Hier wäre zu diskutieren, ob Gesundheitsämter wirklich mit Universitätskliniken gleichzusetzen sind. Gesundheitsämter sollen zwar in ihrer Wissenschaftlichkeit gestärkt werden, das fordert auch das Leitbild für den ÖGD, auch darin sind sich alle Fachgesellschaften einig, aber sie sind keine wissenschaftlichen Einrichtungen, sondern Vollzugsbehörden.
„Ärztliche Maßstäbe sollten darüber bestimmen, wie Bevölkerungsmedizin auszusehen hat.“
Der deutsche Terminus „Bevölkerungsmedizin“ suggeriert eine in der Sache nicht zutreffende Zuordnung von Public Health zur Medizin. Public Health ist aber eine Multidisziplin, zu der z.B. auch die Demografie, die Gesundheitssoziologie, die Gesundheitspsychologie, die Gesundheitsgeografie, die Rechtswissenschaften oder – ganz wesentlich mit Blick auf das Personal in den Gesundheitsämtern – auch die Sozialpädagogik gehören. „Ärztliche Maßstäbe“ können somit schon von der wissenschaftlichen Breite des Fachs her nicht darüber bestimmen, was Public Health ist. Des Weiteren sind die Gesundheitsämter als Teil der öffentlichen Verwaltung per se auch anderen Normen als nur „ärztlichen Maßstäben“ verpflichtet. Hier kommt m.E. ein verkürztes Verständnis der Aufgaben der Gesundheitsämter zum Ausdruck.
Aus dem Tagesspiegel Background:
Es „[] wirkt eine schleichende parteiische Einflussnahme auf Wissenschaft und Gesundheitsbehörden ein. Neben dem Problem der Aufweichung der Gewaltenteilung stellt sich die Frage, wie viel Fachlichkeit und Autonomie noch bleibt, wenn politische Interessen zunehmend wissenschaftliche Entscheidungen lenken. Ein Exempel sind die vielen Interventionen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) auf die Risikoeinschätzungen des Robert Koch-Instituts (RKI) – und das gerade vor dem Hintergrund eines Gesundheitsministers, der für eine sogenannte ‚evidenz-geleitete‘ Gesundheitspolitik eintrat.
Wie gut sind also Gesundheitsämter gegen politische Polarisierung und Einflussnahme gewappnet?“
Dieser Punkt wiederholt die grundsätzliche Positionierung aus der ZEIT und auch hier wäre anzumerken, dass die Gesundheitsämter nicht umstandslos als wissenschaftliche Einrichtungen gelten können. Beim Robert Koch-Institut handelt es sich immerhin um eine Ressortforschungseinrichtung und hier stellt sich in der Tat die Frage der wissenschaftlichen Unabhängigkeit – in der für die Ressortforschung spezifischen Eigenheit.
„Bereits kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden die Gesundheitsämter gleichgeschaltet und einer zentralen Struktur überführt, die bis heute noch besteht. Nicht wenige Amtsärzte verstanden sich als Hüter der Volksgesundheit und leisteten einen unentschuldbaren Beitrag zur Umsetzung der NS-Ideologie – eine geschichtliche Last, die bis heute wenig in Gesundheitsämtern reflektiert und erinnert wird.“
Die „zentrale Struktur“ des Vereinheitlichungsgesetzes besteht nicht mehr. Der ÖGD ist Gegenstand der Gesundheitsdienstgesetze der Länder, die erhebliche Unterschiede aufweisen. In den meisten Ländern sind die Gesundheitsämter zudem kommunalisiert, nur wenige, z.B. Bayern, haben noch staatliche Gesundheitsämter und auch diese unterstehen nicht dem Bundesgesundheitsministerium. Inwiefern die historische Last in den Gesundheitsämtern zu wenig reflektiert wird, ist eine empirische Frage, das wäre eine organisationssoziologische Studie wert.
„In mehreren Gesundheitsämtern, darunter Hannover, Düsseldorf und Dresden, wurden ärztliche Leitungen während der Pandemie abgesetzt oder ausgetauscht. In einzelnen Ländern wie Sachsen, Hessen oder Bremen wurden die Gesundheitsdienstgesetze soweit verändert, dass für die Leitung beziehungsweise Stellvertretungen keine medizinische Qualifikation mehr erforderlich ist. Das bedeutet, dass einige Gesundheitsämter, die nach dem Bundesinfektionsschutzgesetz als medizinische Einrichtungen vergleichbar zu Krankenhäusern gelten, nicht mehr von Ärzt*innen sondern von Fachfremden Jurist*innen oder Verwaltungswirt*innen geleitet werden.“
Das sog. „Amtsarztprivileg“, dass Gesundheitsämter nur von Ärzt:innen geleitet werden sollen, ist seit einiger Zeit brüchig. Es tradiert aus der Vergangenheit der Gesundheitsämter im Landgerichtsarzt- und Kreisarztwesen. Ob es in großen Gesundheitsämtern noch zeitgemäß ist, oder ob hier eine ärztliche Leitung nur in ärztlichen Aufgabenbereichen nötig ist, wäre zu diskutieren. Hier müssten fachliche Argumente und berufsständische Interessen auseinandergehalten werden.
„Solche Hilfskonstrukte stehen tatsächlich in Konflikt mit der ärztlichen Berufsordnung, die eine Weisungsunabhängigkeit von Ärzt*innen vorsieht.“
Die ärztlichen Berufsordnungen sehen diese Weisungsunabhängigkeit bei ärztlichen Entscheidungen vor, nicht bei allen Entscheidungen im Gesundheitsamt, auch nicht bei allen Public Health-Entscheidungen.
„Parteiische Eingriffe auf ärztliche Entscheidungen sind nicht demokratisch legitimiert und befeuern die Polarisierung sogar noch. Vor dem Hintergrund des Wahlausgangs in Thüringen, Sachsen und Brandenburg sehen wir spätestens jetzt einen dringenden Handlungsbedarf für die öffentliche Gesundheit.
Ziel muss sein, die Unabhängigkeit der Ärzt*innen in den Gesundheitsämtern nicht nur weisungsrechtlich, sondern auch organisatorisch sicherzustellen.“
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