Public Health, die Lehre von der öffentlichen Gesundheit, ist keine “wertfreie“, rein deskriptive Wissenschaft, sofern es so etwas überhaupt gibt. Bereits die maßgebliche empirische Frage, was krank macht und was gesund erhält, ist nicht wie die Unterscheidung zwischen gelb und grün. „Krankheit“ und „Gesundheit“ sind normative Konzepte, man kann sie ohne ein Verständnis davon, wie es sein soll, nicht definieren. Die normative Grundierung von Public Health ist auf allen Ebenen des Fachgebiets unübersehbar, z.B. wenn soziale Determinanten der Gesundheit wie Armut thematisiert werden, oder wenn mit Begriffen wie „vermeidbaren Sterbefällen“ gearbeitet wird. Des Weiteren hat Public Health nicht nur eine wissenschaftliche Seite, sondern auch eine praktische und dort stellt sich die Frage danach, was sein soll, was ethisch richtig oder falsch ist, ohnehin ganz explizit. Das zentrale Anliegen von Public Health, als „upstream healthcare“, sind Prävention und Gesundheitsförderung und man präveniert nur, was nicht sein soll. Anders als im individualmedizinischen Bereich tangiert dies bei Public Health unvermeidlich die politische Ebene.

Im „Gründungsdokument“ der Gesundheitsförderung, der Ottawa-Charta der WHO 1986, war das unhinterfragter Konsens:

„Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Gesundheit sind Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Jede Verbesserung des Gesundheitszustandes ist zwangsläufig fest an diese Grundvoraussetzungen gebunden.

(…)

Die Teilnehmer der Konferenz rufen dazu auf:
– an einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik mitzuwirken und sich dafür einzusetzen, dass ein eindeutiges politisches Engagement für Gesundheit und Chancengleichheit in allen Bereichen zustande kommt;
– allen Bestrebungen entgegenzuwirken, die auf die Herstellung gesundheitsgefährdender Produkte, auf die Erschöpfung von Ressourcen, auf ungesunde Umwelt- und Lebensbedingungen oder eine ungesunde Ernährung gerichtet sind. Es gilt dabei, Fragen des öffentlichen Gesundheitsschutzes wie Luftverschmutzung, Gefährdungen am Arbeitsplatz, Wohn- und Raumplanung in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stellen (…).“

Das liest sich nicht zu Unrecht wie ein Aufruf zur Reform von Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt. In einem Kommentar „25 Jahre Ottawa Charta – Bilanz und Ausblick“ hatte ich 2011 dazu etwas skeptisch geschrieben:

„Wovon man Abschied nehmen sollte, ist die in der Ottawa-Charta an vielen Stellen durchscheinende Vorstellung, Gesundheit über den Health in all Policies-Ansatz zu einem Leitprinzip der gesellschaftlichen Entwicklung zu machen. Die gesellschaftliche Entwicklung wird primär von anderen Triebkräften bestimmt und sie wird daher immer dominieren, was in der Gesundheitsförderung möglich ist – in der umgekehrten Richtung sind die Kräfte deutlich geringer. Wobei der Blick auf den Erfolg der ökologischen Bewegung durchaus Anlass für einen hoffnungsvoll gestimmten Realismus gibt.“

Es heißt zwar oft, Gesundheit sei unser höchstes Gut, aber dem ist bekanntlich nicht so und andere Lebensziele haben ihre eigene, gleichwertige Berechtigung. Inzwischen muss man sich allerdings fragen, ob von Public Health und dem weitreichenden Ansatz der Gesundheitsförderung im Sinne der Ottawa-Charta überhaupt noch gesellschaftliche Reformimpulse ausgehen, oder ausgehen können, ob es angesichts der multiplen Krisen überhaupt noch Anlass für den impliziten Optimismus gibt, der die Ottawa-Charta trägt.

Es ist sicher nicht nur eine terminologische Mode, dass in der Public Health-Debatte der Empowerment-Begriff der Ottawa-Charta, die Idee, gemeinsam eine gesündere Zukunft schaffen zu wollen und zu können, weitgehend durch den Resilienz-Begriff, das Gesundbleiben trotz widriger Umstände, abgelöst wurde. Vielmehr scheint hier ein Eingeständnis der Übermacht der Verhältnisse statt ihrer Veränderbarkeit zum Ausdruck zu kommen. Eine bedenkenswerte Analogie zu defensiven Wandlungen der Demokratietheorie und des Aufkommens des Resilienzbegriffs dort übrigens.

Aber selbst in dieser resignativen Fassung setzt Public Health noch die Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft voraus: Ein „Endzeitfaschismus“, der diese gemeinsame Zukunft zugunsten eines „Survivals of the Richest“ oder nationalegoistischer Bollwerke für auserwählte Völker aufgibt, wäre keine Basis mehr für Public Health, so wie man öffentliche Gesundheit bei uns seit 80 Jahren, eingedenk der Lehren aus dem Nationalsozialismus, ausbuchstabiert hat.

Was also ist zu tun? Wenn Public Health zur Fahrstuhlmusik der Verhältnisse würde, zur Convenience-Science, verlöre sie ihren kritischen, reformorientierten Charakter. Public Health kann sich nicht gemütlich in einen Elfenbeinturm zurückziehen, wenn es in der Welt drunter und drüber geht. „Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten“, heißt es bei Matthäus 5;13 – ein Appell, der ein ähnliches Unbehagen gegenüber der der Versuchung der Resignation ausdrückt. Schon gar nicht sollten die Gesundheitswissenschaften als „servants of power” dienen und zum Öl statt zum Sand im Getriebe der Welt werden.

Vermutlich stimmen darin im Grundsatz die meisten Vertreter:innen von Public Health auch überein. Aber was das konkret bedeutet, in Theorie und Praxis, im Verhältnis zwischen Objektivität und Normativität, für die Auswahl von Forschungsthemen, für die Politikberatung, die Mitarbeit in Gremien, für Publikationschancen, für Drittmittel, für die Konfliktbereitschaft gegenüber politischen Akteuren und mehr, wäre zu diskutieren, auch auf den großen Public Health-Kongressen. Beim Symposium des Zukunftsforums Public Health im Dezember 2024 gab es dazu einen Anlauf, die Diskussion sollte damit nicht beendet sein.

Kommentare (16)

  1. #1 Volker Birk
    https://blog.fdik.org
    12. Juni 2025

    Ich kenne die Definition von Krankheit so, dass eine Person krank ist, wenn sie leidet. Das wird in der Psychiatrie so verwendet.

    Und es wird aus gutem Grund verwendet. Es geht darum, möglichst nicht über andere Menschen zu bestimmen, sondern auf ihre Sicht einzugehen und ihnen nichts aufzuzwingen. Die ethischen Gründe, weshalb das seit der Katastrophe im Dritten Reich so gemacht wird, sollten einleuchten.

    Wer anderen Behandlungen aufzwingt, verhält sich unethisch. Das beginnt bereits damit, dass er festlegt, was die Gesundheit von anderen betrifft.

    Die Ausnahme ist in der Psychiatrie die Eigen- und Fremdgefährdung. Die muss jedoch im Einzelfall klar nachgewiesen werden. Bevor das der Fall ist, darf nicht gehandelt werden. Dabei geht es nur um konkrete und gegenwärtige, nicht jedoch um abstrakte oder zukünftig mögliche Gefahren. Dann und nur dann ist eine Zwangsbehandlung möglich, und zwar auch nur solange, wie die konkrete und gegenwärtige Gefahr besteht. Danach nicht mehr.

    Diese Sichtweise ging in den letzten Jahren im Bereich Public Health komplett verloren. Ein “Gemeinwohl” wurde über das Wohl Einzelner gestellt. Behandlungen wurden aufgenötigt und aufgezwungen. Abstrakte Gefahren dienten als Rechtfertigung für Freiheitsentzug. Zu allem Überfluss wurden neue, grösstenteils ungetestete Technologien bemüht, mit den zu erwartenden schlechten Ergebnissen.

    Dieses unverantwortliche Handeln hat das Vertrauen in Public Health breitflächig zerstört.

    • #2 Joseph Kuhn
      12. Juni 2025

      @ Volker Birk:

      “Ich kenne die Definition von Krankheit so, dass eine Person krank ist, wenn sie leidet. Das wird in der Psychiatrie so verwendet.”

      Das spricht einen wichtigen Punkt an, aber so einfach ist es leider nicht, auch nicht in der Psychiatrie. Demnach wären z.B. Menschen in einer manischen Phase nicht krank, oder ein Teil drogenabhängiger Menschen, nicht alle leiden. Siehe auch die Differenzierung sickness, illness und disease im englischen Sprachgebrauch, oder die einschlägigen Beiträge dazu im verlinkten Buch “Krankheitstheorien”. Speziell zur Psychiatrie könnte ich Ihnen noch das Buch “Der Begriff der psychischen Krankheit” von Andreas Heinz empfehlen. Ebenfalls lesenswert, und einfacher zu lesen als das Buch von Heinz, ist “Normalität” von Asmus Finzen. Nur für den Fall, dass Sie sich mit dem Thema ernsthaft beschäftigen wollen.

      Auch außerhalb der Psychiatrie kann man den Krankheitsbegriff nicht einfach am subjektiven Leiden festmachen. Was ist z.B. mit Menschen mit unerkanntem Diabetes mellitus, oder mit unerkannter Krebserkrankung. Sie leiden nicht, aber sind sie gesund?

      “Wer anderen Behandlungen aufzwingt, verhält sich unethisch.”

      So ist es. Die Ausnahmen haben Sie ja genannt.

      “Diese Sichtweise ging in den letzten Jahren im Bereich Public Health komplett verloren.”

      Nein. Die Diskussion haben wir oft genug geführt, dazu braucht es nicht wieder eine neue Runde.

  2. #3 Doe
    !
    13. Juni 2025

    Es tut sich etwas bei der öffentlichen Gesundheit.
    Das “Gesundheitsbewusstsein” der Bevölkerung ist geweckt. Bio-Produkte werden vermehrt angeboten, und vermehrt gekauft.!

    Warum das so ist ? Bio-Produkte schmecken einfach besser .
    Und seitdem die Hersteller auch gemerkt haben, dass sich mit “Bio” die Gewinnmarge erhöhen lässt, ist das für den Erzeuger , den Handel und dem Verbraucher eine win-win Situation.

    Also, wie lautet der richtige Weg ?, wenn sich die Gesundheit mit der Ökonomie verbinden lässt, dann ist das der richtige Weg.

    Anmerkung: Über die Veganer rümpfen nur noch wenige die Nase.

    • #4 Joseph Kuhn
      13. Juni 2025

      @ Doe:

      “wenn sich die Gesundheit mit der Ökonomie verbinden lässt, dann ist das der richtige Weg”

      Und wenn es sich nicht verbinden lässt? Zum Beispiel, wenn Unternehmen Gewinne auf Kosten der Gesundheit ihrer Beschäftigten machen? Oder auf Kosten der Allgemeinheit, z.B. bei Umweltbelastungen?

      “Über die Veganer rümpfen nur noch wenige die Nase.”

      Woher wissen Sie das? Und ob eine vegane Ernährung für Public Health entscheidend ist? Oder doch eher das Verringern sozialer Ungleichheit, das Eindämmen von Umweltbelastungen usw.?

      P.S.: Muss das mit dem permanenten Nickname-Wechseln wirklich sein?

  3. #5 Doe
    13. Juni 2025

    Joseph Kuhn,
    Gesundheit und Ökonomie sind das richtige Begriffspaar. In dem Spannungsfeld dazwischen befinden sich die Bauern, die überlegen , ob man noch mehr düngen soll um den Ertrag zu erhöhen.
    Und der Kunde befindet sich auch in diesem Spannungsfeld. Er überlegt, kaufe ich normale Kartoffeln oder Bio-Kartoffeln und unterstützt damit den bioBauer.
    Und jetzt kommt der Faktor Geld. Auch der Produzent steckt in dem Dilemma. Er befindet sich im Wettbewerb mit anderen Anbietern.
    “Wenn es sich nicht verbinden lässt”
    Es lässt sich immer verbinden. Denn ein Erzeuger, der immer mehr Zusatzstoffe in sein Fertigprodukt packt um den Fleischanteil verringern zu können, der riskiert auf lange Sicht seinen guten Ruf.
    Mittlerweile findet man im Fernsehen schon mehrere Sendungen, die sich mit der Zusammensetzung von
    Fertigprodukten beschäften und …..die Konsumenten werden immer qualitätsbewusster.
    Und wenn die Nahrungsmittelkonzerne merken, dass die Umsätze sinken, dann findet auch bei ihnen ein Umdenken statt.
    Man muss da Vertrauen in den Markt und in die Marktgesetze setzen. Der alte Spruch : Qualität setzt sich durch,” der gilt auch heute noch.

    Anmerkung: Es wird bald Apps geben die die Qualität von Produkten angeben und die Verbraucher werden dann ihr Kaufverhalten ändern.

    Was die Nicknames betrifft, o.k. das mag auf eine Charakterschwäche hindeuten, es ist Absicht, denn wenn man sich in einer Schublade befindet, dann kann die Meinung noch so ausgefeilt sein, sie ist nur noch die Hälte wert.

    • #6 Joseph Kuhn
      13. Juni 2025

      @ Doe:

      “Es lässt sich immer verbinden”

      Vielleicht. Aber nicht ohne Gegenwehr dort, wo es nicht von alleine geht, z.B. bei den Arbeitsbedingungen mancher Paketdienstleister, bei manchen Zulieferern unserer Billigketten und vielen anderen Bereichen. Sie haben den Blickwinkel des satuierten Wohlstandsbürgers.

      “Man muss da Vertrauen in den Markt und in die Marktgesetze setzen.”

      Gewiss nicht. Märkte funktionieren in vielen Bereicheb, wenn sie ausreichend reguliert sind. In manchen Bereichen, z.B. der Gesundheitsversorgung, funktionieren sie gar nicht, weil der Marktaustritt nicht kaufkräftiger Kunden hier nicht selten der Tod ist.

      Im Moment drohen “der Markt und die Marktgesetze” den ganzen Planeten zu verbrennen, falls es ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte. Was das Vertrauen in die Märkte angeht, hatte der verstorbene Papst mit seinem Satz “Diese Wirtschaft tötet” eine realistischere Sichtweise.

      “Es wird bald Apps geben die die Qualität von Produkten angeben und die Verbraucher werden dann ihr Kaufverhalten ändern.”

      Die gibt es schon lange. Und positive Bewertungen dort lassen sich im Paket kaufen. So einfach wird man den gesundheitlichen Verbraucherschutz nicht privatisieren können.

      Wie man Ihnen schon so oft geraten hat: Es wäre schön, wenn Sie erst nachdenken und dann schreiben würden. Aber ich habe gelernt, dass das in den Wind gesprochen ist und würde mich freuen, wenn Sie zumindest nach dem Schreiben nachdenken würden.

  4. #7 Joseph Kuhn
    13. Juni 2025

    Reflexion statt Gouvernementalität

    Der Blogbeitrag ist nicht als Klage über den Untergang des Public Health-Abendlandes gedacht. Er unterstellt keine ausweglose “Befriedung” des reformatorischen Potentials von Public Health im Sinne einer Foucaultschen Gouvernementalität.

    Das berühmte Buch “Befriedungsverbrechen – Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen” von Basaglia et al. aus dem Jahr 1975, in der deutschen Ausgabe 1980 erschienen, beginnt mit einem ebenso berühmten Gramsci-Zitat:

    “Die Intellektuellen dienen der herrschenden Klasse als ‘Angestellte’. Sie sind für die Vielzahl subalterner Aufgaben der gesellschaftlichen Hegemonie und der politischen Regierung zuständig, d.h. 1. für die ‘spontane’ Zustimmung der großen Masse der Bevölkerung zum gesellschaftlichen Leben der herrschenden Hauptgruppe, eine Zustimmung, die sich ‘historisch’ aus dem Prestige (und damit dem Vertrauen) ableitet, das der herrschenden Gruppe aufgrund ihrer Position und Funktion im Produktionsbereich zufällt; und 2. für den staatlichen Zwangsapparat, der ‘gesetzlich’ die Disziplinierung der Gruppen sicherstellt, die aktiv oder passiv ‘die Zustimmung verweigern’ (…).”

    Gramsci hat das 1930 geschrieben, während der Herrschaft des italienischen Faschismus. Man sollte es also nicht als Zeitdiagnose für die Public Health-Wissenschaftler:innen heute sehen, und auch die strenge Funktionalität der Denkangestellten muss man nicht übernehmen, aber man sollte es ernstnehmen als Aufruf zur Reflexion des eigenen Tuns, denn jede Professionalisierung geht mit dem Risiko der Einbindung und Befriedung kritischer Impulse einher.

  5. #8 Doe
    13. Juni 2025

    XXX

    [Kommentar gelöscht. Bitte nicht irgendwas hier reinschreiben. Danke, JK]

  6. #9 Joseph Kuhn
    13. Juni 2025

    Amerikanisches Wetterleuchten

    Die Trump-Regierung will strengere Maßstäbe an die Wissenschaft anlegen. Trump hat ein Dekret “Restoring the Gold Standard of Science“ unterzeichnet, das, ähnlich wie frühere Zugriffsversuche der Tabakindustrie auf wissenschaftstheoretische Standards, oberflächlich gut klingt: Gefordert werden “offene Rohdaten, überprüfbare Analysen,
    Registrierungen vor dem Studienstart, Ergebnisoffenheit, Freiheit von
    Interessenkonflikten”.

    Der Medizinethiker Daniel Strech und der Hirnforscher Ulrich Dirnagl haben dazu heute in der FAZ einen einordnenden Kommentar veröffentlicht. Ihr Fazit lautet, dass genau über diese Kriterien mehr politische Steuerung erfolgen soll:

    “Wissenschafts- und Technikforscher sprechen hier von „Epistemic Capture“: Nicht einzelne Ergebnisse werden zensiert, sondern die Regeln der Gültigkeit umgeschrieben. Wer festlegt, welche Daten offen genug oder welche Modelle reproduzierbar sind, legt auch fest, was als Wissen zählt.”

    Ich fürchte allerdings, ihre Vorstellung von einer sauberen Trenunng von Wissenschaft und Werten trägt bei Public Health nicht weit und liefert den Trumpisten genau die Argumente für die “Säubererung” der Wissenschaft von angeblich linken Ideologien:

    “Demokratische Verfahren brauchen dagegen eine klare Trennung: Politik entscheidet über Werte und Prioritäten, Wissenschaft über Evidenz und Methoden. Wo diese Trennung verwischt wird, entsteht eine hybride Zone, in der Machtfragen als Qualitätsdebatten verkleidet verhandelt werden.”

    Wie gesagt, bei dem Thema besteht Diskussionsbedarf. Immer wieder.

    —————–
    Nachtrag: Bei Trumps epistemischen Werten ahnt man, wie damit politisch gearbeitet werden kann: Frei von Interessenskonflikten ist, wer nicht zur “Klimawandelsekte” gehört, ergebnisoffen forscht, wer seine Sympathie für fossile Energien offen ausdrückt und die Offenlegung von Rohdaten kann, wie Strech & Dirnagl schreiben, Datenschutzfragen aufwerfen. Ganz abgesehen davon, dass je nachdem, wie das konkretisiert wird, hier gezielt und tendenziös Zweifel an der Datenerhebung gesät werden können, keine Studie ist perfekt, auch das hat die Tabakindustrie zur Genüge vorgeführt.

  7. #10 Doe
    15. Juni 2025

    Joseph Kuhn.
    der Gerechtigkeit Frucht ist der Friede.
    des Kommerzes Frucht ist der Wohlstand,
    des Wohlstandes Frucht ist die Gesundheit.

    kommerziell = den Handel betreffend, gewinnorientiert
    gewinnorientiert ist sinnvoll, denn nur wenn ein Unternehmen einen Gewinn erwirtschaftet, kann es im Wettbewerb überleben.

    • #11 Joseph Kuhn
      15. Juni 2025

      Ihr unreflektierter Marktradikalismus trägt im Gesundheitswesen nicht. Manches dort lässt sich über Märkte mit geeigneter Rahmensetzung steuern, auch gewinnorientiert, manches nicht.

      Mit Ihren undifferenzierten Einwürfen kann man sich nicht vernünftig auseinandersetzen. Frei nach Karl Valentin könnte man vielleicht sagen, der Markt ist gut, nur die Märkte sind’s nicht immer. Aber letztlich interessiert Sie das ja auch nicht, das kann nach den Jahren der Erfahrung mit Ihren Kommentaren als “gesichertes Blogwissen” betrachtet werden. Ich wünsche Ihnen trotzdem einen schönen Sonntag.

      Warum habe ich Ihren Kommentar der Welt nicht einfach erspart? Gute Frage, das weiß ich selbst nicht so genau.

      Wen das Thema Gesundheitsökonomie interessiert, der wird im Netz Berge von Literatur zu den Themen “Gesundheit als öffentliches Gut”, “Markt und Gesundheitswesen”, “Markt- und Staatsversagen im Gesundheitswesen”, usw. finden. Zuletzt gab es hier im Blog etwas im Zusammenhang mit der 7-Zeilen-Rezension zum Buch “Die ökonomische Vernunft der Solidarität” dazu.

      Beim aktuellen Blogbeitrag geht es allerdings nicht darum, ob die unsichtbare Hand des Marktes letztlich alles zum Guten wendet, sondern um die Frage, ob Public Health eine Wissenschaft (und Praxis) ist, der eine ethische Verpflichtung eingeschrieben ist und die im klassischen Weberschen Sinne als “wertfreie” Wissenschaft schnell “wertlos” wird – ungeachtet natürlich dessen, dass die empirischen Aussagen auch nicht aus guter Absicht manipulativ verzerrt werden dürfen.

  8. #12 Doe
    15. Juni 2025

    Joseph Kuhn,
    “ob Public Health eine Wissenschaft (und Praxis) ist, der eine ethische Verpflichtung eingeschrieben ist ”

    Verzeihung, dass ich im Brechstangenstil zum Kern der Diskussion vorgedrungen bin.
    Also, jeder noch klar denkende Mensch kommt zu dem Schluss, dass das Thema Gesundheit und Öffentlichkeit alle angeht und damit automatisch eine ethische Sichtweise erzwingt.
    Aber….mit einem ethischen Glaubensbekenntnis allein kann man den Auswüchsen des Kapitalismus nicht beikommen.

    Und dazu bedarf es einer Klarstellung bezüglich Kommerz. Ein Student der Volkswirtschaftslehre studiert mindestens 8 Semester. Und dabei lernt er die Zusammenhänge und die Gesetzmäßigkeiten des Handels. Und diese Betrachtungsweise ist (noch) wertfrei. Und jetzt teilt sich das Lager der Ökonomen in die , die den freien Welthandel befürworten und die , die im freien Welthandel die Ursache aller Umweltverschmutzung sehen, die Ursache für die Verelendung der Dritten Welt sehen.
    Der Begriff Public Health ist richtig, verschleiert aber noch die wirtschaftlichen Zwänge, die zu den Ungerechtigkeiten führen unter denen die Weltgemeinschaft zu leiden hat.
    Nur mal um einen Punkt herauszugreifen, wir lassen unsere Kleidung in Bangladesh produzieren . Ökonomisch ist das sinnvoll weil es kostengünstiger ist. Dass in Bangladesh aber auch Kinderarbeit stattfindet, dass interssiert die deutsche Öffentlichkeit nicht wirklich.

    Anmerkung : Herr hto wäre jetzt in seinem Element.

    • #13 Joseph Kuhn
      15. Juni 2025

      @ Doe:

      “Verzeihung, dass ich im Brechstangenstil zum Kern der Diskussion vorgedrungen bin.”

      Der Kern ist woanders. Hinter Ihnen, womöglich.

      “Also, jeder noch klar denkende Mensch kommt zu dem Schluss, dass das Thema Gesundheit und Öffentlichkeit alle angeht und damit automatisch eine ethische Sichtweise erzwingt.”

      Es gibt vieles beim Thema Gesundheit und Öffentlichkeit, was sich ohne ethische Überlegungen beschreiben lässt. Beispielsweise könnte man einmal untersuchen, wie groß die Zahl der Menschen ist, die dazu kommentieren, ohne sich vorher zu informieren. Eine rein deskriptive Geschichte. Ob etwas “alle angeht”, hat auch noch keine Folgen dafür, ob es ethisch reflektiert werden muss. Die Gravitation geht uns z.B. auch alle an.

      “Und dazu bedarf es einer Klarstellung bezüglich Kommerz. Ein Student der Volkswirtschaftslehre studiert mindestens 8 Semester. Und dabei lernt er die Zusammenhänge und die Gesetzmäßigkeiten des Handels. Und diese Betrachtungsweise ist (noch) wertfrei.”

      “Gesetzmäßigkeiten” des Handels? Wertfrei? Ein Semester Volkswirtschaftslehre hätte Ihnen auch gut getan.

      “Der Begriff Public Health ist richtig, verschleiert aber noch die wirtschaftlichen Zwänge, die zu den Ungerechtigkeiten führen unter denen die Weltgemeinschaft zu leiden hat.”

      Die Ungerechtigkeiten der Welt sind sehr wohl Thema bei Public Health, auch das hätten Sie ergoogeln können, auch einfache Erläuterungen dazu.

      Fragen im Anschluss an den Blogbeitrag wären vielmehr, ob das angesichts von Trump & Co. noch reicht, wie sich das mit Trumps “Gold Standard of Science” verträgt, ob andersgelagerte, vielleicht auch unbequemere Studien nötig wären, wo die Grenze zwischen Wissenschaft und Aktivismus verläuft, welche Bedeutung diese Grenze für die wissenschaftliche Seite von Public Health hat usw. usw.

      “Nur mal um einen Punkt herauszugreifen, wir lassen unsere Kleidung in Bangladesh produzieren . Ökonomisch ist das sinnvoll weil es kostengünstiger ist. Dass in Bangladesh aber auch Kinderarbeit stattfindet, dass interssiert die deutsche Öffentlichkeit nicht wirklich.”

      Dass es “ökonomisch sinnvoll” ist, hängt von der Perpektive ab. Der Preis in unseren Billigläden definiert das ökonomisch Sinnvolle sicher nicht. So wenig wie die niedrigen Prämien junger PKV-Versicherter das duale System “ökonomisch sinnvoll” machen. Und natürlich interessiert es die “deutsche Öffentlichkeit” und das wird auch thematisiert, googeln Sie einfach mal mit den Begriffen “kleidung bangladesch arbeitsbedingungen”. Das jetzt wieder zur Disposition stehende Lieferkettengesetz war eine Folge der öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema.

      “Herr hto wäre jetzt in seinem Element.”

      Vermutlich. Aber wir wollen es mit synaptischer Disruption nicht übertreiben.

  9. #14 Joseph Kuhn
    16. Juni 2025

    Freiheit der Wissenschaft und Demokratie

    In der Süddeutschen Zeitung machen heute Armin Nassehi und Matthias Tschöp auf den Zusammenhang zwischen der Freiheit der Wissenschaft und der Demokratie aufmerksam. Beide, Wissenschaft und Freiheit, sind auf den Austausch und das rationale Abwägen von Argumenten angewiesen. Prominent vertreten wurde dieser Zusammenhang u.a. von John Dewey.

    Allerdings gilt das mehr die sozialen Wissenschaften, und auch für Public Health, als für die Naturwissenschaften. Zwar können auch letztere unter autoritären Regimen in Bedrängnis geraten, wie Lyssenkos “Genetik” oder die “Deutsche Physik” zeigen, oder historisch noch weiter zurückreichend Galileo und Kopernikus, aber szientistisch beschränkte Wissenschaft ist eher naturwissenschaftlich möglich, wie man aktuell z.B. an Chinas Erfolgen in vielen technischen Feldern sehen kann.

  10. #15 Doe
    16. Juni 2025

    XXX

    [Kommentar gelöscht. Lassen wir es vorerst mit Ihren Welterklärungen gut sein. Einen schönen Wochenanfang wünsche ich trotzdem. JK]

  11. #16 RGS
    15. Juli 2025

    Global betrachtet wurde viel Erreicht zur Verbesserung der Lebensbedingungen seit der Ottawa Charta. Dazu muss man sich nur die Statistiken weltweit anschauen.

    Also ist die Ottawa Charta doch eine Erfolgsgeschichte.

    Mich beeindruckt auch sehr, dass ein wesentlicher Treiber für die Förderung der Photovoltaikindustrie in China der Schock der Luftverschmutzung in den Chinesischen Großstädten war.