Von einem, der auszog, der NASA das Spritsparen beizubringen…
Kein Weltraum-Märchen, sondern harte Realität.
Ingenieursehrenwort.
XMM-Newton
Der ESA-Satellit XMM (X-ray Multi-Mirror = Röntgen-Mehrfachspiegel) trägt ein gewaltiges Röntgenteleskop – seine Bilder und Daten haben schon so manches Wissenschaftler-Hirn erfreut und viele bahnbrechende Forschungsergebnisse geliefert. Der Fokus liegt dabei auf der Beobachtung hochenergetischer Vorgänge wie Schwarzen Löchern und Sternexplosionen, die Röntgenstrahlung freisetzen. Das 10 Meter lange fliegende Weltraumobservatorium XMM ist seit 1999 in Betrieb und sollte mindestens bis 2009 arbeiten.
Er läuft, beobachtet und sendet immer noch.
Ohne Fehler, gut gelaunt und absolut zuverlässig zieht er in einer hoch exzentrischen Umlaufbahn seine Bahnen. Eine hoch exzentrische Umlaufbahn bedeutet, dass er zwischen 5.000 und 110.000 Kilometern Höhe von der Erde entfernt ist.
Die „Steuermänner und –frauen“ im ESOC, dem ESA-Satellitenkontrollzentrum in Darmstadt, richten das Teleskop nach den Wünschen der Projekt-Wissenschaftler aus, um verschiedene Himmelsschauspiele beobachten zu können. Per Computerbefehl setzen sie im Innern des Satelliten Drallräder in Bewegung.
Die Ausrichtung des Satelliten durch Drallräder bietet eine langsame, sehr genaue und äußerst energiesparende Methode zum Steuern des kleinen Raumschiffs. Sie werden mit elektrischer Energie aus den Solarzellen des Satelliten betrieben.
Neben den Drallrädern hat XMM zusätzlich noch Düsen, die mit Treibstoff gezündet werden, an Bord.
Treibstoff ist ein wichtiges Thema in der Raumfahrt: Einerseits soll für eine möglichst lange Betriebsdauer möglichst viel davon an Bord sein – schließlich kann man im All nirgendwo nachtanken. Andererseits muss der Satellit möglichst leicht und klein sein – der Raum für Last ist sehr begrenzt und jedes Gramm Gewicht kostet beim Start ein kleines Vermögen.
Der richtige Drall
Es besteht ein eindeutiger (= unmittelbarer) Zusammenhang zwischen der Drehbewegung des Satelliten und der Geschwindigkeit der Räder.
Drallräder steuern die Lage eines Satelliten nach dem Aktions-Gegenreaktions-Prinzip: Bei der Beschleunigung in die eine Richtung dreht sich der Satellitenkörper in die entgegen gesetzte Richtung. Deswegen reichen drei gegeneinander verwinkelte Räder aus – eines für jede Bewegungsachse im dreidimensionalen Raum.
XMM hat vier Drallräder an Bord: Für den Betrieb im dreidimensionalen Raum braucht er drei, das vierte war als Ersatzrad vorgesehen. „Der Treibstoffverbrauch im Drei-Rad-Betrieb bewegt sich pro Tag so im Bereich eines Schnapsgläschens, also 0,2 cl.“ meint dazu der ESOC-Raumfahrtingenieur Rainer Kresken. Mit diesem Spritverbrauch wäre XMM jetzt bald am Ende gewesen.
Aber die findigen Astro-Ingenieure wollten ihren kleinen Liebling im weiten Weltall nicht verdursten lassen und haben nun eine Methode zum Spritsparen erdacht.
Der Vierrad-Antrieb wäre wesentlich sparsamer!
Das klingt auf den ersten Blick aberwitzig: Bei „Vierrad-Antrieb“ entsteht vor dem inneren Auge automatisch ein SUV mit Vierrad ( = Allrad)-Antrieb. Ein automobiles Ungetüm mit überdimensionierten Proportionen für den innerstädtischen Verkehr, das absolut nicht mit dem Verbrauch fossiler Brennstoffe geizt – auch als „Hausfrauen-Panzer“ oder „City-Bergepanzer“ bekannt.
So paradox es sich zunächst anhört, so wirkungsvoll ist der Vier-Drallrad-Antrieb für XMM.
„Im Dreirad-Antrieb besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Lage-Rotation und der Rotationsgeschwindigkeit der Räder“ erklärt Rainer Kresken. Die drei Räder entsprechen den drei Bewegungsachsen im dreidimensionalen Raum. Die Räder müssen innerhalb eines spezifischen Geschwindigkeitsbereichs bewegt werden – weder zu schnell noch zu langsam.
„Da die Bewegung des Satelliten durch das geplante Beobachtungsprogramm eines Umlaufs festgelegt ist, bleibt zur Kontrolle der Geschwindigkeit der Räder nur das sogenannte Bias-Manöver zu Beginn des Beobachtungsprogramms: Die Geschwindigkeiten der Räder werden auf die vorher berechneten Werte kommandiert. Gleichzeitig werden Düsen gezündet, die die Gegenbewegung des Satelliten verhindern. Durch diese Anfangswerte der Geschwindigkeit ist der weitere Verlauf eindeutig festgelegt.“ Die Zündung dieser Düsen verbraucht Treibstoff.
„Mit dem Vierradantrieb hat man nicht nur das Bias-Manöver zur Beeinflussung des Geschwindigkeitsprofils. Durch Veränderung eines Programmparameters kann man auch alle Räder gleichzeitig abbremsen oder beschleunigen, ohne dabei die Lage des Satelliten zu verändern. Dadurch kann man die Geschwindigkeitsbeschränkungen einhalten und das Bias-Manöver deutlich kleiner machen.“
Für den Laien nicht ganz einfach zu verstehen, aber: Hauptsache, der Satellit weiß, was er tun soll.
„Mittlerweile ist der Vierrad-Antrieb bei Satelliten sehr verbreitet.“ Falls dann doch eines der Räder ausfallen sollte, kann der Satellit immer noch auf den drei verbliebenen weiterlaufen. Nur mit etwas mehr Durst.
Bei XMM sollte der vorhandene Treibstoff nun noch bis etwa 2020 reichen.
Und noch viele weitere Einblicke in hochenergetische Vorgänge im Weltall geben und viele Astronomen sehr glücklich machen.
Werden jetzt noch mehr Satelliten umgerüstet?
Natürlich: „Wir überlegen, ob wir auch andere ältere Satelliten auf vier Räder umstellen, „Integral“ könnte der nächste Kandidat für das „Frisieren“ sein.“
Die Schlusspointe ist, dass der Darmstädter Raumfahrtingenieur gerade auf der „SpaceOps 2014: Explore Innovation“ in Pasadena seinen NASA-Kollegen und anderen Raumfahrtaktivisten berichtet hat, wie die ESA bei Raumschiffen Treibstoff spart.
Dazu ist er über den Atlantik geflogen, in einem Flieger, der sicherlich mehrere Schnapsgläschen voll Sprit weggeschlürft hat.
Mehr zum fliegenden Röntgenteleskop XMM finden Sie auf den Seiten der ESA.
Und hier ist noch ein Podcast von Tim Pritlove im Gespräch mit Dr. Markus Kirsch: “RZ051 XMM-Newton”
Ein herzliches Dankeschön an Rainer Kresken für das Interview und seine sehr geduldigen Erklärungen.
Zu XMM haben wir schon mal einen Artikel verfaßt – darin haben wir erzählt, wie die Maus “Nr. 5” von der Medizin zur Raumfahrt gekommen ist:
“Sonnenstrahl und Mäuseschiss”
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