Die Querdenkerbewegung sucht derzeit nach Perspektiven ihrer Fortexistenz. Ihr Zentralverein, der MWGFD unter Führung von Harald Walach, sondiert die Zugkraft neuer Themen wie z.B. ein Smartphoneverbot an Schulen oder Widerstand gegen die ePA.
Ein weiteres Thema, Dauerbrenner aller Impfgegner, ist die Masernimpfung. In vielen Ländern gibt es gerade höhere Fallzahlen. In den USA hat sich der impfkritische neue Gesundheitsminister angesichts der Lage zwar zur Impfung bekannt, aber nur so halb und nicht ohne zugleich die Vitamin-A-Gabe zu empfehlen. Im deutschsprachigen Raum versucht Andreas Sönnichsen, die Masernimpfung als Mobilisierungshebel zu nutzen. Man erinnere sich, der gute Mann war immerhin mal Vorsitzender des Deutschen Netzwerks evidenzbasierte Medizin, also einer Hochburg gesicherten Wissens zu medizinischen Fragen.
Auf seiner Internetseite schreibt er:
„Zur Corona-Impfung wird niemand mehr gezwungen, aber der Impfzwang in Deutschland geht weiter: mit der Masern-Impfpflicht. Nun kann man über den Sinn der Masern-Impfung streiten, aber eines ist sicher: der individuelle Nutzen ist in Anbetracht der derzeitigen epidemiologischen Situation für alle Kinder geringer als das Risiko eines Impfschadens. 2021 gab es in Deutschland laut Robert Koch Institut 10, 2022 15 und 2023 79 Masernfälle – bei 83 Mio Einwohnern. Der individuelle Nutzen der Impfung zur Verhinderung einer schweren Masernkomplikation ist also Null! Dem steht ein Risiko von bis zu mehreren hundert Impfschäden pro Jahr gegenüber. Eine Impfpflicht ist daher als schwere Körperverletzung zu werten und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Es gibt auch keine „epidemische Notlage“, die eine Grundrechtseinschränkung rechtfertigen würde. Doch wie kann man sich als Eltern dagegen wehren? Um hier eine rechtliche und medizinisch-wissenschaftlich fundierte Hilfestellung zu geben, wurde der „Masern-Impfblocker“ ins Leben gerufen, der bei der Durchsetzung einer Befreiung von der Impfpflicht unterstützt.“
Er könnte bei Gelegenheit einmal die Fallzahlen updaten, 2024 waren es in Deutschland 645 Fälle, 2015 sogar fast 2.500 Fälle und zudem werden die Fälle nur unvollständig gemeldet, die wahren Fallzahlen liegen wohl auch in „ruhigen“ Jahren deutlich höher.
Diese Variabilität lässt die Problematik seiner Argumentation gut hervortreten. Im Grunde sagt er: Die Masernimpfung ist so erfolgreich, dass sie statistisch keine relevante Rolle mehr spielt. Daher ist es vom individuellen Risikokalkül her vorteilhaft, sich nicht impfen zu lassen, weil man dann trittbrettfahrend durch die mit hohen Impfquoten fast erreichten Herdenimmunität, also einem geringen Infektionsrisiko, auch noch das sehr seltene Risiko eines Impfschadens vermeidet. Dieses Argument verliert sofort an Tragfähigkeit, wenn das viele Menschen machen würden und die Fallzahlen stärker steigen, weil dann das individuelle Infektionsrisiko mit den damit verbundenen Gesundheitsrisiken wieder höher zu gewichten ist als das sehr seltene individuelle Risiko eines Impfschadens. Die absolute Risikoreduktion beim Impfen hängt von der aktuellen Inzidenz ab, vom Infektionsgeschehen. Anders formuliert: Andreas Sönnichsen plädiert für unsolidarisches Ausnutzen der Impfbereitschaft Dritter.
Nun kann man abgesehen von diesem versteckten Befürworten des Trittbrettfahrens natürlich über die Impfpflicht für Kinder vor Kita- und Schulbesuch sowie bestimmte Berufsgruppen diskutieren. Man kann die Empfehlung zur Masernimpfung für sinnvoll halten und eine Impfpflicht trotzdem kritisch sehen. Bei allen Public Health-Maßnahmen gilt es immer, bevölkerungsbezogene Vorteile gegen individuelle Belastungen abzuwägen und dabei nicht nur i.e.S. medizinische Aspekte mitzudenken.
Fachleute haben kürzlich eine positive Bilanz der Masernimpfpflicht gezogen, ich denke nach wie vor, bei den Kindern wäre sie angesichts der auch vorher schon sehr hohen Impfquoten nicht die vordringlichste Maßnahme gewesen, aber sie hat immerhin dazu beigetragen, dass rechtzeitiger geimpft wurde.
Andreas Sönnichsen positioniert sich anders:
„Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich kein prinzipieller Impfgegner bin, aber die Erfahrungen mit der COVID-Impfung haben mich sehr kritisch gemacht. Eine staatliche Impfpflicht lehne ich strikt ab.“
Die, wie gesagt, durchaus vertretbare Ablehnung der Impfpflicht für Kinder, eine politische Agenda, ist ihm Anlass für die Unterstützung impfkritischer Eltern, um eine Befreiung von der Impfpflicht zu erreichen, eine medizinische Agenda.
Ich bin für eine gute Impfaufklärung, da gibt es sicher Verbesserungspotential, insbesondere auch, was die bei der Masernimpfung zwar sehr seltenen, aber nicht gänzlich ausgeschlossenen schweren Nebenwirkungen angeht. Impfaufklärung sollte sich nicht in Werbung zur Impfung erschöpfen. Den Preis, dass sich dann einzelne Eltern gegen die Impfung ihrer Kinder entscheiden, könnte man m.E. in einer freiheitlichen Gesellschaft akzeptieren, zumindest so lange das nicht dazu führt, dass durch größere Impflücken Dritte, z.B. immunsupprimierte Kinder, stärker betroffen sind. Aber eine gute Impfaufklärung müsste auch hervorheben, wie selten solche Nebenwirkungen bei der Masernimpfung sind und dass eine medizinisch nicht indizierte Ablehnung der Impfung unsolidarisch ist. Sie soll eine informierte Entscheidung ermöglichen und nicht mit falschen statistischen Argumenten das Risiko der Impfung gegenüber dem Risiko der Erkrankung aufblähen.
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Nachtrag:
Beim Nochmallesen von Sönnichsens Argumentation ist mir jetzt der Satz “Der individuelle Nutzen der Impfung zur Verhinderung einer schweren Masernkomplikation ist also Null!” aufgestoßen. Das ist empirisch falsch, trotz der vergleichsweise niedrigen Infektionszahlen. 2023 gab es zwar in Deutschland keine Sterbefälle infolge einer akuten Maserninfektion, aber die Todesursachenstatistik weist 9 (!) Sterbefälle infolge von SSPE aus, einer stets tödlich verlaufenden Masernspätfolge. Ursächlich für SSPE ist die Wildvirusinfektion, d.h. diese 9 Sterbefälle wären durch die Impfung mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden worden.
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