daraus sollen im Folgenden kurz kommentiert werden.

Aus dem ZEIT-Artikel:

„Die gegenwärtige politische Kultur und der Einfluss autoritär-populistischer Strömungen üben jedoch Druck auf aktuelle Debatten und auf Entscheidungen von Ärztinnen und Ärzten aus. So steht die Einflussnahme des Bundesgesundheitsministeriums auf die Empfehlungen des Robert Koch-Instituts gerade im öffentlichen Diskurs.“

Die wissenschaftliche Unabhängigkeit des Robert Koch-Instituts zu sichern, war ein Auftrag aus dem Koalitionsvertrag der Ampel. Bei dem geplanten neuen Bundesinstitut stellt sich die gleiche Aufgabe, darauf haben nicht nur die Public Health-Fachgesellschaften wiederholt hingewiesen. Das bisher beim RKI angesiedelte „Datengeschäft“ des Gesundheitsmonitorings und der Gesundheitsberichterstattung sollte, wenn es denn an das neue Bundesinstitut verlagert wird, nicht noch ministeriumsnäher sein, sondern ebenfalls wissenschaftlich unabhängig.

„Damit das Vertrauen der Bürgerinnen in die ärztliche Arbeit der Gesundheitsämter gesichert wird, sollten Strukturen in der öffentlichen Verwaltung überdacht werden. Ziel müssen der gesundheitliche Schutz und die Förderung aller Menschen (…) sein. Dafür ist die Sicherstellung der ärztlichen Unabhängigkeit Voraussetzung. Universitätskliniken wurden nach intensiven politischen Diskussionen und der Empfehlung des Wissenschaftsrats in selbstverwaltete Körperschaften des öffentlichen Rechts überführt. Diese Entwicklung hat die organisatorische Unabhängigkeit vor politischer Einflussnahme gestärkt, ohne dass dabei demokratische Prinzipien beeinträchtigt wurden.“

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Kommentare (17)

  1. #1 N
    4. Dezember 2024

    Eine gute Lösung, die sich schon bei den Landesversicherungsanstalten bewährt hat, die Rechtststellung der Gesundheitsämter als selbstverwaltete Körperschaften des öffentlichen Rechts.
    https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6rperschaft_des_%C3%B6ffentlichen_Rechts_(Deutschland)

    • #2 Joseph Kuhn
      4. Dezember 2024

      @ N:

      Landesversicherungsanstalten (wie auch die gesetzlichen Krankenkassen oder die öffentlichen Unfallversicherungsträger) funktionieren ganz gut als selbstverwaltete Körperschaften des öffentlichen Rechts mit staatlicher Aufsicht. Die großen Religionsgemeinschaften sind übrigens auch so organisiert.

      Ob das bei Gesundheitsämtern auch ginge, wäre gründlich zu überlegen.

      Wie finanzieren sich die Gesundheitsämter dann, ziehen sie eigene Steuern oder Beiträge ein, in jeder Region anders, wer wären die Steuer- oder Beitragspflichtigen?

      Könnte man dann analog auch Finanzämter so organisieren? Jugendämter? Sozialämter? Ordnungsämter? Braucht man überhaupt eine Kommunalverwaltung? Würde es vielleicht sogar auch ein privates TÜV-Modell tun? Warum nicht auch die Landes- und Bundesverwaltung so aufbauen? Oder soll die Körperschaftslösung für ärztlich geleitete Einrichtungen reserviert sein, weil Ärzt:innen durch das Berufsrecht immer auf dem rechten Weg bleiben, Erfahrungen vor 1945 hin oder her?

      Verliert der Staat bei einer Körperschaftslösung notwendige oder auch nur wünschenswerte gesundheitspolitische Handlungsmöglichkeiten? Umgekehrt gedacht: Sind politische Einflussnahmen bei der Körperschaftslösung wirklich ausgeschlossen, vor allem, wenn Extremisten an die Macht kommen, worauf die Autor:innen abheben?

      Da Sie die Körperschaft öffentlichen Rechts als “gute Lösung” bewerten, haben Sie das sicher alles durchdacht, juristisch, verwaltungswissenschaftlich, und nachvollziehbar irgendwo niedergeschrieben? Bitte die Zeitschrift samt Link angeben.

  2. #3 Richard
    5. Dezember 2024

    ich halte dieses Ziel für unrealistisch, worauf auch die von Herrn Kuhn aufgeworfenen Fragen hinweisen. Die Gesundheitsämter sind in eine Verwaltungsstruktur eingebunden, was auch Vorteile mit sich bringt, z.B. Unterbringung, Ausstattung, IT , Personalverwaltung etc.
    Der Wunsch nach mehr Unabhängigkeit und geringere politische Einflussnahme mag mit den persönlichen Erfahrungen insbesondere eines der Autoren (geschlechtsneutral) zusammenhängen, wird von mir aber nicht als generelles und großes Problem wahrgenommen. Eher der Eindruck, dass Juristen auf allen Ebenen immer größere Bedeutung haben, was die fachliche Arbeit nicht unbedingt erleichtert… Das dürfte sich auch bei einer anderen Organisationsstruktur wohl nicht ändern.

  3. #4 N
    5. Dezember 2024

    zu #2
    Das Durcheinander bei Corona war auch dem Föderalismus geschuldet.
    Als Körperschaft des öffentlichen Rechts kann man die Gesundheitsämter dem Bund direkt unterstellen.
    Ob die Länder zustimmen bleibt ungewiss.
    Darum geht es, mehr Zentralismus.
    Was die Finanzierung betrifft, da könnte man ja bei der AfD nachfragen, die haben bestimmt schon ein Konzept.

    • #5 Joseph Kuhn
      5. Dezember 2024

      @ N:

      “Als Körperschaft des öffentlichen Rechts kann man die Gesundheitsämter dem Bund direkt unterstellen.”

      Das Grundgesetz sieht das anders.

  4. #6 RGS
    5. Dezember 2024

    @Joseph Kuhn
    Vielen Dank für den Hinweis auf diese wichtige Diskussion.

    Kürzlich, am 19.11. gab es eine Veranstaltung im Gesundheitsamt Frankfurt zu dem Thema an dem zwei der Autoren aus Frankfurt teilgenommen haben:
    “Wird Populismus zur Gefahr für die Gesundheit? –
    Resilienz stärken: Was das Gesundheitsamt aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen sollte:
    https://frankfurt.de/service-und-rathaus/verwaltung/aemter-und-institutionen/gesundheitsamt/resilienz

    Ob uns die Wissenschaften künftig vor der Barbarei schützen werden, ist eine offene Frage.

    Die Rassenhygiene und Erbbiologie vor 1945 und auch noch danach huldigte weltweit dem NS-Staat, dass er den Stand der Wissenschaft direkt in politisches Handeln umsetzte.

    Das sage nicht ich, sondern das wies der Humangenetiker Prof. Benno Müller-Hill in seinem Buch “Tödliche Wissenschaft” in den 1980er Jahren nach, in dem er seine Forschungsergebnisse zur Geschichte seines Faches der Humangenetik im NS niederschrieb:
    Zitiert aus einem Artikel zu dem Thema von Müller-Hill aus der Zeit von 1984:
    “Was habe ich gefunden? Die wahre Geschichte der Humangenetik wurde in allen ihren Aspekten mit größter Intensität verdrängt. Und ich habe gefunden, daß es normale Wissenschaft war:”

    (“Es ist ein besonderes und seltenes Glück für eine an sich theoretische Forschung, wenn sie in eine Zeit fällt, wo die allgemeine Weltanschauung ihr anerkennend entgegenkommt, ja, wo sogar ihre praktischen Ergebnisse sofort als Unterlage staatlicher Maßnahmen willkommen sind. Als vor Jahren der Nationalsozialismus nicht nur den Staat, sondern auch unsere Weltanschauung umformte, war die menschliche Erblehre gerade reif genug, Unterlagen zu bieten. Nicht als ob jener eine ,wissenschaftliche’ Unterbauung nötig gehabt hätte als Beweis für seine Richtigkeit – Weltanschauungen werden erlebt und erkämpft, nicht mühsam unterbaut –, aber für wichtige Gesetze und Maßregeln waren die Ergebnisse der menschlichen Erblehre als Unterlagen im neuen Staat gar nicht zu entbehren!”)

    “So schrieb Professor Eugen Fischer am 28. 3. 1943 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Professor Fischer war nicht irgendwer – er war der gerade emeritierte Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik und emeritierter ordentlicher Professor für Anthropologie an der Universität zu Berlin. Er litt auch nicht an Altersschwache! Er hat bis zu seinem Tode im Jahr 1967 wissenschaftlich publiziert.”
    https://www.zeit.de/1984/29/toedliche-wissenschaft/komplettansicht

    Dies nur als Hinweis darauf, dass man heute hoffentlich mit der Parole “Follow the Science” vor der Barbarei gefeit ist. Das Zusammenwirken der Rassenhygiene und Erbbiologie und des NS-Staats ist jedoch ein Gegenbeispiel aus der Vergangenheit.

    Welche Sicherheiten lassen sich also heute noch einbauen neben der unerlässlichen wissenschaftlichen Evidenz immer mit internationaler Diskussion und Transparenz?

    • #7 Joseph Kuhn
      5. Dezember 2024

      @ RGS:

      “Ob uns die Wissenschaften künftig vor der Barbarei schützen werden, ist eine offene Frage.”

      In der Tat. Die “Dialektik der Aufklärung” ist nach wie vor virulent, von neuen Überwachungstechnologien bis zur Gain-of-funktions-Forschung.

      “Dies nur als Hinweis darauf, dass man heute hoffentlich mit der Parole “Follow the Science” vor der Barbarei gefeit ist.”

      Damit gerade nicht. Entscheidungen darüber, wie wir leben wollen, welchen Stellenwert die Menschenwürde im Alltag hat, ob wir Demokratie oder kapitalistische Effizienz priorisieren usw., das sind keine wissenschaftlichen Fragen.

      “Welche Sicherheiten lassen sich also heute noch einbauen neben der unerlässlichen wissenschaftlichen Evidenz immer mit internationaler Diskussion und Transparenz?”

      Konkret beim ÖGD: Wie gesagt, ein Ethikkodex wäre eine Hilfe. Ethik als Teil der Weiterbildung auch. Medizinhistorische und -ethische Fragen regelmäßig auf Tagungen platzieren auch. Garantien gibt es nicht.

  5. #8 RGS
    5. Dezember 2024

    @Joseph Kuhn
    ich stimme allem zu. Mit dem Verweis auf die Parole Follow the Science wollte ich drauf hinweisen, dass die Wissenschaften heute hoffentlich kritischer begleitet werden als zur Zeit der Rassenhygiene und Erbbiologie.

    Ethik als Teil der Weiterbildung und medizinhistorische und -ethische Fragen regelmäßig auf Tagungen zu platzieren finde ich gut.
    Der Arztberuf und der Hypokratische Eid und alle ethischen Regeln, die es damals gab, haben bei den Erbärzten im NS nichts genutzt um das Abgleiten in die Barbarei zu verhindern. Die Wissenschaft hat die Barbarei gefordert.

    • #9 Joseph Kuhn
      5. Dezember 2024

      @ RGS:

      “Der Arztberuf und der Hypokratische Eid und alle ethischen Regeln, die es damals gab, haben bei den Erbärzten im NS nichts genutzt um das Abgleiten in die Barbarei zu verhindern.”

      Zumindest bei einem großen Teil der Ärzte nicht. Ethik wurde teilweise umgedeutet, siehe z.B. die Dissertation von Florian Bruns “Medizinethik im Nationalsozialismus“. Manches ist schwer nachvollziehbar. Der SS-Mörder Mrugowsky hat ein Buch “Das ärztliche Ethos” veröffentlicht. Es beginnt mit den Worten “Der Auftrag an den Arzt ist zu allen Zeiten derselbe gewesen. kranke Menschen gesund zu machen und sie leistungsfähig dem Leben wiederzugeben.” Und später beschreibt er im gleichen Buch als “Grundgesetz für alle Verhältnisse des Arztes” in gesperrt hervorgehobener Schrift das: “Richte alle deine Handlungen so ein, daß dadurch der höchste Zweck deines Berufes, Erhaltung des Lebens, Wiederherstellung der Gesundheit und Milderung des Leiden Anderer, aufs möglichste erreicht werde.” Dieses Grundgesetz bekräftigt er anschließend noch einmal: “Diese Regel muss uns immer lebendig vorschweben (…).”

  6. #10 RGS
    5. Dezember 2024

    Ich denke dass Mugrowsky und viele andere in Deutschland damals das sehr einfach hinbekommen haben: Es gab einfach Menschen, denen das Menschsein abgesprochen wurde. Damit konnte man mit ihnen machen was man wollte.
    Die in seinem Buch genannten ethischen Regeln galten für sie nicht mehr.

    • #11 Joseph Kuhn
      5. Dezember 2024

      @ RGS:

      Ja, das wird eine Form der Rechtfertigung gewesen sein. Eine andere die, die im Wort “Euthanasie” zum Ausdruck kommt, dass man Menschen von ihrem Leid erlösen wollte, also “tödliches Mitleid”, wie Klaus Dörner ein Buch betitelt hat, und wieder andere hatten die angeblich untragbaren Kosten im Kopf, so schon Binding/Hoche 1920 in ihrem Buch “Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens”, oder die Gesundheit des “Volkskörpers”, und es wird noch andere Rechtfertigungsgründe bzw. ein Miteinander solcher Motive geben. Binding/Hoche haben z.B. von “Ballastexistenzen” gesprochen, da verbinden sich ökonomische Motive mit der Enthumanisierung von Menschen, eine Verbindung, die übrigens in manchen radikallibertären Milieus auch da ist.

  7. #12 RGS
    5. Dezember 2024

    @Joseph Kuhn
    Ja, diese “Rechtfertigungen” gab es auch alle, die dabei halfen das Töten von Menschen zu normalisieren.

    Das Thema Gesundheitsämter und Politik ist ja etwas enger als das was mit Public Health gemeint ist. Mir ging gerade die Ottawa Charta für Gesundheitsförderung von 1968 durch den Kopf und ich möchte hier ein Interview mit Ilona Kickbusch vom September 2020 verlinken, die den Bogen spannt, worum es dabei geht.

    Co-Produktion von Gesundheit und Wellbeing-Ökonomie sind nach ihrer Meinung die aktuell zentralen Begriffe, für die die Politik und auch der ÖGD zu gewinnen wären.

    Da bin ich allerdings skeptisch, ob der ÖGD da dabei ist, wenn ich lese, dass Gesundheitsämter nur von Ärzten geleitet werden sollten. Dass im ÖGD noch viel passieren muss kann man auch anekdotisch daran sehen, dass immer wieder in Veröffentlichungen selbst aus dem Fachverband des ÖGD von den Ärzten und den “nichtmedizinischen” Berufen an ihrer Seite die Rede ist. Da scheint mir noch ein weiter Weg zu gehen sein, bis es dahin kommt, wie Sie schreiben:

    “Public Health ist aber eine Multidisziplin, zu der z.B. auch die Demografie, die Gesundheitssoziologie, die Gesundheitspsychologie, die Gesundheitsgeografie, die Rechtswissenschaften oder – ganz wesentlich mit Blick auf das Personal in den Gesundheitsämtern – auch die Sozialpädagogik gehören.”

    Hier der Link zu dem Interview mit Prof. Dr. Dr. (mult.) Ilona Kickbusch:
    https://bvpraevention.de/cms/index.asp?inst=newbv&snr=13149&t=„Jetzt+ist+es+wichtig+zu+sagen:+Wir+schaffen+in+Deutschland+das+modernste+Öffentliche+Gesundheitswesen+der+Welt!“

  8. #13 N
    6. Dezember 2024

    XXX

    [Edit: Kommentar gelöscht. Das Nonsenslimit dieser Woche ist erreicht. JK]

  9. #14 Joseph Kuhn
    17. Januar 2025

    Nachschlag

    Peter Tinnemann und Nicolai Savaskan haben noch einmal für ein stärkere Koordination in der Gesundheitspolitik plädiert, diesmal mit Jens Holst zusammen und in der Berliner Zeitung:

    “Deutschland braucht eine klare Vision für die Zukunft der Bevölkerungsgesundheit und eine Perspektive für gesundheitliches Wohlergehen aller Menschen in diesem Land.”

    Dem ist so, die konkreten Wege wären dann zu diskutieren.

  10. #15 Joseph Kuhn
    18. Februar 2025

    Nachschlag zum Nachschlag

    Savaskan, Roth, Kunitz und Gottschalk haben ihr Anliegen jetzt auch noch einmal in der Zeitschrift Gesundheitswesen vorgebracht.

    Ihre Argumente sind im Wesentlichen die gleichen wie in ihren anderen Publikationen, insofern ist dazu das Wesentliche auch schon mit dem Blogbeitrag oben gesagt. Lediglich auf ein paar einzelne Punkte des Artikels im “Gesundheitswesen” soll hier eingegangen werden:

    1. Auf Seite 87 heißt es:

    “In der Pandemiezeit sind laut einer Studie knapp die Hälfte aller ärztlichen Leitungen entfernt worden [5].”

    Die Literaturreferenz [5] ist kein peer reviewter Artikel, sondern ein kurzes Kongressabstract. Da steht:

    “Besondere Aufmerksamkeit verdient der Wechsel von knapp der Hälfte der Amtsleitungen in der Stichprobe über einen Zeitraum von 2,5 Jahren, was weit über der demografisch erwartbaren Fluktuation liegt.”

    “Wechsel” und “wurden entfernt” sind nicht dasselbe. Die Autoren interpretieren hier die Aussage des Kongressabstracts in einer Weise, die zumindest aus der Quelle nicht nachvollziehbar ist.

    2. Ebenfalls auf S. 87 heißt es:

    “Mit den RKI Protokollen wird der Verdacht genährt, dass die Gubernative durch ihren Zugriff auf Gesundheitsverwaltungen eine „Epistemisierung des Politischen“, d. h. eine „bestellte Expertise“ erwirkt, um gewünschte Entscheidungen als fachlich unzweifelhaft oder gar alternativlos dazustellen [7].”

    Referenz [7] ist das hier im Blog vor einiger Zeit vorgestellte Buch von Alexander Bogner. Allerdings nährt das Zitat den Verdacht, dass die Autoren nur den Titel gelesen haben, denn eigentlich beschrieben sie eher die “Politisierierung des Epistemischen” als eine “Epistemisierung des Politischen”. Dass es zwischen beidem fließende Übergänge gibt, sei allerdings eingeräumt.

    3. Auf S. 88 steht:

    “Während der Corona-Pandemie wurden die historisch bedingten Defizite in Gesundheitsbehörden sichtbar. (…) Gleichzeitig haben sich gesundheitliche Ungleichheiten in Deutschland verschärft, erhöhte Sterblichkeiten und kürzere Lebenserwartungen von mehr als acht Jahren bestehen in benachteiligten Gruppen [20].”

    Das liest sich so, als ob die Pandemie wesentlich zu den 8 Jahren Unterschieden in der Lebenserwartung der Sozialstatusgruppen geführt habe. Referenz [20] ist ein Artikel aus dem Bundesgesundheitsblatt, der die soziale Sterblichkeitsunterschiede zwischen 1998 und 2021 untersucht. Die Autoren dieses Artikels schreiben:

    “Im Zeitverlauf weiteten sich die regionalen sozioökonomischen Mortalitätsungleichheiten aus, was sich schon vor der COVID-19-Pandemie abzeichnete und sich in der Pandemie noch weiter verschärfte.”

    Die Pandemie hat den sozialen Gradienten der Sterblichkeit erhöht, aber die relevanten Unterschiede bestanden schon vorher.

    4. Auf S. 88/89 schlagen Savaskan et al. vor:

    “Als Blueprint für die öffentlichen Verwaltung könnte das ‚Königsberger System‘ von Hans Lohmeyer und Carl-Friedrich Goerdeler zur Anwendung kommen”.

    Möglicherweise haben Savaskan et al. auch hier die Quelle nicht hinreichend geprüft. Bei diesem “Königsberger System” geht es zwar um mehr Abstand kommunaler Dienste zum Staat, aber in Form von Betrieben, um im Wettbewerb Dienstleistungen zu erbringen. Das mag Merz & Lindner gefallen, aber ob man ausgerechnet Gesundheitsämter “auf den Markt” bringen sollte? Savaskan et al. werden einwenden, ihr konkreter Vorschlag sei ja der der Körperschaft des Öffentlichen Rechts. Aber dann sollten sie auch diese Rechtsform konkret auf ihre Eignung für die Gesundheitsämter prüfen. Das ist dann vielleicht keine ärztliche Aufgabe.

    Das Grundanliegen der Autor:innen, ärztliche Verantwortung zu stärken, gerade in Zeiten hohen politischen Drucks, ist vorbehaltlos zu unterstützen. Das gälte aber auch für die Verantwortung jeder anderen Profession im ÖGD und in der Verwaltung. Man wird den Eindruck nicht los, dass die Autorengruppe berufsständische, politische, verwaltungsorganisatorische und ethische Aspekte nicht sorgfältig genug voneinander trennt. Möge es ihrem Grundliegen nicht schaden.

  11. #16 Richard
    19. Februar 2025

    #15: die Veröffentlichung von Savaskan et al. ruft bei mir ein ungutes Gefühl hervor, da die persönlichen Erfahrungen des Hauptautors m.E. eigentlich als “conflict of interest” offengelegt werden sollten. Der Hintergrund kann durch eine einfache Websuche eruiert werden. Die Verhältnisse, insbesondere die beklagte politische Einflussnahme, sind nicht überall so, im Hinblick auf die Entwicklung in den USA – Auflösung von Behörden, Entlassungen, Forschungs- und Denkverbote etc.- dürfen wir dankbar sein, dass wir hier leben….

    • #17 Joseph Kuhn
      19. Februar 2025

      @ Richard:

      Ich denke, sie sehen da keinen Interessenskonflikt. Deswegen entgeht ihnen auch die etwas paradoxe Situation, dass sie einerseits eine Epistemisierung des Politischen beklagen und andererseits erkennbar Sachargumente in den Dienst berufspolitischer Interessen stellen.