Todesursachen
Dass Autofahren tödlich sein kann, sieht man mit bloßem Auge. Ebenso, dass es meist nicht gut ausgeht, von einer Lawine überrollt zu werden. Weniger klar ist, wer an den Folgen des Tabakkonsums gestorben ist, oder durch Bluthochdruck. Da kommt die Statistik ins Spiel. Es werden komplexe mathematische Modelle gerechnet, um möglichst alle möglichen Störgrößen zu kontrollieren. Das ist vor allem dann wichtig, wenn man Sterbefälle nicht in einem RCT, einem Randomized Controlled Trial, untersuchen kann. In einem RCT werden Menschen zufällig auf zwei Studiengruppen verteilt, die sich nur dadurch unterscheiden, dass eine Gruppe dem Einflussfaktor ausgesetzt ist, dessen Wirkung man untersuchen will (z.B. einem Medikament), die andere Gruppe nicht. Dann kann man die Unterschiede im Ergebnis recht zuverlässig dem Einflussfaktor zurechnen, sofern die Gruppen groß genug waren. Ohne RCT muss man allerhand statistische Verrenkungen anstellen, um nicht zu dem Ergebnis zu kommen, dass der Storch die Kinder bringt.
Todesursache AfD?
Gerade berichten Medien von Sterbefällen unter AfD-Kandidat:innen für die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen am 14. September. Sieben sind bekannt. Das weckt die Phantasie von geübten Verschwörungstheoretikern. Stefan Homburg, der sich in der Coronakrise einen Namen als findungsreicher Geist gemacht hat, schrieb beispielsweise am 29. August auf X, damals waren vier Sterbefälle bekannt:
„Laut @WDR sind vier @AfD-Kandidaten, die nicht ausgeschlossen wurden, unmittelbar vor der NRW-Kommunalwahl verstorben: Blomberg, Rheinberg, Schwerte, Bad Lippspringe. Statistisch fast unmöglich.“
Der Tweet wurde bislang 1,1 Millionen mal aufgerufen. Und vor allem: er wurde geteilt, von Alice Weidel und anderen, die gerne in trüben Gewässern fischen. Homburg war übrigens mal Professor, er ist mit dem Grundlagen der Statistik an sich vertraut. Und wenn er sagt, die vier Toten seien „statistisch fast unmöglich“ – dann, ja dann … dann raunt die Szene: Ob die AfD-Kandidat:innen vielleicht Opfer politischer Morde sind? Subtext: Ersetze die Frageform durch eine Behauptung.
Alles ist möglich. Mörder hinterlassen in der Regel ja keine Geständnisse am Tatort. Die Polizei kann bei den Fällen, die nicht ganz klar einen natürlichen Tod gestorben sind und daher routinemäßig obduziert werden, bisher nicht von äußeren Einwirkungen durch mörderische Absicht berichten. Auch klar, die Polizei ist ja Teil der Merkel-Diktatur.
Statistik und Todesursachen
Viel interessanter als die Nachrichten aus dem Kaninchenbau ist allerdings die Frage: Wie kommt Stefan Homburg eigentlich zu der Aussage „statistisch fast unmöglich“? Eine erste wichtige Zahl wäre die der AfD-Kandidat:innen. Er nennt sie nicht. Eine zweite wichtige Zahl wäre die der Kandidat:innen anderer Parteien. Er nennt sie nicht. Er weiß es auch nicht. Man kann daher nicht einmal „rohe Raten“ für die Verstorbenen nach Parteizugehörigkeit berechnen. Dann wäre sehr wichtig, Geschlecht und Alter der Kandidat:innen sowie der Verstorbenen zu kennen. Aller Kandidatinnen und aller Verstorbenen wohlgemerkt, damit man den Einfluss von Alter und Geschlecht herausrechnen kann. Das nennt man „Standardisierung nach Alter und Geschlecht“. Man tut rechnerisch so, als ob sich die zu vergleichenden Gruppen hinsichtlich Alter und Geschlecht nicht unterscheiden. Das Alter ist, wen wundert’s, der wichtigste Einflussfaktor auf die Sterblichkeit. Stefan Homburg kann dazu keine Daten nennen, niemand kann es derzeit, die Daten werden schlicht nicht zentral erfasst.
Es wäre weiter hilfreich, wenn man auch noch Daten über Vorerkrankungen oder das Gesundheitsverhalten der Leute hätte, z.B. ob sie rauchen oder stark übergewichtig sind. Weil, siehe oben, wenn die AfD-Kandidatinnen im Schnitt älter wären als die Konkurrenz und auch noch öfter rauchen, in dieser Gruppe auch mehr Sterbefälle als bei den anderen zu erwarten wären. Man könnte die Gruppen so noch besser vergleichen, und am Ende dann berechnen, ob sich die Sterberaten statistisch signifikant unterscheiden, eventuelle Unterschiede also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht zufallsbedingt sind. Aber man weiß all das nicht. Man weiß nichts, gar nichts. Außer, dass eben bisher sieben AfD-Kandidat:innen und wohl acht andere vor der Wahl verstorben sind. Vermutlich, weil auch Kandidat:innen nicht unsterblich sind.
Was Stefan Homburg sagt, ist gefühlte Statistik. Er weiß schlicht nicht, ob hier eine Auffälligkeit vorliegt, und er weiß erst recht nicht, wenn dem so wäre, was es damit auf sich hat. Ich persönlich würde ausschließen, dass Gott weniger Acht auf die AfD-Kandidat:innen gibt, oder dass ihnen der Teufel auf den Fersen war. Wobei ich dafür eher metaphysische Gründe habe. Statistisch könnte ich dazu natürlich auch nichts sagen.
Was bleibt?
Was Stefan Homburg und die, die mit ihm mitraunen, da von sich geben, ist keine Statistik, sondern eine Verschwörungstheorie par excellence. Dass so viele folgen, darüber kann man sich seine Gedanken machen. Möge wenigstens bei ihnen nur Hanlon’s Razor zum Tragen kommen.



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