Ein Walross-Schädel und ein Walross-Baculum liegen vor mir.
Wahnsinn!
Das Walross (Odobenus rosmarus) ist eine der gewaltigste Robben.
Männchen werden bis zu 3,6 Meter lang und bis zu 880-1,557 Kilogramm schwer, Weibchen bleiben etwas kleiner.
Dementsprechend King Size sind auch die einzelnen Körperteile.
Mit den zwei gewaltigen Hauern im Oberkiefer kratzen Männchen und Weibchen Muscheln vom Boden ab, jagen andere Robben oder verteidigen sich gegen Eisbären und Orcas. Außerdem setzen sie die Zähne auch ein, um sich auf Eisschollen zu hieven.
Was ein Schädel ist, weiß jeder. Ein Baculum ist der Penisknochen, dazu später mehr.
Beide Knochen bekomme ich nicht oft in die Hand, selbst als Zoologin und Museumsfrau.
Schädel und Baculum wurden vom Zoll beschlagnahmt. Das Frankfurter Zollamt hat sie dann für edukative Zwecke an die Seehundsstation Friedrichskoog weitergegeben.
Und genau dort halte ich diese Raritäten nun in den Händen.
Leider gibt es für beide keinen Hinweis auf die Herkunft und keine weiteren Informationen.
Sicherlich stammen sie nicht von demselben Tier.
Der Schädel und sein Geheimnis
Der Schädel sieht seltsam aus und ist beschädigt, aber nach und nach kann ich einen Teil seiner Geschichte rekonstruieren.
Der ganze Schädel ist 36,5 Zentimeter lang, an der breitesten Stelle der Schnauze 17,5 Zentimeter breit und extrem schwer – 4,5 Kilogramm.
Der hintere (=caudale) Teil des Hirnschädels und die Jochbeine (Jugalia) fehlen.
Außerdem hat er eine ungleichmäßig gelbliche, glänzende Oberfläche – er ist irgendwie lackiert worden.
Stammt er überhaupt von einem heute lebenden Tier? Könnte es ein Fossil sein – auf dem beiliegenden Zettel steht „versteinert?“?
Oder ein Abguss?
Beim Umdrehen sehe ich in den Oberkiefer hinein: Stark abgekaute Zahnstumpen zeigen, dass es ein älteres Tier war, eher in der 2. Lebenshälfte. Von den gewaltigen Hauern sind etwa zentimeterlange Stümpfe zu sehen, die Kanten sind nicht gesplittert, sondern relativ eben.
Der Lack ist sehr ungleichmäßig aufgetragen, an einigen flächigen Stellen fehlt auch die oberste glatte Knochenschicht, die sogenannte Compacta. Darunter schimmert die Spongiosa – die innere Knochensubstanz mit ihrer schwammartigen Struktur. Einige Risse zeichnen sich unter der Lackierung ab.
Es sind weder Zeichen eines Einschussloches noch Spuren von scharfen Klingen oder anderen Werkzeugen zu sehen.
Der Schädel hat keinen Eigengeruch mehr.
Es ist auf jeden Fall ein echter Schädel. Nicht fossil, sondern rezent (heute lebend).
Walross-Schädel sind irrsinnig schwer, vor allem der Schnauzenbereich, in dem die massiven Hauer stecken.
Wie ist das Tier gestorben und was ist nach seinem Tod passiert?
Der Schädel erzählt seine Geschichte selbst…
Ein ausgewachsenes Walross unbekannten Geschlechts ist verstorben. Todesursache unbekannt.
Das tote Tier lag am Strand, die Hauer wurden abgesägt oder geschnitten.
Danach ist der Körper verwest und allmählich skelettiert, der Knochen wurde durch die Einwirkung von Wasser und Sonne gesäubert.
Der schwere Teil der Schnauze fiel vielleicht nach unten in den Sand oder ins Sediment und lag dort geschützt gegen äußere Einflüsse. Der hintere Teil des Kopfes mit dem Hirnschädel ragte nach oben und wurde im Laufe der Zeit beschädigt. Großflächige oberflächliche Beschädigungen im seitlichen Bereich sind wahrscheinlich durch das Abrollen am Strand geschehen: Vom Wasser bewegte runde Steine erzeugen solche Abriebspuren auf Knochen.
Der saubere, beschädigte Schädel ist schließlich aufgesammelt worden. Der Sammler hat den beschädigten und etwas unansehnlichen Schädel durch großzügig und dilettantisch aufgetragenen Lack stabilisiert (bzw. verschandelt. Mehrere dünne Lagen eines besser geeigneten Lackiermittels wären hier wünschenswert gewesen.)
Trotzdem fand der Walross-Kopf einen Abnehmer und wurde mit nach Deutschland genommen.
Dort endete seine Reise zunächst am Zoll.
Walrosse sind Meeressäuger und dürfen, wie alle Teile von Robben und Walen, von Privatleuten nicht in die EU eingeführt oder dort gehandelt werden. Auch wenn sie in Grönland, Alaska, Norwegen, Russland oder einem anderen Land legal erworben worden sind. Dieses Verbot gilt übrigens auch für viele andere Länder, etwa Kanada.
Schließlich landete der Schädel als Anschauungsmaterial auf der Seehundsstation Friedrichskoog.
Ein würdiger Platz mit einer wichtigen Botschaft und begeistertem Publikum.
Ein ganz herzliches Dankeschön für das Team der Seehundsstation (Extra-Danke an Steffi) für Ausmessen und Photographieren der Knochen!
Das Baculum des Walrosses
Der Penisknochen (Os penis, Os priapi oder Baculum) ist eine Verknöcherung des Penisschwellkörpers (Corpus cavernosum penis). Die meisten Raubtiere (Hunde, Bären, Katzen Marder, Robben, …), die meisten Primaten und einige andere Säuger-Gruppen haben ein Baculum. Bei den meisten Katzenarten ist diese Struktur zurückgebildet, bei Menschen und Walen wird sie gar nicht ausgebildet.
Ein Baculum ist ein unpaarer Knochen und meistens leicht gekrümmt. Penisknochen gibt es in einer überraschenden Formenvielfalt. Manche sind wie Baseballschläger geformt, andere erinnern eher an exotische Blüten.
Übrigens: Das weibliche Äquivalent zum Os penis der Säugetier-Männchen ist der Os clitoridis oder das Baubellum.
Beide Knochen sind artspezifisch.
Oberflächlich betrachtet erinnert dieser elegant geschwungene Walrossknochen an einen langen Extremitätenknochen. Beim genauen Hinschauen bemerkt man aber schnell die Unterschiede: Es gibt natürlich keine Gelenkstücke, die an Knie oder Hüftgelenk passen. Die Krümmung verläuft nicht seitlich, sondern in der Richtung der Bauch-Rücken-Achse (=dorso-ventral).
Dieses Walroß-Baculum ist 59,5 Zentimeter lang, zwischen 16,5 und 9,0 Zentimeter breit und perfekt erhalten. Keine Beschädigungen sind sichtbar.
In Alaska und Grönland heißt das Walross-Baculum „Oosik“, das Wort stammt aus einer Inuit-Sprache.
Alaskanische und grönländische Ureinwohnern haben für den Oosik verschiedene Verwendungen, heute verkaufen sie solch ein Stück gern als Souvenir an Touristen. Oft sind die Knochen dann noch poliert und kunstvoll geschnitzt.
Um den Walross-Penisknochen ranken sich viele Legenden und Anekdoten, es gibt sogar eine Ode dazu „Ode to an Oosik“ (s. u.)
Ein Baculum dieser Größe hat natürlich bei den erwachsenen Besuchern der Seehundsstation für ein breites Grinsen gesorgt.
Etwas schwieriger war es, diese faszinierende Struktur Fünfjährigen zu erklären.
Warum, zu welchem Zweck und in welcher Form und Größe sich diese genitalen Knochenstrukturen in den verschiedenen Säugetiergruppen entwickelt bzw. in einigen nicht entwickelt oder zurückgebildet haben, ist immer noch Gegenstand wissenschaftlicher Spekulation.
Die Formenvielfalt hat sicherlich etwas damit zu tun, dass er keine so elementare Funktion wie etwa ein
Oberschenkelknochen erfüllen muss. Warum aber nun gerade Hyänenweibchen und Erdhörnchen mit so gewaltigen genitalen Errungenschaften protzen, kann bis heute niemand befriedigend erklären. Wahrscheinlich ist, dass Homo sapiens das Baculum im Laufe der Primaten-Evolution verloren hat, da er bei fast allen anderen Primaten-Vertretern vorhanden ist.
Gilberts und Zevitts Hypothese, Eva sei nicht aus Adams Rippe sondern aus seinem Baculum entstanden, war hoffentlich nur ironisch gemeint (Gilbert and Zevit. 2001. Congenital human baculum deficiency: The generative bone of Genesis 2:21-23. American Journal of Medical Genetics, 101(3):284-285.).
“Ode to an Oosik”
Diese herrlichen Reime dürfen in einem Artikel über das Baculum von Odobenus rosmarus keinesfalls fehlen:
Strange things have been done in the Midnight Sun
and the story books are full,
But the strangest tale concerns the male
magnificent walrus bull!
I know it’s rude, quite common and crude,
perhaps it is grossly unkind;
But with first glance at least, this bewhiskered beast,
is as ugly in front as behind.
Look once again, take a second look – then
you’ll see he’s not ugly or vile –
There’s a hint of a grin, in that blubbery chin –
and the eyes have a sly secret smile.
How can this be, this clandestine glee
that exudes from the walrus like music?
He knows, there inside, beneath blubber and hide
lies a splendid contrivance – the Oosik!
“Oosik” you say – and quite well you may,
I’ll explain if you keep it between us,
in the simplest truth, though rather uncouth,
Oosik is, in fact, his penis!
Now the size alone of this walrus bone,
would indeed arouse envious thinking –
it is also a fact, documented and backed,
There is never a softening or shrinking!
This, then, is why the smile is so sly,
the walrus is rightfully proud.
Though the climate is frigid, the walrus is rigid,
Pray, why, is not man so endowed?
Added to this, is a smile you might miss –
Though the bull is entitled to bow –
The one to out-smile our bull by a mile
is the satisfied walrus cow!
(Der Verfasser ist leider unbekannt)
Zum Weiterlesen:
Brian Switek (National Geographic Science-Blog “Laelaps”) : A Long-Lost Bone
“Laelaps” berichtet über verschiedene Studien zu den genitalen Strukturen von Mäusen, Ratten, Schleichkatzen und Hyänen.
Ein herzliches Dankeschön für das Team der Seehundsstation (Extra-Danke an Steffi) fürs Ausmessen der Knochen und die Photos!
Das Copyright der Bilder liegt bei der Seehundsstation Freidrichskoog.
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