Nach
Astro-Themen und Romanik (1): Merseburger Planetarium, Dom und Zaubersprüche
und
Astro-Themen und Romanik (2): Die Himmelsscheibe von Nebra
kommt jetzt Teil 3 meines Reiseberichts auf der Straße der Romanik in Merseburg und Halle: Das Wiedersehen mit der Schamanin.

Skelett der Schamanin von Bad Dürrenberg (Landesmuseum Halle)Rendez-vous mit der Schamanin

Das Rätsel der SchamaninAuf dem Kopf trug die dunkelhäutige Frau mit den blauen Augen einen imposanten Kopfschmuck: Eine Geweihkappe. Eine Rehhaut bedeckte ihren Kopf und umhüllte wie ein Umhang ihren Rücken. Auf dem Kopf war ein Stück Rehschädel mit nach oben aufragenden Geweihspitzen befestigt. Zu beiden Seiten des Gesichts pendelten zwei polierte Eberhauer, vor dem Gesicht eine aus Tierzähnen aufgefädelte Kette. So rekonstruieren Archäologen und wissenschaftliche Zeichner die 9000 Jahre alte Tote, eine mutmaßliche Schamanin aus der Mittelsteinzeit.
Die Frau war 30 bis 35 Jahre alt geworden und wurde vor 9000 bis 8600 Jahren mit einem Säugling in den Armen begraben. Aufrecht hockend wurde sie geschmückt und mit Beigaben beigesetzt. Als das Grab 1934 im Kurpark Bad Dürrenbergs, im heutigen Sachsen-Anhalt, zufällig bei Kanalarbeiten entdeckt wurde, war es eine Sensation. Neue Forschungsergebnisse haben jetzt erstaunlich viele Details zu der geheimnisvollen Frau herausgefunden. Doch der Reihe nach…

Bei unserem ersten Besuch im Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte in Halle war ich nicht nur von der Himmelsscheibe von Nebra, dem Sonnenwagen von Trondheim und den kleinen Goldschiffchen, sondern auch von der Ausstellung zur Jung- und Mittelsteinzeit begeistert. Über diese frühe Ära wusste ich zu dem Zeitpunkt kaum etwas, darum machte ich mich neugierig auf der Rundgang. Zunächst trifft man in der Ausstellung einen paläolithischen Denker in Rodin-Pose, in stummer Kommunikation mit einem Waldelefanten-Skelett. Dann geht es ins pralle Steinzeitleben hinein: Die Museumspräsentation lässt eine Sippe von Jägern aus dem Unstruttal nicht nur in Stein-, Knochen- und anderen Objekten, sondern auch in farbigen Darstellungen und mit der Schilderung ihres Alltags im Wechsel der Jahreszeiten lebendig werden. Eine Person nimmt in dieser Jägersippe eine exponierte Stellung ein: eine mutmaßliche Schamanin.
Die farbige, lebensnahe Visualisierung im Stil einer Graphic Novel ist meiner Ansicht nach eine der besten Möglichkeiten zur Wissensvermittlung für ein breites Publikum und in Deutschland noch viel zu selten eingesetzt.

Der Schamanin – oder vielmehr ihrem kleinen Skelett mit dem grazilen Schädel – stand ich in einem kleinen abgeteilten Raum zum ersten Mal gegenüber und war sofort gebannt von der Visualisierung ihres Outfits. Es hat mich sehr an Schamanen der indigenen arktischen Völker erinnert, mit denen ich in Nordnorwegen in Kontakt kam, und an die sibirischen Schamanen, über die ich über meine Recherchen zu Georg Wilhelm Steller und seiner Erforschung Sibiriens viel gelernt habe. Damals hatte ich ungefähr 1000 Fragen, gern hätte ich noch viel mehr über sie gewusst, als dort zu lesen war. Bei meinem Besuch 2021 war sie zur weiteren Erforschung aus der Ausstellung entnommen worden.
Jetzt habe ich sie wieder getroffen! Die sorgfältige und interdisziplinäre Analyse hat diesem Sensationsfund eine ganze Reihe weiterer Geheimnisse entlockt, manches davon ist in der Ausstellung zu erfahren, anderes auf der Museums-Webseite und noch viel mehr im gerade erschienen Buch „Das Rätsel der Schamanin – Eine archäologische Reise zu unseren Anfängen“ von Kai Michel und Harald Meller. Ich bin noch nicht durch, aber es ist auf jeden Fall extrem spannend.

Bei seiner Entdeckung 1934 im Kurpark von Bad Dürrenberg bei Bauarbeiten musste das steinzeitliche Grab innerhalb weniger Stunden geborgen werden. Als die Bauarbeiter bei Arbeiten an der Wasserleitung auf die offensichtlich uralten Menschenkochen stießen, riefen sie örtliche Lehrer zu Hilfe, die dann wieder die Landesarchäologen informierten. Einigen Archäologen, Anthropologen und Rassenkundlern passte der ungewöhnliche Fund perfekt in ihren Mythos von einem teutonischen Ur-Arier der frühen oder mittleren Steinzeit als Gründer der starken, blonden, blauäugigen „Rasse“. Bis dahin war wissenschaftlicher Konsens, dass die Indogermanen aus dem Osten eingewandert waren, was den Nazis und ihren wirren Arier-Thesen nicht gut passte. Jetzt war hier ein Skelett aus der Steinzeit aufgetaucht, diese Relikte waren älter als bisherige Funde und eine Sensation. Die Schädelvermessung des neuen Funds leitete Gerhard Heberer, der Zoologie, Anthropologie sowie Ur- und Frühgeschichte studiert hatte. Heberer vermaß das Skelet und vor allem den Schädel. Das 1,55 Meter kleine Skelett machte er 1,65 Meter groß und den Schädel beschrieb er als den eines erwachsenen Mannes nordischen Typs. Über die ebenfalls im Grab befindlichen Fragmente eines Kindes verlor er keine Silbe, die Grabbeigaben und Rötelpigmente fanden insoweit Beachtung, als das Grab offensichtlich einer hochgestellten Persönlichkeit gehört haben musste.

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Kommentare (3)

  1. #1 RPGNo1
    13. Dezember 2022

    Ein Super-Bericht. Vielen Dank! 🙂

    PS: Die neueste Entwicklung des Schamanen ist übrigens der Plastikschamane, der gutgläubigen esoterisch veranlagten Menschen gerne das Geld aus der Tasche zieht.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Neoschamanismus
    https://en.wikipedia.org/wiki/Plastic_shaman

  2. #2 Bettina Wurche
    13. Dezember 2022

    @RPGNo1: Danke, den Ausdruck kannte ich noch nicht. der trifft es ganz gut : ). Ja genau solche Auswüchse erwähnen Meller und Michel.

  3. #3 rolak
    13. Dezember 2022

    Die neueste Entwicklung des Schamanen

    ^^NoNa, damals™ ´77, als ich Foxy (US-OR) auf dem EuropaTrip mit ihrer knucklehead erleben durfte, standen wir eines schönen Tages vor ner Buchhandlung in D´Dorf, als sie losfluchte ~’how on earth did this plastic shaman shit make it across the ocean?’ Im Schaufenster prangte ein Machwerk, das fast fuffzich Jahre später immer noch beworben und aufgelegt wird, durch und durch Banane.
    Yep, Plastination war ein Begriff schon lange vor von Hagens… Und das Miterleben des Aufschwungs abgedrehter Esoterik in D war&ist wahrlich ein bitteres Mißvergnügen.

    btt: Mal wieder ein Artikel, der sich ungemein spannend liest und darüber hinaus (zumindest mir) einiges völlig Neues vorstellt. Besser gehts kaum 😉