Der Frankfurter Arzt, Naturforscher und Stifter Johann Christian Senckenberg (* 28. Februar 1707 in Frankfurt am Main; † 15. November 1772 ebenda) ist mit der Stadt Frankfurt und der Goethe-Universität aufs Engste verknüpft. Er ist eine der wichtigsten historischen Persönlichkeiten Frankfurts. Auch auf dem Medizin-Campus begegnet man ihm an vielen Stellen!

Johann Christian Senckenberg (Tischbein)

Johann Christian Senckenberg (Tischbein)

Die Universitätsbibliothek und 11 wissenschaftliche Institute tragen heute seinen Namen, dazu kommen die bekannte Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft und das Senckenberg-Museum. Das von ihm gegründete Bürgerhospital ist heute ein modernes Krankenhaus mit Senckenbergischer Tradition.
Das verschrobene Universal-Genie starb 1772 bei einem Sturz vom Dach des Bürgerhospitals – kurz vor dessen Fertigstellung. Sein Leichnam wurde in dem von ihm gestifteten Theatrum anatomicum öffentlich seziert.

Die geheimen Aufzeichnungen des Dr. S.
Neben seinen Stiftungen und Sammlungen hat Senckenberg auch einen umfangreichen schriftlichen Nachlass hinterlassen: „Von 1730 bis zu seinem Tod notierte Johann Christian Senckenberg in nahezu täglichen handschriftlichen Aufzeichnungen akribisch alles, was ihn bewegte. Insgesamt sind in der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg 53 gebundene Tagebücher mit etwa 38.000 Seiten vorhanden, dazu etwa 660 Mappen mit Aufzeichnungen von Senckenberg selbst, Dokumente zu Familienangehörigen, zur Dr. Senckenbergischen Stiftung und anderen Themen. Darüber hinaus befinden sich im Frankfurter Institut für Stadtgeschichte zwei weitere Tagebuch-Bände mit etwa 1200 Seiten und viele andere Dokumente wie Urkunden, Haushaltungsbücher und mehr. Erstmals geordnet und in die heutige Form gebracht wurden die Tagebücher im 19. Jahrhundert von dem Frankfurter Stadtarchivar Georg Ludwig Kriegk“ erklärt Herr Dr. Jehn, der Leiter der Frankfurt-Sammlung und des Archivzentrums der UB.
„Die Tagebuchbände 1 bis 18 enthalten die Aufzeichnungen aus den Jahren 1730-1742. Ab 1743, als Senckenberg in Frankfurt als Arzt etabliert war, nahm er bis zu seinem Tod 1772 seine Eintragungen auf losen, hochrechteckigen Notizzetteln vor. Kriegk teilte wohl diese Tagebuch-Bände 19-53 in „ärztliche“ und „nichtärztliche Tagebücher“ ein – in diesen drei Gruppen liegen die Tagebücher heute vor.“

Wie war Senckenberg? munter – gelehrt – „stachelicht“!
Senckenberg schrieb in einer Mischung aus Deutsch und Latein mit griechischen und französischen Einsprengseln. Mit persönlichen Abkürzungen und Spezialzeichen in einer schwer zu entziffernden Handschrift. Der Inhalt der Tagebücher ist allerdings vielversprechend!
„Senckenberg ist, nach Auskunft seines Neffen Renatus, einer der gelehrtesten Männer seiner Zeit gewesen. Wörtlich schrieb Renatus über seinen Onkel: „Im Umgang war er sehr munter, voller Anekdoten, und manchmahl recht witziger Einfälle, dabei auch offt stachelicht, immer aber für den der von ihm lernen wollte, sehr lehrreich. Letzteres zu sein ward ihm dadurch leicht, weil er würklich einer der gelehrtesten Männer seiner Zeit war, wenn er schon in seinem ganzen Leben mehr durch Thaten als durch Schriften zu würcken sich bestrebte.“ erzählt Frau Dr. Marschall.
Senckenberg war zwar ein umfassend gebildeter Gelehrter und ein interessierter Mensch: Er beschäftigte sich mit Medizin, Naturbeobachtungen, Meteorologie, Botanik, Philosophie, Theologie, Sprachen und anderen Themen. Seine Aufzeichnungen sind minutiös und die Schlussfolgerungen scharfsinnig.

Der gelehrte Arzt mochte allerding nicht gern publizieren, darum sind uns seine Beobachtungen und Überlegungen überwiegend aus den Tagebüchern bekannt. Mit seiner Dissertation über die Heilkraft der Samen des Maiglöckchens hat er sich schon sehr schwer getan – er ist sogar seiner eigenen Promotionsfeier fern geblieben! Dafür sind die Tagebücher umso wertvoller: Sie erlauben uns einen Blick in seinen Alltag und seine Gedankenwelt. In diesen Aufzeichnungen hat er sich „Luft gemacht“ und ihnen vieles anvertraut, was wohl eher nicht für andere Ohren (oder Augen) bestimmt war. Offenbar hat er sich so Überlegungen und Erkenntnisse, aber auch Ärger und Trauer von der Seele geschrieben.
Die Entschlüsselung der Geheimschrift
2011 nahm die Literaturwissenschaftlerin Frau Dr. Veronika Marschall die Tagebücher in die Hand…und las!
1730 nahm Senckenberg sein Studium in Halle auf und begann gleichzeitig mit seinen minutiösen „Observationes“ (wie diese ersten Tagebücher überschrieben sind) an sich und seinen Mitmenschen. Detaillliert schildert er seine Beobachtungen und Befindlichkeiten: Ein authentisches Bild seines Lebens vom Studium bis hin zum Stuhlgang, von der Wetterbeobachtung bis zum täglichen Speiseplan.
Ausführliche Notizen zur zeitgenössischen Medizin, Pharmazie, Botanik, Physik, Chemie, Mineralogie, incl. täglicher Wetterbeobachtungen, Astronomie, zur Literatur, zum damaligen Wissenschaftsbetrieb und Reiseberichte: „Die erste Tagebuchaufzeichnung im Mai 1730 betrifft bezeichnenderweise Senckenbergs gepuderte Lockenperücke, ohne die er nicht aus dem Haus ging und die auf der Reise von Frankfurt nach Halle per Postkutsche etwas gelitten hatte“:

„Da in vorigem Monat auff der Reise nach
Halle mein Haar eine Weile nicht pouderte, mu-
ßte sehen daß es gantz fett, von dem Sale volatili
oleoso per poros vel sensibiliter[…]  insensibiliter
excerni solito.“

Demgegenüber vermitteln die Aufzeichnungen in den „nichtärztlichen“ Tagebüchern ein lebhaftes und oft mit sehr spitzer Feder formuliertes Bild der Stadt Frankfurt und ihrer Bewohner über Jahrzehnte hinweg. Die „Notizzettel“ umfassen hierbei alle nur denkbaren Bereiche: So erfährt man neben vielem Unbekannten aus der Geschichte Frankfurt gleichzeitig Wissenswertes im Hinblick auf die zeitgenössische Medizin, Pharmazie, Botanik, die neuesten Erkenntnisse zu Chemie, Physik, Mineralogie, Meteorologie… Daneben bergen die Aufzeichnungen Notate, die interessant sind für Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, Theologie, Philosophie, Psychologie, Literaturgeschichte, Literaturwissenschaft, Wirtschaftsgeschichte, Kunstgeschichte,… und natürlich allgemein die Erforschung von Geschichte und Kultur der Frühen Neuzeit.

Seine philosophischen und theologischen Diskussionen mit anderen Gelehrten notierte er oft wortwörtlich. Diese Wortprotokolle geben uns heute einen Einblick in wissenschaftliche Diskussionsrunden und Diskurse zur Zeit der Aufklärung.

Die „ärztlichen“ Tagebücher enthalten regelrechte Krankenakten: Er beschreibt Krankheitsbilder und Symptome, Gespräche mit den Patienten, notiert seine Therapien und Rezepte und dokumentiert schließlich, sofern der Kranke verstarb, die Ergebnisse der Sektion. Je nach Patient umfassen diese Notizen bis zu 100 Seiten.
Der damaligen Medizin entsprechend erklärte er viele Krankheiten mit dem Ungleichgewicht der Körpersäfte. „Seine wichtigste Therapieempfehlung war eine strenge Diät mit viel Gemüse, wenig Fleisch und ohne Alkohol, sowie ausreichende Flüssigkeitszufuhr, zum Beispiel durch Trinkkuren“ erzählt Frau Dr. Marschall. Damit erzielte er beachtliche Heilerfolge.

Interessanterweise war Senckenberg als Arzt nicht nur für Menschen zuständig, sondern manchmal auch für Tiere. Schließlich gab es zu dieser Zeit noch keine Tierärzte. Während einer Viehseuche in Frankfurt 1762/63 sorgte er sich um die vierbeinigen Patienten. Senckenbergs akribische Aufzeichnungen dazu finden sich in einem Sonderteil in den Tagebuchbänden auf die Jahre 1762/63.

Das war ein Teil seines Weltbildes, Senckenberg war ein frommer Mann und kümmerte sich um alle Geschöpfe Gottes – Menschen und Tiere. Das Gesundheitssystem des damaligen Frankfurt hielt er für erbärmlich und setzt sich nachdrücklich für Reformen ein. Da die Stadt Frankfurt untätig blieb, gründete er schließlich im Rahmen seiner Stiftung selbst das Bürgerhospital und förderte gleichzeitig die Ausbildung der Ärzte und Chirurgen.

Das Projekt Senckenberg
In einem 2-jährigen Pilotprojekt, das von der Dr. Senckenbergischen Stiftung und der Universitätsbibliothek (UB) gemeinsam getragen wurde, wurden die „nichtärztlichen“ Tagebücher Senckenbergs der Jahre 1762/63 digitalisiert (Bde. 42, 44 und 45) und eine TEI-/XML-internetbasierte Paralleldarstellung von Digitalisat, Transkription und Erläuterungen erarbeitet. Aufbauend auf diesen Vorarbeiten sollen nun in einem Anschlussprojekt, das durch die Universitätsbibliothek, die Dr. Senckenbergische Stiftung, die Stiftung Polytechnische Gesellschaft und die Gemeinnützige Hertie-Stiftung gefördert wird, die Bände 1-18 aus den Jahren 1730 bis 1742 in eine heute lesbare Form gebracht und online zur Verfügung gestellt werden.
Die Texte werden von der Universitätsbibliothek J.C. Senckenberg  herausgegeben.

Ein gewaltiges Unterfangen! Aber der faszinierende Inhalt der Tagebücher rechtfertigt ganz bestimmt den Aufwand.

Der Tratsch- und Cat-Content ist ein kleines Dankeschön für die LeserInnen, die in der vergangenen Woche die abstrakten Themen über das Wesen der Science-Blogs mitdiskutiert haben.  Ein weiterer Cat-Content wird noch folgen.
Dieser Artikel erschien erstmals am 04.04.2014 in “puls.”, dem Online-Magazin für Medizinstudierende der Goethe-Universität. “puls.” wurde im Mai 2014 eingestellt, das Archiv befindet sich auf puls.meertext.eu

Kommentare (3)

  1. #1 inge schuster
    4. September 2014

    Werte Frau Wurche,

    von meiner Betreuerin auf Ihren als Cat-Content bezeichneten Artikel aufmerksam gemacht, habe ich mich natürlich persönlich angesprochen gefühlt. Ja, es war interessant über die peniblen Aufzeichnungen und den Einblick in die Gedankenwelt eines Gelehrten des 18. Jh zu lesen. Ja, es war noch verlockender diese Aufzeichnungen mit den Lebensansichten eines meiner Stammesvorfahren zu vergleichen, welche dieser in ähnlicher Weise – aber etwas später – zu Papier gebracht hat. (Die Anmerkungen des JCS über die gepuderte Perücke würde ich aber eher als Kreisleriana bezeichnen.)

    Leider hat der als Cat-Content angekündigte Blogbeitrag zwar erwähnt, dass JCS sich um alle Geschöpfe Gottes kümmerte, aber explizit nichts über Cats berichtet. Um diesbezüglich zu recherchieren, werde ich mir also sicherlich die online-Version der Tagebücher krallen müssen.

    Mit ergebenstem Gruß verbleibe ich

    Ihr Kater Shiva

  2. #2 Bettina Wurche
    4. September 2014

    Sehr verehrter Shiva,
    der von Ihnen genannte Senckenberg-Artikel war nur eine Einleitung, der echte Cat-Content kommt erst im 2. Beitrag. Ich musste aber aufgrund des besseren Verständnisses erst einmal Herrn Senckenberg einführen, nicht jeder Nicht-Frankfurter kennt ihn.
    Zu Ihrem Plaisir habe ich nun den Beitrag über die Krankenakte Catus sofort freigeschaltet, und nicht erst – wie geplant – morgen.
    Ich muss Sie aber vorwarnen, denn es handelt sich um einen Sektionsbericht. Senckenberg berichtet über die letzten Tage und den Tod seines Katers “Catus” – inkl. Sektiosnbericht und Beisetzung.

    Mit freundlichem Gruß

    Bettina Wurche

  3. […] dem das Dino-Museum in Frankfurt benannt ist (es hat natürlich noch mehr als Dinos zu zeigen). Meertext hat einen schönen Überblick über seinen schriftlichen Nachlass und was es da alles zu entdecken […]