2012 hatten Wissenschaftler des British Antarctic Survey eine spektakuläre Entdeckung gemacht:
Das abgefressene Gerippe eines großen Wals.
Viele hungrige kleine Krebse.
In 1445 Meter Tiefe im Südpolarmeer, im South Sandwich Arc.
Where no man has gone before.
Diese Gelegenheits-Entdeckung sieht nach einem völlig neuartigen Whale fall-Ökosystem aus!
Bei ihrer Expedition hatten die Forscher sowieso echte Terra incognita betreten, oder vielmehr Seafloor incognita – es war die erste Erkundung der Tiefsee in diesen Bereichen der Südhalbkugel.
Jetzt gibt es neue aufregende Entdeckungen!
Viele kleine lebende Tiere und ein großes totes Tier:
1. Die Meerassel Jaera tyleri ist eine neue Art und neue Gattung der Asseln (Isopoda).
2. Die Whale fall-Ökosysteme (auf den Meeresboden gesunkene Wal-Kadaver) der südlichen Ozeane sind vollständig anders als die auf der Nordhemisphäre – dazu mehr im 3. Absatz unter „Whale fall – jeder Wal ist eine Insel“.
Dieses Video hat der Tauchroboter (ROV Isis) aufgenommen:
Das jetzt beschriebene Krabbeltier Jaera tyleri ist eine nur 3,7 Millimeter „große“ Assel.
Dieser Winzling sucht sich als Beute ausgerechnet die größten Tiere des Ozeans: Bartenwale.
Natürlich jagt und erlegt die kleine Assel keine Wale, sondern hat die auf den Meeresboden gesunkenen Knochen toter Wale zum Fressen gern. In diesem Fall war es allerdings einer der kleineren Bartenwale: Ein antarktischer Zwergwal (Balaenoptera bonaerensis).
Jaera speist übrigens gern in Gesellschaft: 500 bis 600 der Aasfresser teilen sich einen Quadratmeter auf dem Walskelett.
Die Forscher waren unterwegs mit dem Forschungsschiff RRS „James Cook“ und hatten auf der Suche nach Schwarzen Rauchern den Meeresboden mit einem ROV (Remotely Operated Vehicle) erkundet.
Ein ROV ist ein Tauchroboter mit Kameras und Möglichkeit zum Probennehmen, der über ein Kabel mit dem Mutterschiff verbunden bleibt.
Das Wal-Skelett an sich war schon eine extrem aufregende Entdeckung: „Es war eine totale Überraschung“ erzählt Dr. Katrin Linse vom NERC`s British Antarctic Survey, die die Studie an Jaera tyleri leitete. „Wir waren alle ganz aufgeregt. Man kann niemals ernsthaft erwarten, einen Whale fall zu finden – das ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.“
Über die Kamera kamen dann die ersten Porträtaufnahmen der Asseln an die Meeresoberfläche.
Und eine Probe: „Nach der Erkundung mit der Kamera haben wir mit dem Roboterarm des ROV Isis einige Knochen an Bord geholt für eine nähere Untersuchung.“
Einige der kleinen Kreaturen haben also ihre Fresslust mit dem Leben bezahlt. Dafür werden sie nun unsterblich! Einbalsamiert in Fixiermittel und in einem gläsernen Topf als „Schneewittchensarg“ bleiben sie der Wissenschaft für Jahrhunderte erhalten. Submarine Schneewittchen, sozusagen.
„Wir haben den Felsen und den Meeresgrund um die Walknochen herum abgesucht, aber wir haben keine weiteren Exemplare von Jaera tyleri gefunden.“ sagt Katrin Linse. „Es ist möglich, dass sie nur in diesem speziellen Ökosystem auf den Walknochen leben“. Die genetische Analyse hat ergeben, dass die nächsten Verwandten dieser Assel in der flachen Nordsee auf der nördlichen Hemisphäre leben. „Es wäre sehr interessant, herauszufinden, ob dieses Tier aus der Tiefsee heraus flache Gewässer besiedelt hat, oder ob es umgekehrt war. Im Moment können wir dazu leider noch nichts sagen. Vielleicht stolpert bald wieder jemand über einen Whale fall und findet dabei ein weiteres Puzzlestück?“
So eng die Verwandtschaft zu den Nordsee-Asseln auch sein mag: Jaera tyleri ist hoch spezialisiert.
So haben die kleinen Krabbler keine Augen – eine Anpassung an das lichtlose Leben in 1400 Meter Tiefe. Das spricht für eine lange, eigenständige Entwicklung.
Critters: Kleine Biester beißen Wale
Der gefräßige Winzling hat von den Wissenschaftlern den Spitznamen „Critter“ verpasst bekommen.
Critters sind außerirdische, miese kleine Biester, die sich durchbeißen – durch mittlerweile 4 Kinofilme. Kuschelige kleine Fernsehstars außerirdischer Herkunft.
In den gefräßigen kleinen Krebsen haben die Forscher nun auch Critters gefunden, die irdischen Ursprungs sind und statt Fell einen Panzer tragen.
Und sie beißen sich durch Walknochen und nicht durch Leute.
„Die Asseln bohren sich offenbar nicht in den Knochen hinein (wie der „Zombiewurm“ Osedax, s. u.), aber das SEM Bild JC42-574.7-9 Jaera_5 (s. rechts) zeigt, wie sie ihre Beine in den Knochen vergraben. Ein anderes Bild zeigt Knochenfasern vor den Mundwerkzeugen. Wir wissen noch nicht, ob die Asseln die Knochen aktiv zersetzen und fressen, oder ob sie eher die Bakterien auf den Knochen fressen.“ berichtet Dr. Katrin Linse über die Eßgewohnheiten ihrer Neuentdeckung.
Whale fall – jeder Wal ist eine Insel
Wenn ein Wal stirbt, wird er selbst zum Lebensraum für andere Tiere.
Nach seinem Tod treibt er zunächst auf dem Ozean (Es sei denn, er ist gestrandet. Aber das sind Ausnahmefälle.)
Wie lange er an der Oberfläche treibt?
Das hängt von der Dicke der Speckschicht und der Wassertemperatur ab.
Furchenwale und Delphine haben keine sehr dicke Speckschicht, je nach Ernährungszustand sinken sie dann eher schneller. Von Walfängern erlegte Furchenwale wurden sogar mit Auftriebskörpern gegen zu schnelles Versinken gesichert.
Glattwale wie Grönlandwale, Nord- und Südkaper hingegen haben bis zu 60 Zentimeter dicken „Blubber“, sie treiben sehr lange.
Bei hoher Wassertemperatur gasen die Tiere zusätzlich schnell auf, auch das lässt sie länger oben schwimmen. Niedrigere Außen- und Wassertemperaturen lassen die Verwesungsprozesse im Inneren der Meeressäuger und die Gasbildung langsamer ablaufen.
An der Wasseroberfläche treibende Kadaver werden von Vögeln und Fischen angeknabbert, große Fische wie Haie können große Teile der Körper abfressen.
Irgendwann versinkt der tote Wal und beginnt seine letzte Reise in die Tiefe.
Schließlich sinkt er auf das Sediment.
Dort stürzen sich dann auch die Boden bewohnenden Aasfresser wie Krebse, Würmer oder Schleimaale (Inger) auf den fetten Happen. Und noch viele andere, seltsamere Essensgäste.
So ein Walkadaver-Ökosystem heißt „Whale fall“.
Im Februar 2002 hatten Robert Vrijenhoek und Shana Goffredi, Wissenschaftler des Monterey Bay Aquariums, in den tiefen Gewässern vor Südkalifornien bei einer Erkundung mit dem ROV “Tiburon“ einen Walkadaver entdeckt. Auf der Suche nach etwas ganz Anderem…
Ihnen wurde sofort klar, dass ein solcher Kadaver ein gewaltiger Eintrag an Biomasse in die Tiefsee ist und beträchtliche ökologische Auswirkungen haben muss. Darum führten sie im Oktober 2002 eine weitere Tauchfahrt durch – diesmal war Craig Smith, von der University of Hawaii dabei – er studiert seit 20 Jahren Whale falls.
Sie haben eine einzigartige Gemeinschaft aus Tieren und Mikroorganismen beschrieben, die je nach Verfallsstadium des Walskeletts variiert.
In einem fortgeschrittenen Stadium des Walknochen-Zerfalls werden Fett-Bestandteile wie Lipide zersetzt – unter Ausschluss von Sauerstoff. Dabei entstehen Schwefelverbindungen, die wieder eine ganz eigene Schar von Essensgästen anziehen. Der berühmteste von ihnen ist der knochenbohrende Zombiewurm Osedax, ein Meeresborstenwurm.
Auch der bewohnt den antaktischen Zwergwal-Whalefall – neben Jaera und verschiedenen anderen neuen und altbekannten Spezies (Amon et al; s. u.).
Quelle zu Jaera tyleri:
Katrin Linse et al: “Shallow-Water Northern Hemisphere Jaera (Crustacea, Isopoda, Janiridae) Found on Whale Bones in the Southern Ocean Deep Sea: Ecology and Description of Jaera tyleri sp.”; Published: March 24, 2014; DOI: 10.1371/journal.pone.0093018
https://www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0093018
D. J. Amon et al: 2The discovery of a natural whale fall in the antarctic deep sea2. Deep-Sea Res. II(2013)
https://dx.doi.org/10.1016/j.dsr2.2013.01.028
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