Der bulgarische Ethnologe Laszlo Vajda war nach dem ungarischen Volksaufstand 1965 in die die Bundesrepublik geflüchtet und brachte sein umfangreiches Wissen über Schamanismus in den westlichen Kulturkreis mit, Meller hat bei ihm eine Weile studiert. Vajda sah die Vereinnahmung des Schamanismus durch moderne EuropäerInnen sehr kritisch und setzte deren phantasievollen Ausschmückungen und Aneignungen eine pragmatische Betrachtung entgegen. Vajda hat den Schamanismus als Komplex beschrieben, als ein Set unterschiedlicher Phänomene. Einige davon sind sehr alt (30.000), andere jünger, erst wenn mehrere davon in einer plausiblen Verknüpfung auftauchen, spricht er von Schamanismus:
1. rituelle Ekstase, also das Heraustreten der Seele aus dem eigenen Körper (durch psychedelische Kräuter und Pilze, Trommeln oder plötzliche Ohnmachtsanfälle). Dann sinken die Lebensfunktionen anormal ab: Puls, Herzschlag und Atmung verflachen und verlangsamen, der Körper wird unempfindlich gegen Hitze, Kälte und Licht
2. Tiergestaltige Hilfsgötter, die er/sie zur Unterstützung herbeiruft
3. Berufung (Geister wählen den Schamanen/die Schamanin aus, durch Vererbung oder körperliche Anomalien)
4. Initiationsritus (etwa über einen mystischen Tod und die Wiederbelebung)
5. Jenseitsreise
6. Kosmologie (die schamanische Reise durch Erde, Himmel und Unterwelt)
7. Schamanenkampf (ausgetragen durch die Hilfsgeister)
8. Schamanenausrüstung: Mantel und Kopfbedeckung, die eine Tiergestalt (Vögel oder Hirsche) symbolisieren, Trommel.

Vor 9000 Jahren war Europa von wenigen Tausend Menschen bewohnt, die Jäger- und Sammler-Gemeinschaften lebten auch zumindest saisonal entlang der Saale in Zelten, wie einige Funde heute zeigen.
Ihre sozialen Beziehungen müssen sie, so Meller, ohne Schrift und Institutionen durch einen gemeinsamen Kosmos aus Geschichten und Mythen (Kultur) zusammengehalten und überliefert haben. Dabei hatten sie ganz gewiss auch spirituelle Führer, die ihnen dabei hilfreich zur Seite standen.

Menschengeschichte ist Klimageschichte

„Menschengeschichte ist Klimageschichte“ lautet eine der Überschriften des Buches. Sie ist absolut zutreffend (und den vielen Klimakrisen-LeugnerInnen und VerharmloserInnen in ihrer Ausprägung leider immer noch nicht bewusst).
Das Klima zur Lebenszeit der Schamanin wird in der Ausstellung durch einen Birkenwald symbolisiert. Nach dem Rückzug der Gletscher und der offenen Eiszeitlandschaft breiteten sich Wälder aus, die Menschen mussten sich schnell an die sich schnell ändernde Landschaft anpassen. Konnten sie vorher große Herden von Pferden und Rentieren jagen, mussten sie nun Waldjäger und Binnenfischer werden. In der Zeit der Schamanin war Europa von Wäldern bedeckt, es gab noch keine Landwirtschaft oder feste Siedlungen. Die wenigen Menschen konnten saisonal ihrer Beute folgen und Nahrungsmittelvorkommen nutzen, wo sie gerade vorkamen.
Das Alter der Geweihmasken, die ja auch auf einen schamanischen Kontext hinweisen, deutet auf eine Zäsur im Leben der Steinzeitmenschen hin: Der Zeitpunkt liegt im Bereich der sogenannten Misox-Schwankung (8.2-kiloyear event).
Die kurzfristige und scharf abgegrenzte Klimaveränderung rund 8200 Jahre BP, ausgelöst durch eine Unterbrechung der thermohalinen Zirkulation des Nordatlantikstroms, der nördlichen Verlängerung des Golfstroms. So kam es im mesolithischen (Mittelsteinzeit, Jüngere Dryaszeit) Mittel-, Nord- und Westeuropa im Verlauf weniger Jahrzehnte zu einer regional unterschiedlichen, aber signifikanten Abkühlung um durchschnittlich etwa 2°C. Die plötzliche Abkühlung steht vermutlich im Kontext mit dem Zusammenbruch des Laurentischen Eisschilds, der einst große Teile Nordamerikas bedeckte.
Die klimatischen Auswirkungen der Misox-Schwankung sind in der Vegetationsentwicklung Europas gut hundert Jahre lang nachweisbar. Die Wiedererwärmung erfolgte nach weniger als 100 Jahren ähnlich schnell wie die Abkühlung, nachdem sich die Strömungsverhältnisse im Nordatlantik wieder stabilisiert hatten. Diese rapide Klimaveränderung ist in der Vegetation und im grönländischen Eis über Bohrkerne nachweisbar. Ihre Auswirkungen reichten bis in den Vorderen Orient, so kam es etwa in Mesopotamien zu Dürren und einem plötzlichen Halbwüsten-Klima. Klimaveränderungen von 2 °C erscheinen minimal, führen aber zu großflächigen Migrationen von Menschen und Tieren, in Menschengruppen kann es zum Aufstieg und Niedergang ganzer Kulturen führen. Natürliche Klimaschwankungen hat es also schon immer gegeben, sie sind allerdings auch mit Massensterben gekoppelt.

Sofern keine anderen Quellen angegeben sind, stammen die Informationen aus dem Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte und natürlich aus dem Buch. Gerade im Buch werden Methoden ausführlich dargestellt, die beteiligten Forschenden namentlich vorgestellt und alle Resultate und Schlussfolgerungen ausführlich diskutiert.
Ich habe hier nur einige wesentliche Informationen extrem verkürzt wiedergegeben. Die Schlussfolgerungen werden im Buch ausführlich diskutiert.

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Kommentare (3)

  1. #1 RPGNo1
    13. Dezember 2022

    Ein Super-Bericht. Vielen Dank! 🙂

    PS: Die neueste Entwicklung des Schamanen ist übrigens der Plastikschamane, der gutgläubigen esoterisch veranlagten Menschen gerne das Geld aus der Tasche zieht.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Neoschamanismus
    https://en.wikipedia.org/wiki/Plastic_shaman

  2. #2 Bettina Wurche
    13. Dezember 2022

    @RPGNo1: Danke, den Ausdruck kannte ich noch nicht. der trifft es ganz gut : ). Ja genau solche Auswüchse erwähnen Meller und Michel.

  3. #3 rolak
    13. Dezember 2022

    Die neueste Entwicklung des Schamanen

    ^^NoNa, damals™ ´77, als ich Foxy (US-OR) auf dem EuropaTrip mit ihrer knucklehead erleben durfte, standen wir eines schönen Tages vor ner Buchhandlung in D´Dorf, als sie losfluchte ~’how on earth did this plastic shaman shit make it across the ocean?’ Im Schaufenster prangte ein Machwerk, das fast fuffzich Jahre später immer noch beworben und aufgelegt wird, durch und durch Banane.
    Yep, Plastination war ein Begriff schon lange vor von Hagens… Und das Miterleben des Aufschwungs abgedrehter Esoterik in D war&ist wahrlich ein bitteres Mißvergnügen.

    btt: Mal wieder ein Artikel, der sich ungemein spannend liest und darüber hinaus (zumindest mir) einiges völlig Neues vorstellt. Besser gehts kaum 😉