Moralische Versprechen
Die vielzitierten „Werte des Westens“ waren hier immer wieder einmal Thema. Es geht um das, was liberale Demokratien ausmacht: Nicht nur Wahlen, sondern auch checks and balances, Rechtsstaatlichkeit, freie Presse, Meinungsfreiheit, Achtung der Menschenwürde, und noch ein paar Bausteine mehr, die man z.B. in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ oder auch im Grundgesetz nachlesen kann. Diese „Werte“ waren verknüpft mit dem Versprechen „Wohlstand für alle“, nicht zufällig, weil dieses Versprechen die Möglichkeit eines Zusammenlebens auf Augenhöhe, das Zusammenleben in Gleichheit und Würde, beinhaltet.
Mit diesen Werten ging immer eine gewisse Doppelmoral einher. „Wohlstand für alle“ meinte aus Sicht der Eliten nie gleichen Wohlstand für alle. Aus Sicht wirtschaftsliberaler Eliten ist Ungleichheit bekanntlich der Motor des Fortschritts, weil er Wettbewerb stimuliert. Gerechtfertigt wurde diese notwendige Ungleichheit dadurch, dass sie durch Leistung zustande kommen sollte, Folge einer „Leistungsgesellschaft“.
Glaubwürdigkeitsprobleme
Soziale Ungleichheit wird aber in unserem Land zu erheblichem Maße durch die soziale Herkunft bestimmt. In ihrem neuen Buch „Zerstörungslust weisen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey zu Recht auf die abnehmende Aufwärtsmobilität in den westlichen Gesellschaften hin. Dass sich Reichtum gerade in Deutschland zu großen Teilen einer Erbschaft verdankt, ist inzwischen wissenschaftlich hinlänglich beschrieben und politisch beständig ignoriert worden. Keine Zukunft mehr zu haben, so Amlinger und Nachtwey, lässt den Blick in die Vergangenheit gleiten: man versucht festzuhalten, was man hat oder glaubt, verloren zu haben, und sei es eine Vergangenheit, die es so nie gab. Hoffnung taucht alles in ein warmes Licht, auch das Gestern. Hatte die DDR nicht auch ihre guten Seiten, den Zusammenhalt, die soziale Sicherheit, die Klarheit, was Männer und was Frauen sind und die Freiheit von all den Verhaltenserwartungen politischer Korrektheit? Da verschwindet dann die Gewalt der Verhältnisse im real existierenden Sozialismus im Nebel der Nostalgie. Bei immer mehr Zeitgenossen ist das sogar wieder mit dem Nationalsozialismus der Fall. Die verschlossene Zukunft wird dann zum Appell, den kategorischen Imperativ von Karl Marx, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1: 385), destruktiv als Zerstörungslust auszuleben. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“, sangen Ton, Steine, Scherben einst, da schon ohne Zukunftsvision, ein Aufruf nur zum Mitmarschieren.
Gegenüber der sog. „Dritten Welt“ hatte die westliche Doppelmoral unübersehbar strategische Funktion, sie war soft power, mit der hard power legitimiert wurde, vom Vietnamkrieg über den Umsturz in Chile oder den Irakkrieg. Den – nur allzu oft durch und durch korrupten – Eliten der Dritten Welt war diese Doppelmoral so bewusst wie denen im Westen. Der Westen wollte den Zugriff auf die Ressourcen in Asien, Afrika und Südamerika behalten. „The white man’s burden“ war nicht mehr glaubwürdig, da mussten nun die Werte der liberalen Demokratie und des offenen Welthandels herhalten, und sei es nur auf dem Papier, vor den Türen von Abu Ghraib.
Die neue Skrupellosigkeit und eine Politik der Würde
Dieses Arrangement kommt seit einigen Jahren ins Rutschen. Die Glaubwürdigkeitsprobleme der „westlichen Werte“ sind nach innen wie nach außen immer größer geworden. Der Politologe Daniel Marwecki sieht das sogar positiv, als Ende der Scheinheiligkeit. Wer wie Trump keine Moral mehr in Anspruch nehme, müsse sich auch nicht mehr daran messen lassen und könne seine Interessen mit offener Brutalität durchsetzen. Moralische Abrüstung wird so zur Rechtfertigung der Skrupellosigkeit.
Man wird dem auf der Ebene der Diagnose vielleicht nicht viel entgegensetzen können. Aber die Frage danach, ob die Glaubwürdigkeit der „westlichen Werte“ mit ihrer Geltung gleichzusetzen ist, möchte ich doch stellen. Es wird keine zivilisierte Welt geben, wenn wir die Achtung der Menschenwürde aufgeben, samt ihren Gewährleistungs-Institutionen wie z.B. der Rechtsstaatlichkeit oder der Meinungsfreiheit. Der Postliberalismus ist nur als Dystopie denkbar, sei es in Form einer Gesellschaft aus Eloi und Morlocks, sei es als Hoppesche Refeudalisierung oder Deneensche Reklerikalisierung. Auf dieser Basis ist keine „Politik der Würde“ möglich.
Die Verteidigung der „westlichen Werte“, des Strebens nach einem guten Leben für alle, ist ein lohnendes Projekt. Die kritische Auseinandersetzung mit ihrer ideologischen Instrumentalisierung gehört dazu, ebenso wie die Kritik an symbolischen Ersatzlösungen. Der Weihnachtsbaum ist nicht der Inbegriff unserer Kultur und die Störungen des „Stadtbildes“ sollten die durch Armut und Verfall sein, nicht die Sichtbarkeit anderer Hautfarben. Wir müssen uns die „westlichen Werte“ als unsere Lebensform aneignen, wenn nicht Mallorca, das nächstgrößere Auto und die Sportschau unseren Horizont als Nietzsches blinzelnde „letzte Menschen“ darstellen sollen.
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Bücher zum Weiterlesen:
• Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Zerstörungslust. Frankfurt 2025.
• Mark Schieritz: Zu dumm für die Demokratie? München 2025.
• Thomas Piketty: Für einen ökologischen Sozialismus. München 2025.
• Anne Rabe: Das M-Wort. Stuttgart 2025.
• Jason Stanley: Wie Faschismus funktioniert. Neu-Isenburg 2024.
• Ruprecht Polenz: Tu was! München 2024.
• Quinn Slobodian: Kapitalismus ohne Demokratie. Frankfurt 2023.
• Johannes Plagemann, Henrik Maihack: Wir sind nicht alleine. München 2023.
• Michael J. Sandel: Vom Ende des Gemeinwohls. Frankfurt 2020.
• Wolfgang Kraushaar: Der Griff nach der Notbremse. Berlin 2012.



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