Am 30.09.2014 hielt Wolfgang Wimmer, (Dipl.-Ing. Maschinenbau, ESOC-Mitarbeiter im Ruhestand), auf der Starkenburg-Sternwarte in Heppenheim den Vortrag: „Wegzug von der Erde – Eine reale Überlebensmöglichkeit für die Menschheit?“
Ein ungewöhnlicher Titel, der mich sehr neugierig machte.
Wolfgang Wimmer war im ESOC an den Vorbereitungen von insgesamt 34 Raumfahrtmissionen beteiligt, bei 15 Missionen war er Flight Director – er ist also ein ausgewiesener Raumfahrt-Experte.
Mein Text ist keine wörtliche Mitschrift, sondern gibt eher die Schlagworte und den roten Faden wieder. Herr Wimmer hat vieles wesentlich detaillierter dargestellt und wir hatten noch eine prächtige Diskussion.
Der Vortrag sollte weniger absolute Fakten vermitteln – man kann über die meisten genannten Punkte länger diskutieren – sondern er soll vielmehr einige theoretische Überlegungen und erste Modellrechnungen aufstellen.
Als Denkanstoß!
Herr Wimmer distanziert sich dabei ausdrücklich von Science Fiction-Ideen, sondern betrachtet die Frage ganz pragmatisch aus Ingenieurssicht.
Die Angaben zu Sternen und nachgewiesenen Exoplaneten beziehen sich auf die neuesten Ergebnisse, die zu einem großen Teil vom Weltraumteleskop Kepler stammen.
1. Was könnte uns zwingen, von der Erde wegzuziehen?
„Wenn die Menschheit langfristig überleben will, muss sie sich ins Universum ausbreiten.“ – mit diesem Zitat von Stephen Hawking startet unser Referent.
Die Lebensdauer der Erde wird auf noch etwa 5 Milliarden Jahre geschätzt – schon vorher wird sich die Sonne ausdehnen und schließlich die Erde verschlucken. Das irdische Klima wird sich deshalb schon lange vorher empfindlich aufheizen. Wahrscheinlich hat sich die Erde „bereits“ in ca 500 Millionen Jahren so stark erwärmt, dass kein Leben mehr möglich ist.
Aufgrund der großen Zeitspanne sind diese Ereignisse für die Menschheit derzeit wohl vernachlässigbar.
Es sind aber eine Reihe anderer Szenarien denkbar, die einen anderen Grund für den Wegzug von der Erde geben könnten.
- Die Erde könnte von Naturkatastrophen verwüstet werden.
Naturkatastrophen wie ein gewaltiger Meteoriteneinschlag oder eine extrem erhöhte, lang andauernde Vulkanaktivität. - Daneben wären auch anthropogen erzeugte Naturkatastrophen denkbar – eine Klimakatastrophe oder die Folgen eines ausgedehnten Atomkriegs mit der anschließenden radioaktiven Verseuchung.
- Es könnten auch globale Seuchen auftreten.
- Für am wahrscheinlichsten hält der Referent aber die menschliche Eigenschaft der Verfolgung und Verurteilung Andersdenkender und deren Deportation mit den jeweils zur Verfügung stehenden technologischen Mitteln.
Auch Kriminelle oder politische „Kriminelle“ wurden im Laufe der Menschheitsgeschichte mehrfach deportiert. Dazu gehört u. a. die Deportation Kriminellen von England nach Australien.
Solche Ereignisse hätten grundlegende Auswirkungen auf die Menschheit
- die Auslöschung
- die Anpassung
- einen überstürzten Fluchtversuch
- den geordneten und geplanten Wegzug.
Bei einer Auslöschung oder einem überstürzten Fluchtversuch wäre die Überlebenschance extrem gering, eher sogar unwahrscheinlich.
Nur ein geordneter und geplanter Wegzug hätte Aussicht auf Erfolg.
Wie könnte ein mögliches Szenario dazu aussehen?
2. Wo könnten wir überleben?
Auf anderen Planeten oder dem Mond.
Oder auf Raumstationen.
„Die Planeten und der Mond unseres Sonnensystems wären kaum geeignet für eine dauerhafte Besiedlung. Venus kommt aufgrund ihrer sehr hohen Temperaturen nicht in Frage, theoretisch wären aber der Mars oder der Erdmond kurzzeitig geeignet. Der technische Aufwand und der Mangel an Ressourcen wie Wasser und Atemluft wären allerdings sehr groß. Ebenso wäre, aufgrund fehlender Magnetfelder, ein sehr aufwändiger, künstlicher Schutz gegen extrem schädliche Weltraumstrahlung nötig. Leben wäre dort nur unter großen Glasglocken möglich. Aber als Zwischenlösung könnten hier geeignete Stationen erdacht werden.“
In unserem eigenen Sonnensystem ist kein Planet zu finden, der für eine dauerhafte Besiedlung für Menschen gut geeignet wäre. Terraforming erscheint ihm zu unrealistisch.
(Anmerkung vorweg: Definition von Sonnensystem/Sternsystem: „Ich nutze den Ausdruck „Sonnensystem“ ausdrücklich nur für das System unserer Sonne, da im deutschen Sprachgebrauch „Sonne“ meistens als Eigenname genutzt wird. Folgerichtig benütze ich bezüglich der Exoplaneten den Ausdruck „ Sternsysteme“ anstatt Sonnensysteme.“)
„Also müsste die Menschheit unser eigenes Sonnensystem verlassen, um in einem anderen Sternsystem einen erdähnlichen Planeten zu finden. Das müssten vorzugsweise Gesteinsplaneten mit flüssigem Wasser sein.
Im Umkreis von 11 Lichtjahren (d.h. 700.000 AE = 104 Billionen km (10 hoch 12) entfernt), gibt es mindestens drei solcher Sternsysteme mit Exoplaneten. Z. B. Proxima Centauri – 4,2 Lichtjahre, Lalande 21185 – 8,3 Lichtjahre und Epsilon Eridani – 10,5 Lichtjahre entfernt.
Im Umkreis von 16,2 Lichtjahren sind es dann 63 Sterne, 22 davon könnten bewohnbare Planeten haben.
Dazu gehören zusätzlich Tau Ceti – 11,9 Lichtjahre, Gliese 876 – 15 Lichtjahre und EV Lacertae – 16 Lichtjahren Distanz.
Manche könnten erdähnliche Planeten haben.
Ein solcher Kandidat ist etwa Gliese 581 (b, c, d, e).
Somit besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass innerhalb von 50 Lichtjahren Entfernung ein bewohnbarer Exoplanet zu finden ist.“
(AE: Astronomische Einheit = mittlerer Abstand Erde/Sonne = 149 597 870 700 Metern)
3. Umzugsaufgaben
1.000.000 Menschen müssen 50 Lichtjahre weit reisen.
Diese Anzahl von Menschen sollte eine lebensfähige Kolonie garantieren und es müßten lebende Erwachsen, wegen der notwendigen Nachwuchsbetreuung in den ersten Lebensjahren, am Zielplanet ankommen.
Reisezeit: ca 500 Jahre bei Reisegeschwindigkeiten von 10 % der Lichtgeschwindigkeit -> ca 30.000 km /Std.
Ein entsprechend leistungsstarker Antrieb müsste zwar erst noch entwickelt werden – eine noch höhere Geschwindigkeit anzunehmen scheint nicht realistisch.
Der Transport von Material und Menschen erfolgt in kleineren Vehikeln zu den erdnahen Sammelstationen
Dann erfolgen Bau und Ausrüstung von 100 Reiseraumschiffen, unter Nutzung allen Materials inkl. der genutzten Transporter; Jedes Reiseraumschiff bietet Platz für 10 000 Personen.
Abflug:
Mehr als 500 Jahre Reisezeit mit dem
- entsprechenden Anlagenbetrieb und Formationsflug von 100 Reiseraumschiffen
- Gesellschaftsmanagement, Versorgung und Bildungssysteme wie etwa eine Onboard-Universität wären notwendig, um den Kenntnisstand für 500 Jahre aufrecht zu erhalten und die Existenz der reisenden Menschen langfristig zu gewährleisten.
Ankunft:
Der schrittweise Rückbau der Reiseraumschiffe und Bau von Transportern für den schrittweisen Abstieg zur Oberfläche des Zielplaneten.
Danach erfolgt der Transport auf die Oberfläche und der Aufbau einer Kolonie.
Wie sieht das ideale Reiseraumschiff aus?
Ein Habitatring mit 2 Kilometern Durchmesser und 500 Metern Breite.
Ein Habitat für jeweils 10.000 Personen.
Die Rotation mit 0,95 Umdrehungen/Minute erzeugt Fliehkraft als Ersatz für die Erdschwerkraft.
Die Flugrichtung ist in Achsenrichtung.
Ist ein solcher geordneter Wegzug von der Erde realistisch?
Herrn Wimmers persönliche Meinung zur Realisierbarkeit des Wegzugs von der Erde ist eher negativ.
Er hat pragmatisch angenommen, dass ein solcher geordneter Wegzug mit einer annähernd 100-jährige Vorbereitungszeit und einen Etat von einer Größenordnung von 70.000 Milliarden € realisierbar sein könnte.
Diese beiden Parameter ergaben sich aus seiner Analyse der notwendigen vorbereitenden Technologieentwicklungen und aus seinen Abschätzungen und Berechnung bezüglich der Kosten für den Bau von Raketen und Reiseraumschiffen für Personen – und Materialtransporte. Um speziell die riesigen Kosten besser verständlich und greifbarer zu machen, hat er den Vergleich mit den derzeitigen globalen jährlichen Militärausgaben gezogen und dabei die überraschende Übereinstimmung gefunden, dass die Wegzugskosten von 70 000 Milliarden € ungefähr den heutigen globalen Militärausgaben über 100 Jahr hochsummiert entsprechen. Aus dieser Übereinstimmung der beiden wesentlichen Parameter für die Kostensumme, verteilt über die 100 Jahre, ergab sich, dass sich die Menschheit den Wegzug überraschender Weise wohl leisten könnte, da sie sich ja ohne Zweifel die Militärausgaben leistet. Nur den Wegzug und die Militärausgaben wird sie sich nicht gleichzeitig über 100 Jahre leisten können!
Seine Zeitplanung ist ebenfalls durchdacht, schließlich kommt er aus der Raumfahrtbranche. Insgesamt und unterm Strich hält er die Erfolgsaussichten eines derartigen Unternehmens für nahezu Null. Stattdessen empfiehlt er, doch besser auf der Erde zu bleiben und hier die dringend notwendigen Reformen vorzunehmen. Und mit den vorhandenen Ressourcen sehr viel sorgfältiger umzugehen.
Sein Resumé zum Ende des Vortrages war:
Vergessen sie die Erde nicht, wir haben nur die eine!!!
Mein persönliches Resumé:
Die Kosten für einen hypothetischen geordneten Wegzug auf 70.000 Milliarden € über eine annähernd 100-jährige Vorbereitungszeit zu schätzen und mit dem geschätzten Etat für Militärausgaben im gleichen Zeitraum zu vergleichen, gefällt mir richtig gut!
Dieser Vergleich ist gleichzeitig die Messlatte für die Aussichtslosigkeit eines solchen Vorhabens.
Beim täglichen Blick in die Nachrichten bekomme ich gerade jetzt, zum Jahresbeginn 2015, eher den Eindruck, dass die ganze Welt aus den Fugen gerät. Ein Umverteilen des globalen Militäretats auf friedliche und konstruktive Projekte rückt in immer weitere Ferne. Ein 100-jähriger Frieden ist zurzeit eher im Bereich der Phantastik anzusiedeln, als der Bau des Weltraumfahrstuhls.
Wirklich bitter.
Denn es gäbe so wunderbare und wichtige große Projekte.
In letzter Zeit habe ich mehrfach Vorträge und Statements zu der Idee gehört, auf dem Mars eine Kolonie aufzubauen und den Planeten dann auch gleich durch Terraforming für die menschliche Besiedlung passend zu machen.
Z. B. von Stephen Hawking (s. o.) oder Buzz Aldrin in seinem Vortrag in Speyer (2014).
Diese „unabdingbare“ Kolonialisierung des Weltraums wird gern damit begründet, dass die irdischen Ressourcen endlich sind und „wir“ neue Lebensräume und Ressourcen erschließen müssen.
Das sehe ich grundlegend anders.
Ich bin der Meinung, dass wir nicht weiterhin die irdischen Ressourcen verschleudern, sondern endlich zu einem nachhaltigeren Umgang damit übergehen sollten.
Mit der Bahn statt mit dem Auto zu fahren, Gemüse statt Steak zu essen, und 1001 andere Dinge.
Außerdem ist es längst an der Zeit, endlich nachhaltig nutzbare Ressourcen zu erschließen.
Für Raumfahrt und friedliche Forschung im Weltall (und auch überall sonst) bin ich natürlich trotzdem unbedingt zu haben. Aber das sind vom Ressourcenaufwand her Peanuts.
Aus Sicht der Paläontologen ist das Unbewohnbarwerden der Erde in 500 Millionen Jahren für die Menschheit ein vernachlässigbarer Aspekt.
Die Säugetiere gehen als Organismengruppe zwar bis in die frühe Kreide zurück und ihre Vorläufer, die säugetierartigen Reptilien, sogar bis in die frühe Trias. Sie sind also wirklich alt und haben sich evolutiv wacker geschlagen. Aber natürlich sind keine einzelnen Gattungen oder gar Arten derartig langlebig, um das Ende unseres Planeten irgendwann mitzuerleben.
Wer auch immer sich über das Verglühen der Erde in Hunderten von Millionen Jahren ernsthafte Gedanken machen muss, die Menschen werden es ganz bestimmt nicht sein.
Der Vortrag ist auf jeden Fall eine angenehm pragmatische und praxisorientierte Blickweise auf den Wegzug der Menschen von der Erde.
Sicherlich können die hypothetischen Zahlen und Grundannahmen diskutiert werden. Auf jeden Fall veranschaulichen diese ersten Modellrechnungen die Größenordnung eines solchen Vorhabens.
Und regen zum Nachdenken an.
Zum Weiterlesen:
Diese Präsentation „Aufstieg und Fall eines Sonnensystems“ von Claus Grupen (Uni Siegen) enthält wesentliche Eckdaten, die auch im Vortrag von Wolfgang Wimmer genannt wurden:
https://www.hep.physik.uni-siegen.de/~grupen/sonne1.pdf
Ein herzliches Dankeschön an Herrn Wimmer für die Korrektur und Autorisiserung des Textes!
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