Wir diskutieren derzeit viel über „Polarisierung“ im öffentlichen und politischen Raum. Der Soziologe Nils Kumkar formulierte in seinem gleichnamigen Buch die These, Polarisierung erfülle hier kommunikative Funktionen der Ordnung und Selbstverständigung in komplexen Diskurslagen, dabei sei die Bevölkerung in vielen konkreten Punkten gar nicht so gespalten. Darüber kann man geteilter – oder gespaltener – Meinung sein, aber die These ist erst einmal nicht unplausibel.
Das Phänomen der Polarisierung kennt man natürlich auch aus anderen Kontexten, man erinnere sich nur an die erbitterten Debatten in der Philosophie, vom Marxismus bis zur Postmoderne. Polarisierte Debatten machen einerseits Fronten deutlich, sie können, wie Kumkar sagt, Übersichtlichkeit herstellen, sie haben andererseits aber auch das Potential zur Eskalation mit einem Überschwappen der Unversöhnlichkeit aus dem Papier (oder dem Internet) ins reale Leben.
In der Psychiatrie, oder vorsichtiger gesagt, im Feld der psychischen Gesundheit, ist vor kurzem auch ein Streit eskaliert. In der DGVT-Zeitschrift „Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen“ gab es im letzten Jahr ein Schwerpunktheft zu ADHS, gefolgt von einem bitterbösen Briefwechsel in Ausgabe 1/2025 und einem Nachklapp in der Ausgabe 2/2025. Der Polarisierungskern: Ist ADHS eine psychische Krankheit, ist ADHS eine Hirnkrankheit, ist ADHS ein Wort für irgendetwas anderes, z.B. eine „neurodiverse“ Disposition oder vielleicht auch „nur“ ein wie auch immer bedingtes Problem mit sozialen Normen?
Ich bin kein Fachmann für ADHS und die mit diesem Streit verbundenen Grundsatzfragen sind schwierig, dazu sei z.B. auf den Sammelband „Krankheitstheorien“ von Thomas Schramme oder auf das Buch „Der Begriff der psychischen Krankheit“ von Andreas Heinz verwiesen, oder näher an der aktuellen ADHS-Debatte „Die Vermessung der Psychiatrie“ von Stefan Weinmann. Ich will daher auch nichts inhaltlich zur Frage, was ist ADHS vor dem Hintergrund unterschiedlicher Krankheitstheorien, sagen.
Bemerkenswert finde ich, dass auch hier der Streit die Arena des Austausches von Argumenten verlassen hat und ins reale Leben eingedrungen ist. Der renommierte ADHS-Forscher Manfred Döpfner hat wutentbrannt den wissenschaftlichen Beirat der DGVT-Zeitschrift verlassen. Er sieht das Schwerpunktheft als gezielte wissenschaftliche Irreführung und verlangt Konsequenzen: „Ich fordere daher den Rücktritt der Herausgeber der Zeitschrift“, so endet sein Leserbrief in der Ausgabe 1/2025. Das wird nicht gehen, weil die Zeitschrift von der Fachgesellschaft DGVT herausgegeben wird, die kann nicht zurücktreten. Ob er den Rest des wissenschaftlichen Beirats meint oder die Redaktionskommission, sei dahingestellt. Jedenfalls sollen Köpfe rollen. Der Psychotherapeut Thorsten Padberg, der das Schwerpunktheft betreut hatte, im Streit auf der anderen Seite, verteidigt seine Sicht der Dinge in der Zeitschrift argumentativ, aber der Streit hat ihn auch außerhalb dieses Rahmens eingeholt, man übt Druck auf ihn in seinen beruflichen Engagements aus.
Die Gremien der Zeitschrift versuchen die Wogen zu glätten, sie werden sich vermutlich wie so oft mit der Zeit ohnehin glätten. Was lernt man daraus? Dass es in der Wissenschaft mitunter zugeht wie im wirklichen Leben. Habermas‘ „herrschaftsfreier Diskurs“ kam hier ersichtlich so wenig zum Tragen wie Poppers Vorstellungen zur sachlichen, empirisch gesteuerten Theoriendynamik. Normative Ideale haben es auch in der Wissenschaft schwer. Wirklich verwunderlich ist das nicht, schließlich sind manche Standpunkte, wenn wir sie uns erst einmal mühsam erarbeitet, angeeignet haben, doch mehr mit unserer Identität verwachsen als ein paar Schuhe, die wir vielleicht auch mögen, aber meist schmerzfrei ablegen, wenn sie nichts mehr taugen. Mit einer „Lebensform“, mit dem, was unsere Identität ausmacht, tun wir uns verständlicherweise mit dem Ablegen schwerer.



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