Nach
Astro-Themen und Romanik (1): Merseburger Planetarium, Dom und Zaubersprüche
und
Astro-Themen und Romanik (2): Die Himmelsscheibe von Nebra
kommt jetzt Teil 3 meines Reiseberichts auf der Straße der Romanik in Merseburg und Halle: Das Wiedersehen mit der Schamanin.

Skelett der Schamanin von Bad Dürrenberg (Landesmuseum Halle)Rendez-vous mit der Schamanin

Das Rätsel der SchamaninAuf dem Kopf trug die dunkelhäutige Frau mit den blauen Augen einen imposanten Kopfschmuck: Eine Geweihkappe. Eine Rehhaut bedeckte ihren Kopf und umhüllte wie ein Umhang ihren Rücken. Auf dem Kopf war ein Stück Rehschädel mit nach oben aufragenden Geweihspitzen befestigt. Zu beiden Seiten des Gesichts pendelten zwei polierte Eberhauer, vor dem Gesicht eine aus Tierzähnen aufgefädelte Kette. So rekonstruieren Archäologen und wissenschaftliche Zeichner die 9000 Jahre alte Tote, eine mutmaßliche Schamanin aus der Mittelsteinzeit.
Die Frau war 30 bis 35 Jahre alt geworden und wurde vor 9000 bis 8600 Jahren mit einem Säugling in den Armen begraben. Aufrecht hockend wurde sie geschmückt und mit Beigaben beigesetzt. Als das Grab 1934 im Kurpark Bad Dürrenbergs, im heutigen Sachsen-Anhalt, zufällig bei Kanalarbeiten entdeckt wurde, war es eine Sensation. Neue Forschungsergebnisse haben jetzt erstaunlich viele Details zu der geheimnisvollen Frau herausgefunden. Doch der Reihe nach…

Bei unserem ersten Besuch im Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte in Halle war ich nicht nur von der Himmelsscheibe von Nebra, dem Sonnenwagen von Trondheim und den kleinen Goldschiffchen, sondern auch von der Ausstellung zur Jung- und Mittelsteinzeit begeistert. Über diese frühe Ära wusste ich zu dem Zeitpunkt kaum etwas, darum machte ich mich neugierig auf der Rundgang. Zunächst trifft man in der Ausstellung einen paläolithischen Denker in Rodin-Pose, in stummer Kommunikation mit einem Waldelefanten-Skelett. Dann geht es ins pralle Steinzeitleben hinein: Die Museumspräsentation lässt eine Sippe von Jägern aus dem Unstruttal nicht nur in Stein-, Knochen- und anderen Objekten, sondern auch in farbigen Darstellungen und mit der Schilderung ihres Alltags im Wechsel der Jahreszeiten lebendig werden. Eine Person nimmt in dieser Jägersippe eine exponierte Stellung ein: eine mutmaßliche Schamanin.
Die farbige, lebensnahe Visualisierung im Stil einer Graphic Novel ist meiner Ansicht nach eine der besten Möglichkeiten zur Wissensvermittlung für ein breites Publikum und in Deutschland noch viel zu selten eingesetzt.

Der Schamanin – oder vielmehr ihrem kleinen Skelett mit dem grazilen Schädel – stand ich in einem kleinen abgeteilten Raum zum ersten Mal gegenüber und war sofort gebannt von der Visualisierung ihres Outfits. Es hat mich sehr an Schamanen der indigenen arktischen Völker erinnert, mit denen ich in Nordnorwegen in Kontakt kam, und an die sibirischen Schamanen, über die ich über meine Recherchen zu Georg Wilhelm Steller und seiner Erforschung Sibiriens viel gelernt habe. Damals hatte ich ungefähr 1000 Fragen, gern hätte ich noch viel mehr über sie gewusst, als dort zu lesen war. Bei meinem Besuch 2021 war sie zur weiteren Erforschung aus der Ausstellung entnommen worden.
Jetzt habe ich sie wieder getroffen! Die sorgfältige und interdisziplinäre Analyse hat diesem Sensationsfund eine ganze Reihe weiterer Geheimnisse entlockt, manches davon ist in der Ausstellung zu erfahren, anderes auf der Museums-Webseite und noch viel mehr im gerade erschienen Buch „Das Rätsel der Schamanin – Eine archäologische Reise zu unseren Anfängen“ von Kai Michel und Harald Meller. Ich bin noch nicht durch, aber es ist auf jeden Fall extrem spannend.

Bei seiner Entdeckung 1934 im Kurpark von Bad Dürrenberg bei Bauarbeiten musste das steinzeitliche Grab innerhalb weniger Stunden geborgen werden. Als die Bauarbeiter bei Arbeiten an der Wasserleitung auf die offensichtlich uralten Menschenkochen stießen, riefen sie örtliche Lehrer zu Hilfe, die dann wieder die Landesarchäologen informierten. Einigen Archäologen, Anthropologen und Rassenkundlern passte der ungewöhnliche Fund perfekt in ihren Mythos von einem teutonischen Ur-Arier der frühen oder mittleren Steinzeit als Gründer der starken, blonden, blauäugigen „Rasse“. Bis dahin war wissenschaftlicher Konsens, dass die Indogermanen aus dem Osten eingewandert waren, was den Nazis und ihren wirren Arier-Thesen nicht gut passte. Jetzt war hier ein Skelett aus der Steinzeit aufgetaucht, diese Relikte waren älter als bisherige Funde und eine Sensation. Die Schädelvermessung des neuen Funds leitete Gerhard Heberer, der Zoologie, Anthropologie sowie Ur- und Frühgeschichte studiert hatte. Heberer vermaß das Skelet und vor allem den Schädel. Das 1,55 Meter kleine Skelett machte er 1,65 Meter groß und den Schädel beschrieb er als den eines erwachsenen Mannes nordischen Typs. Über die ebenfalls im Grab befindlichen Fragmente eines Kindes verlor er keine Silbe, die Grabbeigaben und Rötelpigmente fanden insoweit Beachtung, als das Grab offensichtlich einer hochgestellten Persönlichkeit gehört haben musste.

Skelett der Schamanin von Bad Dürrenberg (Landesmuseum Halle)

Skelett der Schamanin von Bad Dürrenberg (Landesmuseum Halle)

Als Zoologin mit einem Faible für Schädelvermessung und Skelette halte ich Kraniometrie und Morphometrie für wichtig, denn sie sind die Basis der zoologischen Taxonomie. Auch wenn ich meine Diplomarbeit über Walschädel (Schnabelwale) geschrieben habe, kann ich die Schädel anderer Säugetiere und auch Menschen zumindest ganz gut einordnen. Ein oberflächlicher Blick auf den Schädel der Schamanin zeigt einen zierlichen Bau ohne den Ansatz von Augenbrauenwülsten und eine genauso grazile Kinnpartie. Die geschlossenen Knochennähte zeigen klar, dass es sich um die Relikte eines Erwachsenen handelt. Wenn nun ein arischer Anthropologie-Professor einen so ausgeprägt weiblichen Schädel als den eines Mannes „erkennt“, erfüllt mich das nicht gerade mit Ehrfurcht vor seinen wissenschaftlichen Fähigkeiten. Entweder war er fachlich nicht in der Lage, selbst so eindeutige Merkmale zuzuordnen oder er hat absichtlich gelogen, weil es besser in die Ideologie passte. Beides ist mal wieder der Nachweis, dass Ideologie einer wissenschaftlichen Betrachtung nicht guttut. Für seinen blonden, blauäugigen Ur-Germanen als Stammvater der nordischen Rasse erhielt Heberer 1938 einen Lehrstuhl an der Universität Jena und der Ur-Germane verschwand im Archiv.

Erst zu DDR-Zeiten nahm wieder ein Wissenschaftler den Schädel in die Hand und bestimmte ihn korrekt als weiblich. Dann lagen die Überreste der steinzeitlichen Frau und des Kindes wieder für Jahrzehnte im Dornröschenschlaf. Nach der Wende, in den 1990-er Jahren, kam es erneut zu einer Nachuntersuchung. Aber die Frage, ob es sich bei den beiden Menschen um Mutter und Kind handelte, konnte immer noch nicht beantwortet werden. Die DNA-Analyse dieser Zeit war für so altes Knochenmaterial noch nicht ausgereift genug.
Erst die Methoden des 21. Jahrhunderts mit der forensischen Archäologie ermöglichten auch aus älteren Knochen eine exakte Kohlenstoffdatierung und brachten neue Ergebnisse. So führte 2019 ein Archäologenteam eine umfassende Nachgrabung durch. Dabei wurde das ursprüngliche Grab gefunden und als Blockbergung ins Museum gebracht. Außerdem wurde nahe der Grabstätte noch eine bis dahin unbekannte Grube mit zwei weiteren Hirschschädeln entdeckt und ebenfalls geborgen. So konnte später im Museum in langwieriger Arbeit die gesamte Grabfüllung genau untersucht werden, die eine Fülle weiterer Details ergaben.

Was die Archäologie-Forensik verrät

In zweijähriger Forschungsarbeit konnte das Team aus Archäologen, Genetikern, Anthropologen und Medizinern, koordiniert von Harald Meller, viele Fragen beantworten: Die vor 9000 Jahren aufwändig bestattete Frau war mit 30 bis 35 Jahren verstorben, sie wurde in hockender Position aufrecht bestattet, in einem achteckigen Grab. Das Grab der Schamanin ist das außergewöhnlichste je in Deutschland gefundene Steinzeitgrab und das älteste Sachsen-Anhalts. Gleichzeitig ist es wohl das älteste sicher nachweisbare Schamaninnengrab der Welt, so der Landesarchäologe Harald Meller.
Der männliche Säugling in ihren Armen war nicht ihr eigenes Kind – das hatte die Analyse der 2019 bei der Nachgrabung geborgenen fragilen Knöchelchen-Fragmente im Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig ergeben. Die Archäogenetiker rekonstruierten eine dunkle Haut sowie dunkle Haare und blaue Augen, die Gesichtsrekonstruktion ergänzte die Gesichtszüge. “Dank detektivischer Arbeit vieler Wissenschaftler können wir das Schicksal und Aussehen einer einzigartigen Frau rekonstruieren”, erklärte Meller gegenüber der Presse. Das zeige eindrucksvoll, was Archäogenetik heute leisten könne. “Deren Begründer Svante Pääbo hat völlig zurecht jetzt den Nobelpreis für Medizin erhalten” – Pääbö hatte den Nobelpreis für seine Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms bekommen. Pääbö leitet das Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig und erforscht in der Abteilung für Archäogenetik die Menschheitsgeschichte anhand der DNA archäologischer Funde. Sowohl die Frau als auch das Kind passten genetisch zu anderen Nachweisen der „westlichen Jäger und Sammler des Mesolithikums“, sie gehörten also zur regionalen Bevölkerung. Das ist wichtig, denn es bedeutet, dass die Frau keine Zugwanderte mit exotischen Angewohnheiten war, sondern dass sie sehr wahrscheinlich die damals regional üblichen Sitten und Gebräuche ausübte, wenngleich sie offensichtlich eine herausgehobene Position einnahm.

Die Zähne und Wangenknochen der Frau lassen eine mögliche Ursache ihres Todes erkennen: Einige Oberkiefer-Schneidezähne sind extrem abgerieben, so dass die Zahnmarkkanäle freiliegen. So konnten in den offen liegenden Wurzelkanälen eitrige Entzündungen entstehen. Nach und nach griff die Infektion auf das Knochengewebe im Bereich von Oberlippe und rechter Wange über und löste den Knochen auf. Diese Entzündung könnte schließlich zu einer Blutvergiftung geführt haben und dann zum Tod.
Die Neu-Untersuchungen des Skeletts und des Schädels ergaben noch einen weiteren interessanten Befund: Eine Fehlbildung im Bereich des Hinterhauptslochs (Foramen magnum) und der zweiten Nackenwirbels, des Axis. Dadurch könnte bei bestimmte Kopfhaltungen die Blutgefäße und Blutzufuhr zum Schädel eingeschränkt haben. Einige Wissenschaftler mutmaßen, dass die Frau zu Lebzeiten durch extreme Haltungen ihres Kopfes vielleicht sogar absichtlich eine Ohnmacht herbeiführen konnte.
Solche anderen Bewusstseinszustände und bewusste oder unbewusste Trancen durch berauschende Substanzen oder Medikamente wurden und werden mit Kontakten zur Geisterwelt assoziiert. Ein Beispiel dafür ist die in Sibirien entdeckte mumifizierte Skythen-Prinzessin Ukok. Sie ist wohl an Brustkrebs gestorben und hatte vermutlich zur Betäubung der Schmerzen des metastasierten Krebses Cannabis genommen.

Die körperliche Fehlbildung der Schamanin von Bad Dürrenberg könnte beabsichtigte oder unbeabsichtigte Trancezustände und Ohnmachten hervorgerufen haben und als eine Brücke zur Geisterwelt eingesetzt worden sein. Das ist allerdings Spekulation, einen letztendlichen Beweis gibt es dafür nicht.

Grabbeigaben der Schamanin: Bearbeitete Tierzähne

Grabbeigaben der Schamanin: Bearbeitete Tierzähne

Die reichen und ungewöhnlichen Grabbeigaben im Kontext mit der Fehlbildung lassen in ihr eine spirituelle Figur vermuten, eine Schamanin: Eine Sammlung winziger Schneidwerkzeugen aus Stein war offenbar ein Werkzeugsatz, aufbewahrt in einem Stück hohlen Kranichknochens. Außerdem wurden durchbohrte Keilerhauer und Hirschzähne gefunden, die wahrscheinlich zu dem Kopfschmuck gehörten. Dieser Kopfputz wird als Haube aus Rehschädel und -fell rekonstruiert, von deren Vorderkante die Hirschzähne hingen, die beiden langen, polierten Elfenbein-Hauer reichten rechts und links des Gesichts fast bis zu den Schultern. Diese außergewöhnlichen Grabbeigaben weisen auf den hohen Status und ihre herausragende Position hin. Diese Hirschkappe aus Fell, Schädel und Geweih erinnert an manche heutige Trachten indigener Schamanen und einige archäologische Funde aus Yorkshire, dem mesolithischen Star Carr. Die große Vielfalt der im Grab repräsentierten Tierarten waren sicherlich nicht nur ein Nahrungsvorrat für die Tote. Archäologen interpretieren aufgrund der ethnographischen Vergleiche mit indigenen Völkern der Gegenwart und Vergangenheit zumindest manche Objekte wie die Rehgeweihe, das Tierzahngehänge sowie die Schildkrötenpanzer als Requisiten schamanistischer Praktiken. Außerdem enthielt das Grab noch Reste vieler verschiedener Arten von Wald-Tieren.
Auf dem Boden der Grube fanden die Forscher Spuren, die wie Abdrücke eines Korbgeflechts aus Weidenruten aussehen, außerdem waren im Grab einige Rötelspuren zu sehen. Das sieht danach aus, als ob die beiden Leichen in einem Weidenkorb bestattet worden seien. Rötelstein ist eine weiche Mischung aus Ton und Hämatit (Fe2O3), dem roten Eisenoxidmineral. Als eines der wenigen roten Pigmente war Rötel rar und begehrt, es wurde seit der Altsteinzeit abgebaut und etwa bei Höhlenmalereien in Altamira eingesetzt. Das rote mineralische Pigment hatte zumindest in der Steinzeit garantiert eine kultische Bedeutung. Ein Rötelstein nebst einem Langknochen, dessen verfärbtes Ende offenbar zum Farbauftrag benutzt wurde, unterstreichen die wichtige Position der Frau.

Bei der Nachgrabung im Kurpark kam wenige Meter entfernt noch eine wertvolle Opfergabe zum Vorschein: Zwei bearbeitete Schädel mit Geweih von kapitalen Hirschen. Sogenannte Geweih-Kappen, wie sie auch aus anderen mesolithischen Fundstätten bekannt sind und die in einen kultischen Kontext gestellt werden. Die 21 Hirschmasken aus Star Carr sind allerdings mit zwei Löchern durchbohrt, während von den deutschen Reh- und Hirschmasken nur eine möglicherweise solche Löcher hatte. Wegen der schlechten Erhaltung des Materials ist das nicht genau zu sagen, „keksartig“ nennen die Präparatoren die Konsistenz. Die beiden Geweihkappen waren mit der Vorderseite zur Schamanin gerichtet in einer flachen Grube eingegraben worden und 600 Jahre jünger als die Tote.
Diese Hirschgeweihmasken untermauern die Annahme, die Tote sei Schamanin gewesen. Die Archäologen interpretieren diese spätere Opfergabe so, dass das Grab der Schamanin auch lange nach ihrem Tod über Jahrhunderte hinweg noch verehrt wurde, möglicherweise war ihr Grab eine Art Wallfahrtsstätte.

Der Ort für das Begräbnis war sorgfältig ausgewählt: Bad Dürrenberg ist wegen seiner Solequellen heute ein Heilbad, das salzige Wasser galt und gilt als Heilmittel für viele Leiden. Harald Meller und einige andere Forscher vermuten, dass die Schamanin die Sole zu heilkundlichen Zwecken gezielt eingesetzt hat. Salz war an sich schon kostbar, denn es war überlebenswichtig für die Konservierung von Nahrungsmitteln und zum Würzen. Sprudelnde Salzquellen müssen noch wesentlich beeindruckender gewesen sein und könnten aufgrund ihrer vielfältigen Nutzbarkeit neben dem praktischen auch einen mythologischen Wert gehabt haben. Ob die desinfizierende Wirkung von Salzwasser der Schamanin schon bekannt war, wissen wir nicht.

Saman, Schamanin und Schamanismus

Die Interpretation der Steinzeitbewohnerin als Schamanin, die Annahme von Schamanismus in steinzeitlichen Kulturen und der Schamanismus an sich werden im Buch ausführlich diskutiert. Der Begriff „Schamane“ ist nämlich ein koloniales Konstrukt.
Die Spurensuche nach dem Ursprung des Schamanenbegriffs führt tief in den Sumpf des russischen Kolonialismus. Zar Peter I und seine NachfolgerInnen trieben die Eroberung Sibiriens mit Nachdruck voran, der Fellhandel brachte ein Vermögen ein. Siedler und Kosaken beuteten die indigene Bevölkerung aus, misshandelten oder töteten sie. Da die sibirischen Indigenen nicht christlich waren, galten sie als minderwertige Menschen, gerade die „Zauberer“, „Medizinmänner“ und „-frauen“ sowie die Heilkundigen wurden durch Russen gezielt tabuisiert, dämonisiert und kriminalisiert. Darstellungen mit Hirschgeweih-Kopfschmuck erinnern an steinzeitliche Hirschkappen und die Mythen von Cernunnos, dem „Gehörnten Gott“ der Kelten.
Die brutale Kolonialisierung der sibirischen Völker stieß bei dem jungen deutschen Wissenschaftler Georg Wilhelm Steller auf scharfe Kritik. Steller gehörte zu den Wissenschaftlern, die Sibirien erforschen wollten, er reiste forschend durch Sibirien, sammelte Pflanzen, Tiere und ihre Anwendungen, sprach mit indigenen Menschen und reiste dann noch mit Kapitän Vitus Bering von der Küste Kamtschatkas über den Nordpazifik bis nach Alaska. Bei der Strandung auf der Bering-Insel sah und beschrieb Steller als erster Forscher die nach ihm benannte Seekuh, den Otter und die Pelzrobbe. Steller war zwar vor allem vor allem Botaniker und Mediziner, erforschte aber neben Pflanzen auch Tiere und Mineralien, außerdem beschrieb er die Völker Sibiriens und ihre Bräuche. Wegen seiner Botanik-Kenntnisse dokumentierte er auch die Ethnobotanik sorgfältig, also die Verwendung von Pflanzen in der Heilkunde und Ernährung der sibirischen Völker. So konnte er später einen Teil seiner schwer erkrankten Schiffskameraden retten und blieb selbst vom Skorbut verschont. In Stellers Aufzeichnungen finde sich auch Hinweise auf „Schamanen“, ihre Tätigkeiten, ihre Trachten und die von ihnen genutzten Gegenstände.

Unter der Überschrift „Die Erfindung der Schamanen“ gehen Meller und Michel scharf ins Gericht mit dem, was heute unter Schamanismus verbreitet und getrieben wird. Sie verurteilen die einfache Übertragung und Gleichsetzung von ethnologischen und archäologischen Befunden und „dröseln“ das Phänomen des Schamanismus auf. Zunächst gibt es zwei Lesarten des Schamanismus: Die eine versteht darunter naturalistische spirituelle Vorstellungen von Kulturen weltweit. Die zweite Lesart fasst Schamanismus enger und schreibt ihn nur den sibirischen Völkern zu, dabei ist die Trance ein wichtiges Element. Die wenigen Überlieferungen zeigen, dass es bei vielen Völkern nicht einen Schamanen gab, sondern eine Fülle von Personen, die Spiritualität und Heilkunde praktizierten, für Prophezeiungen zuständig waren oder noch andere besondere spirituelle Aufgaben wahrnahmen.
Die Übertragung spiritueller Vorstellungen von Menschen, die vor 9000 bis 30.000 Jahren gelebt haben auf heute lebende Menschen würde letzteren eine eigenständige kulturelle Entwicklung absprechen. Außerdem könne man die umherziehenden Jäger- und Sammlergemeinschaften der Steinzeit keinesfalls mit den sibirischen Rentiernomaden vergleichen, schließlich handelt es sich bei deren Rentierherden um halbdomestizierte Tiere. Rentierherden sind ein Besitzstand, wie ihn die Jäger und Sammler der Mittelsteinzeit sicherlich noch nicht hatten, das dürfte zu erheblichen Unterschieden in den sozialen Strukturen geführt haben.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die sibirischen Völker genauso wenig schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen haben, wie die Menschen der Steinzeit. Die Dokumentation der Sibirier erfolgte erst durch Europäer und deren koloniale und christliche „Brille“. Dabei könnte die Beschreibung von Geweihkappen auch zur Dämonisierung der spirituellen Personen gedient haben. So sind diese Personen von den Russen gezielt verfolgt worden, um die Identität der indigenen Völker und Kulturen zu zerstören, schon Steller hat nicht mehr die ursprünglichen Kulturen gesehen und beschrieben. Nach der russischen Revolution setzte sich ihre Verfolgung fort, da sie der Normierung des Menschen im Sozialismus und Kommunismus widersprachen.
Dadurch gibt es heute kaum authentische Aufzeichnungen, sondern nur vereinzelte sensationsheischende Reiseberichte über in Trance fallende Gestalten mit Teufelshörnern. Der Begriff saman bezeichnet bei den Tungusisch sprechenden Ewenken einen religiösen Spezialisten oder eine Spezialistin. Daraus wurde dann auf Umwegen „Schamane“, der von westlichen Gelehrten für alle Personen, die magisch-spirituellen Beistand oder Heilkräfte anboten, Magier, Zauberer, Propheten beiderlei Geschlechts genutzte Begriff. Ungeachtet der kulturellen und sprachlichen Diversität der sibirischen Völker wurde also ein intellektuelles Konstrukt geschaffen.
Immer mal wieder schwappten Halbwissen und Phantasie zu diesem mystischen Thema bis in die westlichen Industrienationen. In den 1960-er und 70-er Jahren wurde Esoterik im Kontext mit bewusstseinserweiternden Drogen zum neuen Lifestyle der Hippies, seitdem ist Schamanismus (was auch immer darunter verstanden werden mag) auch untrennbar ein Teil unserer westlichen Kultur. Seitdem ist er um definitiv unsibirische Begriffe wie „Karma“ oder „Aura“ erweitert worden.
Trotz all dieser Bedenken und Kritik haben sich Meller und die Archäologen dennoch für die Nutzung des Begriffes für diese Tote entschieden: Das Grab, die Knochen und die Beigaben liefern Hinweise auf Aspekte wie Trance und tierische Hilfsgeister.

Der bulgarische Ethnologe Laszlo Vajda war nach dem ungarischen Volksaufstand 1965 in die die Bundesrepublik geflüchtet und brachte sein umfangreiches Wissen über Schamanismus in den westlichen Kulturkreis mit, Meller hat bei ihm eine Weile studiert. Vajda sah die Vereinnahmung des Schamanismus durch moderne EuropäerInnen sehr kritisch und setzte deren phantasievollen Ausschmückungen und Aneignungen eine pragmatische Betrachtung entgegen. Vajda hat den Schamanismus als Komplex beschrieben, als ein Set unterschiedlicher Phänomene. Einige davon sind sehr alt (30.000), andere jünger, erst wenn mehrere davon in einer plausiblen Verknüpfung auftauchen, spricht er von Schamanismus:
1. rituelle Ekstase, also das Heraustreten der Seele aus dem eigenen Körper (durch psychedelische Kräuter und Pilze, Trommeln oder plötzliche Ohnmachtsanfälle). Dann sinken die Lebensfunktionen anormal ab: Puls, Herzschlag und Atmung verflachen und verlangsamen, der Körper wird unempfindlich gegen Hitze, Kälte und Licht
2. Tiergestaltige Hilfsgötter, die er/sie zur Unterstützung herbeiruft
3. Berufung (Geister wählen den Schamanen/die Schamanin aus, durch Vererbung oder körperliche Anomalien)
4. Initiationsritus (etwa über einen mystischen Tod und die Wiederbelebung)
5. Jenseitsreise
6. Kosmologie (die schamanische Reise durch Erde, Himmel und Unterwelt)
7. Schamanenkampf (ausgetragen durch die Hilfsgeister)
8. Schamanenausrüstung: Mantel und Kopfbedeckung, die eine Tiergestalt (Vögel oder Hirsche) symbolisieren, Trommel.

Vor 9000 Jahren war Europa von wenigen Tausend Menschen bewohnt, die Jäger- und Sammler-Gemeinschaften lebten auch zumindest saisonal entlang der Saale in Zelten, wie einige Funde heute zeigen.
Ihre sozialen Beziehungen müssen sie, so Meller, ohne Schrift und Institutionen durch einen gemeinsamen Kosmos aus Geschichten und Mythen (Kultur) zusammengehalten und überliefert haben. Dabei hatten sie ganz gewiss auch spirituelle Führer, die ihnen dabei hilfreich zur Seite standen.

Menschengeschichte ist Klimageschichte

„Menschengeschichte ist Klimageschichte“ lautet eine der Überschriften des Buches. Sie ist absolut zutreffend (und den vielen Klimakrisen-LeugnerInnen und VerharmloserInnen in ihrer Ausprägung leider immer noch nicht bewusst).
Das Klima zur Lebenszeit der Schamanin wird in der Ausstellung durch einen Birkenwald symbolisiert. Nach dem Rückzug der Gletscher und der offenen Eiszeitlandschaft breiteten sich Wälder aus, die Menschen mussten sich schnell an die sich schnell ändernde Landschaft anpassen. Konnten sie vorher große Herden von Pferden und Rentieren jagen, mussten sie nun Waldjäger und Binnenfischer werden. In der Zeit der Schamanin war Europa von Wäldern bedeckt, es gab noch keine Landwirtschaft oder feste Siedlungen. Die wenigen Menschen konnten saisonal ihrer Beute folgen und Nahrungsmittelvorkommen nutzen, wo sie gerade vorkamen.
Das Alter der Geweihmasken, die ja auch auf einen schamanischen Kontext hinweisen, deutet auf eine Zäsur im Leben der Steinzeitmenschen hin: Der Zeitpunkt liegt im Bereich der sogenannten Misox-Schwankung (8.2-kiloyear event).
Die kurzfristige und scharf abgegrenzte Klimaveränderung rund 8200 Jahre BP, ausgelöst durch eine Unterbrechung der thermohalinen Zirkulation des Nordatlantikstroms, der nördlichen Verlängerung des Golfstroms. So kam es im mesolithischen (Mittelsteinzeit, Jüngere Dryaszeit) Mittel-, Nord- und Westeuropa im Verlauf weniger Jahrzehnte zu einer regional unterschiedlichen, aber signifikanten Abkühlung um durchschnittlich etwa 2°C. Die plötzliche Abkühlung steht vermutlich im Kontext mit dem Zusammenbruch des Laurentischen Eisschilds, der einst große Teile Nordamerikas bedeckte.
Die klimatischen Auswirkungen der Misox-Schwankung sind in der Vegetationsentwicklung Europas gut hundert Jahre lang nachweisbar. Die Wiedererwärmung erfolgte nach weniger als 100 Jahren ähnlich schnell wie die Abkühlung, nachdem sich die Strömungsverhältnisse im Nordatlantik wieder stabilisiert hatten. Diese rapide Klimaveränderung ist in der Vegetation und im grönländischen Eis über Bohrkerne nachweisbar. Ihre Auswirkungen reichten bis in den Vorderen Orient, so kam es etwa in Mesopotamien zu Dürren und einem plötzlichen Halbwüsten-Klima. Klimaveränderungen von 2 °C erscheinen minimal, führen aber zu großflächigen Migrationen von Menschen und Tieren, in Menschengruppen kann es zum Aufstieg und Niedergang ganzer Kulturen führen. Natürliche Klimaschwankungen hat es also schon immer gegeben, sie sind allerdings auch mit Massensterben gekoppelt.

Sofern keine anderen Quellen angegeben sind, stammen die Informationen aus dem Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte und natürlich aus dem Buch. Gerade im Buch werden Methoden ausführlich dargestellt, die beteiligten Forschenden namentlich vorgestellt und alle Resultate und Schlussfolgerungen ausführlich diskutiert.
Ich habe hier nur einige wesentliche Informationen extrem verkürzt wiedergegeben. Die Schlussfolgerungen werden im Buch ausführlich diskutiert.

 

 

 

Kommentare (3)

  1. #1 RPGNo1
    13. Dezember 2022

    Ein Super-Bericht. Vielen Dank! 🙂

    PS: Die neueste Entwicklung des Schamanen ist übrigens der Plastikschamane, der gutgläubigen esoterisch veranlagten Menschen gerne das Geld aus der Tasche zieht.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Neoschamanismus
    https://en.wikipedia.org/wiki/Plastic_shaman

  2. #2 Bettina Wurche
    13. Dezember 2022

    @RPGNo1: Danke, den Ausdruck kannte ich noch nicht. der trifft es ganz gut : ). Ja genau solche Auswüchse erwähnen Meller und Michel.

  3. #3 rolak
    13. Dezember 2022

    Die neueste Entwicklung des Schamanen

    ^^NoNa, damals™ ´77, als ich Foxy (US-OR) auf dem EuropaTrip mit ihrer knucklehead erleben durfte, standen wir eines schönen Tages vor ner Buchhandlung in D´Dorf, als sie losfluchte ~’how on earth did this plastic shaman shit make it across the ocean?’ Im Schaufenster prangte ein Machwerk, das fast fuffzich Jahre später immer noch beworben und aufgelegt wird, durch und durch Banane.
    Yep, Plastination war ein Begriff schon lange vor von Hagens… Und das Miterleben des Aufschwungs abgedrehter Esoterik in D war&ist wahrlich ein bitteres Mißvergnügen.

    btt: Mal wieder ein Artikel, der sich ungemein spannend liest und darüber hinaus (zumindest mir) einiges völlig Neues vorstellt. Besser gehts kaum 😉