„Mermaid-Ivory“ – hinter dieser poetischen Bezeichnung verbirgt sich ein Material der besonderen Art.
Bei „Meerjungfrauen-Elfenbein“ drängte sich die Frage auf, wo in den Gesichtern lieblicher Meerjungfrauen große Hauer sein könnten. Oder ob es sich vielleicht um marine Mikrokunst aus normal großen Zähnen handelt. In dem Standardwerk zur Nordischen Nixenkunde „Die Nixen von Estland“ gibt es allerdings keinerlei Hinweise auf die kommerzielle Verwertung von Nixenzähnen. Und dabei handelt es sich um die umfassendste, mir bekannte naturkundliche Publikation zur Nixenkunde.
De facto stammt „Mermaid Ivory“ aber gar nicht von Meerjungfrauen, vielmehr handelt es sich um Schnitzereien aus den Knochen eines ausgerotteten Meeressäugers, der Stellerschen Seekuh Hydrodamalis gigas. Der deutsche Forscher und Arzt Georg Wilhem Steller hatte diese gigantische Verwandte der tropischen Manatis und Dugongs 1741 im Nord-Pazifik entdeckt. Die russische Expedition unter der Leitung von Vitus Bering war an der Bering-Insel vor der Kamtschatka-Halbinsel gestrandet.
Die friedlichen und langsam schwimmenden Fleischkolosse wurden schnell die Beute von Walfängern und Pelzjägern, die die natürlichen Ressourcen des Nord-Pazifiks rücksichtslos und ungehemmt plünderten. 1768 ist die letzte Riesenseekuh von Pelzjägern erschlagen worden, die friedlichen Meeresgetüme hatten ihre „Entdeckung“ nur um wenige Jahrzehnte überlebt.
Hydrodamalis gigas wurde bis zu 8 Meter lang und ernährte sich von Kelp, den großen Braunalgen. Sie hatte, im Gegensatz zu den heutigen Seekühen, keine Zähne und schon gar keine Hauer im Maul, sondern stattdessen zwei hornige Kauplatten, wie manche Wiederkäuer. Ihre Haut war sehr dick und rissig wie Baumrinde, darum wurde sie früher auch „Borkentier“ genannt. Sie ist eng verwandt mit den heutigen Dugongs, den Gabelschwanz-Seekühen.
Ihre gigantischen Knochen finden sich heute auf der Bering-Insel, die zu den Kommandeurs-Inseln gehört. Die russischen Kommandeurs-Inseln (Kommandorskies) sind der westlichste Teil des Aleuten-Inselbogens, der den Nord-Pazifik von der Bering-See trennt.
Bis vor weniger als 20.000 Jahren lebten die gewaltigen Stellerschen Seekühe an den Küsten des gesamten Nord-Pazifiks von Japan, über die Aleuten und Alaska, bis nach Zentral-Kalifornien (Domning, 1976). Zu Zeiten der Großen Nordischen Expedition unter Kapitän Bering fand Steller nur noch das kleine Vorkommen um die Bering- und Copper-Inseln herum, ein Relikt-Vorkommen.
Die Inselbewohner dürfen die Seekuh-Knochen für Kunsthandwerk benutzen und legal handeln. Die heute lebenden Manatis und Dugongs hingegen stehen, wie andere Meeressäuger unter striktem Schutz, auch ihre Knochen dürfen in den meisten Ländern nicht gehandelt werden. Die Situation ist also wie beim Elefanten-Elfenbein: Das Elfenbein der ausgestorbenen Mammuts ist legal handelbar, die Stoßzähne der Elefanten sind – etwa in Europa und den USA – nicht legal.
Mermaid Ivory gibt Hinweise auf noch unbekannte Vorkommen von Stellers Seekuh
Lorelei Crerar, eine Professorin für Biologie der George Mason Universität in Fairfax, sammelt seit 2008 Mermaid-Ivory-Schnitzereien, mittlerweile besitzt sie rund 200 Stücke. Diese Schnitzereien bestehen zwar aus Knochen, sind aber ähnlich aufwändig bearbeitet wie Elfenbein, so kommt es zu ihrem Handelsnamen „Ivory“.
Die meisten Stücke stammen von den Kommandeurs-Inseln. Bei einer Verkaufsausstellung entdeckte sie allerdings auch noch eine andere Herkunftsangabe: Die St Lawrence-Insel, die etwa 1000 km nördlich der Kommandeurs-Inseln liegt.
Die Händler von Alaska Fossil Ivory und David Boone Traders hatten auf ihre Nachfrage geantwortet, im Innern der St. Lawrence-Insel befänden sich Knochen der Stellerschen Seekuh, die von den Inselbewohner genutzt und gehandelt werden. So werden sie u.a. an Händler für Kunstgewerbe verkauft. Als Dokumentation nannten die Händler ihre Zwischenhändler, Transportunterlagen für den Flug und Versicherungsscheine.
Eine weitere Dokumentation einer Seekuh-Population von der St. Lawrence-Insel gibt es bisher nicht.
Crerar war neugierig geworden: War sie hier auf die Spuren einer bisher unbekannten Seekuh-Population gestoßen?
Darum führte sie mit ihren Sammlungs-Stücken und Vergleichsmaterial aus dem Smithsonian Museum eine Studie durch und ergänzte sie mit Daten aus einer Untersuchung von Clementz et al 2009.
Das mittels Radiocarbon-Methode ermittelte Alter der Knochen schwankt zwischen 1030 und 1150 Jahren, mit einer möglichen Abweichung von 30 Jahren.
Dann ging es darum, herauszufinden, ob das Meerjungfrauen-Elfenbein nun wirklich aus Knochen der ausgestorbenen Riesenseekuh besteht. Dafür wendete sich Crerar an die Smithsonian Instution: Der Experte für marine Säugetiere C. W. Potter begutachtete die Schnitzereien und verglich sie mit einer Seekuh-Rippe. Die meisten Objekte konnte er als Teile der Stellersche Seekuh identifizieren, manche waren allerdings zu klein und zu stark bearbeitet, um sie sicher zuzuodrnen.
Als nächsten Schritt ließ Crerar eine DNA-Analyse durchführen. Dabei kam heraus: Die meisten Schnitzereien stammten tatsächlich von Hydrodamalis gigas. Nur einzelne Stücke waren aus den Knochen anderer Meerestiere angefertigt worden: Grauwal (Eschrichtius robustustus), Schlank-Delphin (Stenella attenuata) und Weißschnauzen-Delphin (Lagenorhynchus albirostris). Die gefälschten Stücke stammten alle vom gleichen Händler, so Crerar, die anderen Händler hatten also zuverlässig das richtige Material verwendet und korrekt angegeben.
Allerdings stammen die Fälschungen von heute lebenden und streng geschützten Arten, die nicht gehandelt werden dürfen. Crerar meint, dass deswegen die US Fish and Wildlife Service und die National Marine Fisheries Service künftig auch den Handel mit „Mermaid Ivory“ überwachen sollten. Das hilft zwar der ausgestorbenen Riesen-Seekuh nichts mehr, schützt aber andere Arten davor, das gleiche Schicksal zu erleiden.
Die Isotopenanalyse von 1²C, 13C, 14C, 14N und 15N aus dem Kollagen der Seekuh-Knochen brachte noch eine weitere Überraschung: Alle Proben ließen sich zwei verschiedenen Gruppen zuordnen, die sich signifikant voneinander unterscheiden. Das Isotopenverhältnis ist wie ein geographischer Finderabdruck, es ermöglicht eine eindeutige geographische Zuordnung.
Offenbar stammte tatsächlich nur ein Teil der Knochen von den Kommandeurs-Inseln, ein anderer Teil von einem anderen Ort. Diese abweichenden Werte gehörten zu den Knochen, die angeblich von der St. Lawrence-Insel kamen.
Offenbar hatten um das Jahr 1100 auch noch weiter im Norden Seekühe gelebt. Die zurzeit der Entdeckungs- und Handelsfahrten von europäischen Entdeckern, Jägern und Händlern bereits verschwunden waren und darum in der schriftlichen historischen Überlieferung nirgendwo aufgetauchten. Es sind zwar subfossile Seekuh-Funde von vielen Aleuten-Inseln bekannt, nicht aber von der St. Lawrence-Insel.
Crerar hatte die Überreste einer bisher vollkommen unbekannten Seekuh-Population gefunden!
Die Zeit um 1100 liegt sehr nah an einer gut dokumentierten Warmzeit um 1220, die auch für eine Erwärmung im Nord-Pazifik gesorgt hatte. Es ist wahrscheinlich, dass sich durch diese Erwärmung auch das Vorkommen der Riesen-Seekühe weiter nach Norden schob, bis zur St. Lawrence-Insel.
Gleichzeitig sind Inuit in dieser Warmzeit weiter nach Norden gezogen. Im wärmeren Meer haben sich neue Wasserwege geöffnet und die Völker des Nordpazifiks konnten ihrer Beute wie Glattwalen weiter nach Norden folgen. Es ist nahe liegend, dass sie dann auch die dort vorgefundenen Seekühe gejagt haben. Auf der St. Lawrence-Insel leben seit mindestens 2000 Jahren bis heute die Yupik, auf deren Speiseplan eine Vielzahl von Meeressäugern steht. Crerar hält es für denkbar, dass die Inselbewohner die Riesenseekühe bis zur Ausrottung gejagt haben, so dass sie zu Stellers Zeiten längst ausgestorben waren.
Ich denke, dass es auch möglich ist, dass die Seekühe sich nach dem Ende der Warmzeit dort nicht halten konnten.
Das Dilemma von Privatsammlungen und die Bedeutung von Belegexemplaren in Museumssammlungen
„The dilemma of trade samples and the importance of museum vouchers – cavats from a study on the extinction of Steller´s sea cow: a comment on Crerar et al (2014)“ – lautet ein Kommentar zu Crerars Publikation vom 21.04.2016 von Nicholas Pyenson.
Pyenson ist Kurator für fossile Marine Säugetiere am Smithsonian National Museum of Natural History und sieht er es ungern, wenn wissenschaftliche Arbeiten an Material aus privaten Sammlungen durchgeführt werden. Zunächst wirft er die Frage nach der Provenienz auf: Es sei nicht immer sicher, dass private Sammler bei der Recherche nach der Provenienz ihrer Stücke genauso gewissenhaft sind, wie Museen es sein müssen.
Dazu kommt das Problem, dass Museums-Sammlungen ein offen zugängliches, wissenschaftliches Archiv sind, und die Objekte jederzeit für Nachuntersuchungen wieder erreichbar sind. Bei Objekten in Privatsammlungen ist dieser freie Zugang nicht immer gewährt.
Ein kommerzieller Händler mag auch gewissenhaft den Fundort eines Stücks notieren. Aber in der Regel sind kommerziell gehandelte Stücke bereits durch mehrere Hände gegangen, wie auch in diesem Fall. In diesem Fall können die Händler nur vom „Hören-Sagen“ sagen, dass ihr Knochenmaterial von der St. Lawrence-Insel stammt, weil die Zwischenhändler es so erzählt haben. Für eine solide wissenschaftliche Arbeit wäre es notwendig gewesen, sich selbst von der Fundstelle zu überzeugen. Oder zumindest selbst mit dem Zwischenhändler zu sprechen. (Anmerkung BW: Die Lokation der Fundstelle hätte in einer Publikation dann auch verborgen bleiben können, wie es zum Schutz der Fundstellen geschützter Arten oder Geotopen üblich ist.) Die von Crerar als Herkunftsnachweis angegeben Flugzeug-Transport-Dokumente und Versicherungsscheine hält Pyenson für nicht belastbar.
Er bemängelt außerdem die fehlende photographische Dokumentation der Stücke und die fehlende Ortsangabe der Sammlung.
Ein Forschungsvorhaben zur einstigen Verbreitung einer ausgestorbenen Art aufgrund von kommerziell gehandelten Stücken durchzuführen, entspricht nicht der Sorgfalt, die eine wissenschaftliche Arbeit haben sollte.
Ferner meint Pyenson, dass eine Einbeziehung weiteren Sammlungsmaterials aus anderen Museen sinnvoll gewesen wäre, da sich dadurch möglicherweise weitere Hinweise auf Seekuhvorkommen an anderen Orten aus offiziellen Quellen sicherer Provenienz ergeben hätten. Weiterhin ermuntert er Privatsammler, wissenschaftlich besonders kostbare Objekte in wissenschaftliche Sammlungen zu deponieren.
Aus Sicht der Forschungsmuseen mit ihren wissenschaftlichen Sammlungen hat Pyenson recht. Crerar wäre gut beraten, ihre Sammlung für weitere Untersuchungen auch anderen Wissenschaftlern zur Verfügung zustellen.
Ich hoffe, dass bald jemand eine umfassendere Übersichtsarbeit angehen wird, mit viel mehr Material aus nordamerikanischen, russischen und anderen Museen. Eine umfassender DANN- und Isotopen-„Survey“ würde dann vielleicht sogar noch andere Vorkommen der Stellerschen Seekuh im Nord-Pazifik nachweisen können.
Literatur:
Lorelei D. Crerar, Andrew P. Crerar, Daryl P. Domning, et al: “Rewriting the history of an extinction—was a population of Steller’s sea cows (Hydrodamalis gigas) at St Lawrence Island also driven to extinction?”, November 2014
Volume: 10 Issue: 11; Published 26 November 2014.DOI: 10.1098/rsbl.2014.0878
Pyenson, N. D., J. F. Parham, and J. Velez-Juarbe. 2016. The dilemma of trade samples and the importance of museum vouchers: caveats from a study on the extinction of Steller’s sea cow. Biology Letters 20150149
John R. Platt: The Surprising (and Mostly Legal) Trade in “Mermaid Ivory”; Scientific American, 01/2016
Hans Rothauscher: Die Stellersche Seekuh
„Die Grosse Nordische Expedition: Georg Wilhelm Steller (1709-1746). Ein Lutheraner erforscht Sibirien und Alaska.“ Katalog zur Ausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle (1996)
Enn Vetemaa: “Die Nixen von Estland“ Ein Bestimmungsbuch (2002). Mit Illustrationen von Kat Menschik
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