In vielen Ländern, weltweit, ist die liberale Demokratie in die Krise geraten. Je nach Land war die demokratische Wirklichkeit jenseits der Wahlgänge zwar immer unterschiedlich, in manchen Ländern auch grundsätzlich fragil, aber meist doch recht robust gegenüber autoritären oder neofaschistischen Strömungen. Einhergehend mit der neoliberalen Ära, dem absehbaren Ende des fossilen Zeitalters und veränderter internationaler Machtverhältnisse ist für viele Menschen in den Industrieländern auch das Versprechen „Wohlstand für alle“ immer brüchiger geworden. Mieten können oft nicht mehr bezahlt werden, Wohneigentum ist für viele undenkbar geworden, Jobs sind unsicher, viele Schulen baufällige soziale Brennpunkte, die Renten reichen oft hinten und vorne nicht mehr, Pflegekosten im Alter fressen die Ersparnisse auf, die Infrastruktur bröckelt scheinbar unaufhaltsam vor sich hin. Und über allem dräut auch noch der Klimawandel. Hans Rosling würde sein optimistisches Buch „Factfulness“ heute vermutlich so nicht mehr schreiben.
Manche erklären die Migrant:innen zum allseitigen Sündenbock, zur „Mutter aller Probleme“, aber insgeheim wissen sie vermutlich selbst, dass das mehr der emotionalen Abfuhr als der Lösungsperspektive dient. Eine einfache Antwort halt, in einer Zeit, in der man sich von der Komplexität und zumindest kurzfristigen Unüberwindlichkeit der Probleme überfordert fühlt. Wenn man wenigstens klar vor Augen hätte, was zu tun ist.
Linke Utopien sind durch das Scheitern des „real existierenden Sozialismus“ nachhaltig desavouiert. Die „Systemkritik“ kommt heute von Rechts. In einigen Ländern, z.B. Ungarn, Italien oder in den USA, hat sie es bereits an die Macht geschafft. Es sind keine klassischen Diktaturen, aber „illiberale Demokratien“ mit autoritären bis faschistoiden Zügen. Und in Ländern wie Russland oder China gab es nie eine liberale Demokratie, sie stehen in einer langen illiberalen Tradition.
War die liberale Demokratie zumindest dem Anspruch nach orientiert an gleichen Rechten für alle, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, einer je nach Land unterschiedlich weitreichenden Trennung von Staat und Religion und der Legitimation durch Verfahren und Kompromissbildung, so stehen die neuen Autokratien tendenziell für Volkstribune als Führer, Patronage, Ethnozentrierung, Berufung auf „das Volk“, Ausgrenzung von Minderheiten, Delegitimierung von freier Presse, unabhängiger Justiz und Wissenschaft sowie einem Freund-Feind-Denken, oft mit religiöser Aufladung politischer Konflikte.
Vielleicht ist das alles vorübergehender Natur. Vielleicht aber auch nicht, vielleicht wird das ein lange anhaltendes gesellschaftliches Konfliktmuster. Dann stehen sich für viele Jahre zwei grundsätzlich verschiedene Politik- und Gesellschaftskonzepte unversöhnlich gegenüber.
Wenn dem so ist: Ob dann die Behauptung der AfD, die „Altparteien“ seien doch eh alle gleich, womöglich anders aufgegriffen werden sollte, nicht als abzuwehrende Provokation, sondern als eine konstruktiv anzunehmende Herausforderung angesichts einer Spaltung der Gesellschaften, die nicht nur ein kurzfristiges Übergangsphänomen ist? Einer Spaltung, die tiefer geht und die Frage nach einer grundsätzlichen Erneuerung unser Lebensweise und der Demokratie stellt? Sollten sich dann vielleicht die von der AfD als „Systemparteien“ denunzierten demokratischen Parteien tatsächlich zusammentun, in einer Art neuem Zweiparteien-System? So dass eine Partei, oder eine Parteifamilie, die Erneuerung in Fortführung demokratischer Grundlinien sucht, einer Partei, oder Parteifamilie gegenübersteht, die populistisch, nationalistisch und autoritär agiert, mit einem Wechseltrump an der Spitze?
Vielleicht. Aber wie realistisch ist ein solches Szenario? Ist es nicht zu sehr ausgedacht, ohne dass ihm die Realität folgt? Schon weil ein Teil der Union nach Rechts blinkt, ein Teil des linken Spektrums die Union ohnehin dort sieht und die FDP als gesellschaftspolitische Kraft des Liberalismus abgedankt hat? Was wären dann die Alternativen, wenn die Problembeschreibung mit der tiefgreifenden Spaltung stimmt, aber die Parteien, die die liberale Demokratie tragen, und in die Zukunft tragen müssten, nicht zusammenfinden? Wenn vielleicht eines brandmauerfernen Tages die Union oder eines ihrer Zerfallsprodukte sogar mit der AfD zusammengeht?
Vielleicht sind das alles nur böse Träume, hoffentlich. Der Untergang des Abendlandes wurde ja schon oft vorhergesagt. Allerdings ist er auch schon mehrfach eingetreten.



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