Bei der Vorbereitung meines Vortrags „Pottwal – Mythos und Wirklichkeit“ fiel mir auch wieder die Publikation „The face that sank the Essex: potential function of the spermaceti organ in aggression“ (Carrier, Deban & Otterstrom, 2002) in die Hände.
Die Geschichte der „Essex“, ihre Beziehung zu Melvilles Roman „Moby Dick“ und die Nase des Pottwals ist es wert, erzählt zu werden.
Melvilles Roman „Moby Dick“ handelt von Kapitän Ahab, der mit dem Walfänger „Pequod“ den weißen Pottwal „Moby Dick“ jagt. Melvilles Werk ist eine fesselnde Dokumentation des Pottwal-Fangs dieser Zeit und bietet viele Informationen über die Biologie dieser Riesen des Ozeans. Die Vorstellung, dass ein großer Pottwalbulle als Haremsmeister über seine Gruppe Weibchen wacht, hat sich bis vor wenigen Jahrzehnten gehalten. Erst seit den 80-er Jahren des letzten Jahrhunderts wissen wir, vor allem durch die bahnbrechende Forschungsarbeit von Hal Whitehead und seiner Arbeitsgruppe, mehr über das Verhalten der Pottwale.
Geheimnisvolle graue Riesen der Hochsee
Pottwale sind Tiere der Hochsee, die einen großen Teil ihres Lebens unter Wasser verbringen. Erst wenn diese Wale stranden oder von Walfängern erlegt werden, können Menschen hautnah an sie herankommen und sie untersuchen. Die lebenden Tiere im tiefen Ozean zu erforschen, ist eine große Herausforderung, die erst durch neue Forschungsmethoden und den Technologien wie Sonar und Videokameras bewältigt werden konnte.
Die grauen Riesen mit dem gewaltigen Kopf waren unter den Walfängern des 19., 20. und 21. Jahrhunderts gleichermaßen begehrt und berüchtigt: Ihr einzigartiges Kopföl, das „Spermaceti“-Öl, war eine wertvolle Ressource. Das milchig-zähflüssige Fett konnte bleibt auch bei niedrigen Temperaturen flüssig und verbrennt ohne Ruß. Erst seit etwa 1960 gibt es industriell hergestellten Ersatz dafür.
Der Pottwal war aber keine leichte Beute, sondern hat auf die Aggression der Walfänger aggressiv reagiert.
Herman Melville hat sich die Geschichte um den großen alten Bullen, der am Ende das hölzerne Schiff seiner Peiniger rammt und versenkt, nicht ausgedacht.
Zu seiner Zeit gab es tatsächlich einen riesigen weißen Walbullen mit dem Namen „Moha Dick“. Auch viele andere Bestandteile seines Romans sind dokumentarisch. Melville wusste genau, worüber er schrieb: er war selbst eine Weile an Bord eines amerikanischen Walfängers gefahren und hatte mit vielen anderen Walfängern gesprochen.
Wal versus Whaler
Wir wissen heute sicher, dass in der Zeit der hölzernen Segelschiffe mindestens drei Walfänger von Pottwalbullen versenkt worden sind: 1821 traf es die „Essex“ und 1851 die „Ann Alexander“. (Philbrick, 2000, s. u.). Berzin (1971, s. u.) nennt einen weiteren Angriff auf die „Parker Cook“ und beruft sich auf „Starbuck, 1878“ (A history of the American Whale Fishery from ist earlier Inception to the Year 1976).
Die „Essex“ war ein Walfangschiff aus Nantucket, 27 Meter lang, mit einem Rumpf aus massiver Eiche und Pinie, mit Kupfer beschlagen. Sie war zur Zeit des Unfalls schon 20 Jahre alt und ein vergleichsweise kleines Schiff, aber voll intakt und seetüchtig. Durch einen Sturm kurz nach dem Auslaufen hatte sie allerdings einen Teil ihrer Fangboote verloren, nur drei seetüchtige Boote waren übrig geblieben.
Als der Walfänger im Pazifik dann zwei Pottwale harpuniert hatte, so die Historie, griff ein sehr großer Bullevon über 20 Meter Länge an und versenkte das hölzerne Schiff mit zwei gezielten Rammstößen seines Kopfes. Die Besatzung verließ das sinkende Schiff und fand sich im offenen Südpazifik in den verbliebenen kleinen Fangbooten wieder. Diese Boote waren Nußschalen in der Einöde des Meeres und boten keinen Schutz vor der Witterung. Der Südpazifik war damals für die Nordamerikaner nahezu Terra incognita, die Südseeinseln waren bewohnt von Kannibalen und anderen Wilden. Darum entschlossen sich die Besatzungen, nicht die näher liegenden pazifischen Inseln anzusteuern, sondern machten sich auf den Weg zur 6000 Kilometer entfernt liegenden Küste Südamerikas.
Ein waghalsiges Unternehmen!
Die meisten von ihnen kamen um, ertranken, verdursteten oder wurden von ihren Kameraden gegessen. Nathaniel Philbrick (s. u.) schildert in seinem Buch „In the heart of the sea“ (Deutscher Titel: „Im Herzen der „See“) das Unglück und die qualvolle Reise der Überlebenden.
Der ARTE-Dokumentarfilm „Auf den Spuren von Moby Dick“ (s. u.) erzählt die Geschichte der „Essex“ und die enge Verknüpfung vom amerikanischen Walfang und dem Beginn des Kapitalismus.
“Potential function of the spermaceti organ in aggression”?
Carrier et al (2002, s. u.) stellen die Hypothese auf, die Nase des Pottwals sei eine „battery ram“ – ein Sturmbock. Sie interpretieren die einzigartige Konstruktion des Junk (s. , zu dem es bei keinem anderen lebenden Wal ein Pendant gibt, als zentrales Organ im Kommentkampf erwachsener Pottwalbullen: „the greatly enlarged and derived melon of sperm whales, the spermaceti-organ, evolved as a battering ram to injure the opponent“ in male-male interaction.
Dazu haben sie eine Reihe von theoretischen Experimenten zur Belastbarkeit der Pottwalnase durchgeführt und verweisen auf Kommentkämpfe anderer Säugetiere. Freilandbeobachtungen von kämpfenden „Moby Dick“-Verwandten haben sie nicht.
Ist der wuchtige Rammstoß mit dem Kopf wirklich eine „normale“ Verhaltensweise von „Moby Dick“?
Kommentkämpfe kommen bei vielen Tierarten vor: Kämpfe der erwachsenen männlichen Tiere, die um Weibchen und Territorien kämpfen. Sie sind zum Kräftemessen zweier Rivalen und laufen nach strengen Ritualen ab. Dabei kann es zu Verletzungen kommen, es kann auch Blut fließen – aber das Ziel ist nicht, den Gegner zu töten. In der Regel stehen die Gegner Kopf an Kopf und kämpfen kontrolliert mit Stirn, Hörnern, Geweih, Zähnen, Hufen, etc. Bei Tierarten, die Kommentkämpfe austragen, sind die Männchen oft wesentlich größer als die Weibchen und haben stark entwickelte Stirnen, Hörner, Geweihe oder Zähne.
Erwachsene Pottwal-Männchen haben Narben im vorderen Bereich ihrer gewaltigen Köpfe: Auf der dunkelgrauen Haut sind deutliche Kratzer in Linien und Kurven „eingeritzt“.
Der Zahnabstand beweist: Die Zahnspuren stammen von anderen Pottwalen. Manchmal sind auch die Spuren von Orcazähnen zu sehen, aber das ist eine andere Geschichte.
Zahnspuren nur im vorderen Kopfbereich und nur bei erwachsenen Bullen sind ein starker Hinweis auf Kommentkämpfe. Angeblich sollen die Bullen dabei ihre Unterkiefer verhaken, Spuren davon sind etwa beschädigte Zähne und gebrochene oder sogar abgerissene Unterkiefer.
Augenzeugenberichte sind Mangelware.
Der russische Pottwalexperte Berzin (1971, s. u.) hat in seiner sehr detaillierten Monographie „The Sperm Whale“ den damals aktuellen Stand der Forschung unter Berücksichtigung aller englischsprachigen, russischen und japanischen Quellen wiedergegeben. Er kommt auf gerade mal vier moderne Berichte von kämpfenden Pottwalbullen.
Hal Whitehead bringt ebenfalls nur die historischen Augenzeugenberichte, moderne kennt er nicht. Und Whitehead hat Jahrzehnte seines Lebens mit den Tieren verbracht, er ist sozusagen der „Pottwal-Papst“ und eine sehr glaubwürdige Quelle.
Der Biologe interpretiert die Seltenheit der Berichte über kämpfende Männchen so, dass sie selten und kurz sind (Whitehead 2003, s. u.: S. 280). Er selbst hat vor Chile eine solche kurze Begegnung gesehen: Ein einzelnes Männchen schwamm auf ein Pärchen zu, dann kam es zur Rangelei – größtenteils unter Wasser – zuletzt umschloss ein Bulle mit seinen Kiefern den Schwanz des Rivalen. Daraufhin zog sich eines der Männchen – vermutlich das unterlegene – schnell zurück.
Whitehead meint, dass Pottwale, die sich gegenseitig beträchtlichen Schaden zufügen könnten, Kämpfen wahrscheinlich meistens aus dem Weg gehen. Über die Sonarortung könnten sie schon Größe und vermeintliche Stärke des Gegners abschätzen.
Carriers Interpretation der Pottwalnase als Sturmbock (battery ram) teilt er nicht. Auf S. 319 schreibt er dazu: „there are a number of problems with this hypothesis as it stands.“ Zunächst haben auch die weiblichen Pottwale eine Melone, die etwa 20 % ihres Körpergewichts ausmacht und genauso hoch entwickelt ist wie die der Männchen. Die Melone der Männchen ist zwar wesentlich größter, aber Whitehead leitet aus ihrer Funktion als Akustikorgan eher eine geschlechtsspezifische akustische Nutzung ab. Die akustischen Signale dienen zur Darstellung der Paarungsbereitschaft und zum Abschätzen der Größe und Stärke des Gegners und würde die Tiere vor schweren Verletzungen bewahren.
Rammstöße, die hölzerne Schiffe zerbrechen, würden auch einen Gegner im Kommentkampf schwer verletzen. Das liegt aber nicht im Sinne der Arterhaltung.
Dazu halte ich es für wenig wahrscheinlich, dass die Wale ihre hochkomplexen Nasen-Organe für Rammstöße riskieren. Von der Funktionsfähigkeit der „Nase“ hängt ihr Überleben ab. Ohne funktionierendes Sonar und Spermacetiorgan wären sie in Tiefe der See blind und könnten weder Nahrung finden noch den Kontakt zu ihrer Gruppe halten.
Aus genau diesem Grund stimme ich Whitehead zu:
Moby Dick hat seine Nase sicherlich nicht serienmäßig als Rammbock genutzt.
Bettina Wurche
Zum Weiterlesen:
Die Pottwale – meine „kleinen“ Lieblinge aus der Bleiksdjupet
Der Pottwal, seine Supernase und die Jagd nach dem Riesen-Kalmar
Literatur:
A. A. Berzin (1971): „The Sperm Whale”. Edited by A. U. YABLOKOV. Pacific Scientific Research Institute of Fisheries and Oceanography. Izdatel’stvo „Pishchevaya Promyshlennost”, Moskva 1971.— Translated from Russian. Israel Program for Scientific Translations, Jerusalem 1972.
Carrier, David R.; Deban, Stephen M. & Otterstrom, Jason (2002): “The face that sank the “Essex”: Potential function of the spermaceti organ in aggression”; Journal of Experimental Biology; 205, pp. 1755 – 1763
Ellis, Richard (2011): „The Great Sperm Whale: A Natural History of the Ocean’s Most Magnificent and Mysterious Creature”
Nathaniel Philbrick (2000): “In the heart of the Sea”
Whitehead, Hal (2003) „Sperm Whales: Social Evolution in the Ocean“
und diverse andere Publikationen
TV-Produktion (sehr sehenswert!)
Auf den Spuren von Moby Dick (Dokumentarfilm von ARTE)
Die 300-jährige Geschichte des amerikanischen Walfangs ist eng verknüpft mit der Geschichte des amerikanischen Kapitalismus. […]
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