Leben und Stress an der Eiskante.
So lautet die verheißungsvolle Überschrift einer Reportage von Paul Nicklen. Das ist der geniale Photograph, den  eine mütterlichen Seeleopardin mit einem kleinen Pinguin füttern wollte und dessen Kamera einmalige Einsichten ins Seeleoparden-Maul bekam. “I know leopard seals. Or, at least I thought I did. After dozens of underwater encounters with one of Antarctica’s top predators I took the liberty of putting their range of behaviors into a box. On this clear, crisp morning, little did I know that my attitude would nearly cost me my life…” schreibt er über sein Verhältnis zum zweitgrößten Beutegreifer des Kontinents im Ewigen Eis.

https://www.seathos.org/wp-content/uploads/2012/04/leopard-seal-underwater_13714_600x450.jpg

See-Leopard (Sea-thos Foundation)

Paul Nicklen war also wieder auf der Photo-Pirsch am anderen Ende der Welt. Diesmal auf Kaiserpinguin-Photosafari (Aptenodytes forsteri).
An einigen Wasserlöchern und Eisschollen, an denen Kaiserpinguin-Aktivität war, versuchte er, sich in die Gedankenwelt eines Pinguins in dieser Position hineinzudenken. Als er den unverkennbaren Kopf eines Seeleoparden im Wasser erkannte und in Erinnerung an seine bisherigen Abenteuer mit diesen Flossfüßern lächelte.

Im nächsten Moment “explodierte” die große Robbe durch die Wasseroberfläche und kam wie ein schweres Geschoß auf Nicklen zugeschossen. Obwohl er 5 Meter von der Eiskante entfernt stand, hatte der Seeleopard seinen schätzungsweise 600 Pfund schweren Körper auf Augenhöhe des vermeintlichen Pinguins gebracht. Nicklen konnte noch den Arm hochreißen, um sein Gesicht zu schützen, dann riß ihn die Robbe von den Füßen und er prallte hart auf das Eis. Mensch und Robbe waren zunächst desorientiert und absolut überrascht. Aber am Wichtigsten war:  Der Seeleopard hatte im letzten Moment seinen Irrtum bemerkt und die Kiefer vor dem Nicht-Pinguin geschlossen. Nicklen war unverletzt!
Und er war der erste Mensch, der eine solche Überraschungsattacke eines Seeleoparden jemals so erlebt hatte.

Später, bei einem Tauchgang, wurde dem Photographen auch klar, dass ein Mensch aus der Unterwassersicht einem Kaiserpinguin ähnelt. Der größte aller Pinguin wird bis zu 130 Zentimeter hoch und 37 Kilogramm schwer, seine aufrecht stehende Körperhaltung ähnelt der eines stehenden Menschen. Und grundsätzlich darf ein antarktischer Meeresjäger davon ausgehen, dass am Ufer stehende Gestalten stets Pinguine sind. Menschen kommen in seinem Erwartungs- und Erfahrungshorizont eher nicht vor.
Nicklen schreibt auch, dass den Pinguinen diese Gefahr aus dem eisigen Meer bewußt sein müsse. Denn bevor sie vom Eis ins Meer springen, stehen sie lange zögernd an der Eiskante. Im Bewußtsein, dass im Wasser zwar ihre Nahrung auf sie wartet, aber auch tödliche Jäger wie Seeleoparden und Orcas.

https://www.emperor-penguin.com/empswim.jpg

Tauchende Kaiserpinguine

Der Artikel “Life and stress at the ice edge” lohnt sich unbedingt zu lesen, natürlich auch wegen der absolut phantastischen Bilder. Nicklen ist den kaiserlichen Vögeln ins Ross-Meer gefolgt und hat sie aus allernächster Nähe photographiert, elegante Taucher in einem Unterwasserballett aus Luftblasen.

Um diese Luftblasen, die die Vögel in ihrem Spezial-Tauchanzug-Gefieder mit sich nehmen, geht es im Artikel auch noch. Um eine physiologische Anpassung namens “air lubrication” , also etwa “Luftschmierung”, die 2011 von Professor John Davenport (University College Cork) und seinen Kollegen publiziert wurde.

In “Drag reduction by air release promotes fast ascent in jumping emperor penguins — a novel hypothesis” hatten Davenport et al die Hypothese aufgestellt, dass Pinguine eine Methode nutzen, die menschlichen Ingenieure als ‘air lubrication’ bezeichnen: Das Einspritzen von Luft in Grenzflächen zwischen Luft und Wasser zur schnellen Beschleunigung (“Injection of air into boundary layers”). Dazu hatten sie hatten viele Stunden Filme angeschaut und die Tauchgänge von Pinguinen studiert. So kam es zu ihrer Hypothese, dass auch Pinguine Luft im Gefieder im Wasser als Zusatzantrieb nutzen. Wenn die Vögel abtauchen, nimmt der Wasserdruck zu und komprimiert die Federn mit der enthaltenen Luft. Beim Auftauchen bleiben die Federn zusammengedrückt und die Luft entweicht. Dabei bildet sie über dem ganzen Körper eine dünne Schicht, der Pinguin zieht dann eine “Schleppe” aus feinen Luftbläschen hinter sich her. Diese “Luftschmierung” wirkt reibungsmindernd und erklärt das explosionsartige “Aus-dem-Wasser-schießen” der Pinguine, ohne das sie kaum die oft hohe Eiskante erklimmen könnten. Für mehr Details zum Angewandten Ingenieurswissen bzw. Ausreden fürs Pinguine-im-Wasser-Filme gucken empfehle ich die Lektüre der Original-Publikation.

 

 

 

Kommentare (20)

  1. #1 RPGNo1
    23. Juni 2016

    Eine wunderbare Ergänzung und Fortführung zum letzten Blog über Seeloparden: https://scienceblogs.de/meertext/2016/06/12/world-oceans-day-seeleopard-auf-abwegen-macht-neuseelaendischen-hafen-unsicher/
    Den verlinkten Artikel “Life and stress at the ice edge” werde ich heute Abend schön gemütlich durchlesen. Es gibt kein Fussballspiel, dass eventuell stören könnte.

  2. #2 Bettina Wurche
    23. Juni 2016

    @RPGNo1: Danke. Und, wie “@Anderer Michael” schrieb: Är ist wieder da! Die aufdringliche Problem-Kegelrobbe verbreitet an der Bretagne-Küste erneut Angst und Schrecken.

  3. #3 RPGNo1
    23. Juni 2016

    @Bettina: Ehre, wem Ehre gebührt.
    Wie man an meinen Kommentaren bemerkt, bin ich erst vor kurzer Zeit auf Scienceblogs gestoßen (warum eigentlich *am Kopf kratzen*).
    Aber aufgrund familiärer Vorbelastung (Vater ist pensionierter Biologielehrer) und allgemeinem Interesse an Biologiethemen, die populärwissenschaftlich verständlich aufbereitet sind, werde ich mich jetzt verstärkt hier informieren.

  4. #4 tomtoo
    23. Juni 2016

    also ich kann das verhalten des seepards absolut nachvollziehen. hast hunger , bist auf jagt auf einen leckeren pinguin und dann sceenenwechsel umhhpf magerer fotograf vor dir. hirn umschalt …… ging ja gott sei dank noch gut. also echt viel glück dass das tier so schnell reagiert hatt.
    andere sache der propläääm seepard. ich hab schon vor einem 300 kg pflanzenfresser respekt. 300 kg raubtier sind noch ne ganz andere schiene.

    gruss
    tom

  5. […] Meertext für den Podcast ausgewählt, weil ich sie sehr interessant fand. Zum einen geht es um den Fotografen Paul Nicklen und seine Beobachtungen von Kaiserpinguinen. Ein Thema ist auch die Air […]

  6. #6 Gerhard
    24. Juni 2016

    Ja, man muß immer wissen, was man macht.
    Erstaunlich auch, daß die Robbe den Irrtum bemerkte.

  7. #7 RPGNo1
    24. Juni 2016

    Die Verwechslungsgefahr (Mensch = Beutetier) wird auch immer wieder als Grund angeführt, warum es zu Haiattacken kommt. Der Seeleopard dachte, er hätte einen Kaiserpinguin auf der Eisschicht vor sich, die Haie andererseits verwechseln Schwimmer mit Robben.
    An dem im Artikel beschriebenen Vorfall finde ich faszinierend, dass der Seeleopard doch noch so schnell gegensteuern konnte und nicht zugebissen hat. Haie hingegen lassen ihr Opfer oft los, nachdem sie es geschmeckt haben. Ich spekuliere, dass unterschiedliche Sinneswahrnehmungen und -leistungen und auch die unterschiedliche tierische Intelligenz dabei eine wichtige Rolle spielen.

  8. #8 Bettina Wurche
    24. Juni 2016

    @alle: Genau das war der Punkt: Der Seeleo hat gemerkt, dass die avisierte “Beute” doch nicht richtig ins Suchmuster passte und dann in Sekundenbruchteilen, im Sprung, das “Maul aufreißen und zubeißen” in “Maul halten” umdirigiert. Haie merken es mesit erst nach dem Zubeißen, dass der Surfer auf dem Brett/Taucher, … doch nicht da srichtige war.
    Das leistungsstarke Säugetiergehirn hat den Affekt aktiv ausgeschaltet.
    Das fand ich auch bemerkenswert.

  9. #9 rolak
    24. Juni 2016

    bemerkenswert

    Insbesondere unter dem Gesichtspunkt, Bettina, daß dies gräßlich vielen Menschen in einer entsprechend hochemotionalen Situation nicht gelingt.

  10. #10 Bettina Wurche
    24. Juni 2016

    @rolak: Ja…also, falls sich jemand zwischen mich und ein potentielles Essen stellen würde…das könnte böse ausgehen. Wenn ich unterzuckert bin, werde ich wirklich ungemütlich. Wahrscheinlich war der Seeleo nicht wirklich hungrig, sondern nur in Snack-Laune : )
    Wir wissen allerdings nicht, ob ihm der Brocken (=Nicklen) dann auf einmal zu groß vorkam. Er kann ja auch gemerkt haben, dass er sich ordentlich verschätzt hat. Zwischen einem max 1,30 u 37 kg schweren Brocken und einem ca 1,80 und min 80 kg schweren Brocken ist vielleicht auch für so einen großen Beutegreifer noch mal ein Unterschied. Wir werden es nie erfahren.

  11. #11 rolak
    24. Juni 2016

    ein potentielles Essen

    Nuja, ein gesunder Appetit und voll im Jagdtrieb sind schon zwei paar Stiefel, Bettina, da bieten sich im Menschlichen imho am ehesten akute Aggression oder der Sexualtrieb an – dort setzt erfahrungsgemäß die Ratio nicht immer aber viel zu häufig viel zu wenig Grenzen in Punkto angemessene Reaktion auf Kontextänderungen.

    Das coole Leopardchen hat es aber geschafft. Wie gesagt, bemerkenswert.

  12. #12 tomtoo
    25. Juni 2016

    also mal angenommen das hirn würde bei akkuter erregung die bildrate hochhalten um die info schnell an die actoren weitertzugeben und die verarbeitungsrate wäre am maximum müsste die infomenge ja begrenzt werden.
    der notaus ist interresant !!

  13. #13 Bettina Wurche
    25. Juni 2016

    @rolak: Zwischen “gesundem Appetit” und “ICH BIN UNTERZUCKERT!” besteht ein gewaltiger Unterschied. : )

  14. #14 Bettina Wurche
    25. Juni 2016

    @tomtoo: Genau das war der Punkt: Die Robbe hatte noch einen “Notaus”. D. h.,, da lief nicht einfach ein instinktives Programm ab, sondern sie konnte noch aktiv auf kurzfristig erhaltene neue Infos reagieren. Vielleicht hatte der Photograph auch einfach die Falsche Farbe. Auf jeden Fall war er zu groß für dne normalen Pinguin. Damit wurde es für den Seeleo etwas unkalkulierbar und er hat trotz Jagdtrieb, der bei jedem Beutegreifer ausgeprägt ist, nicht zugebissen.
    Jagdtrieb gibt es übrigens auch bei Menschen, ich habe ihn auch schon bemerkt.

  15. #15 rolak
    25. Juni 2016

    OK, das ist ein valides Argument – immerhin ist bei Begleitung von Betroffenen zur Gefahrenabwehr jedesmal ausreichend Traubenzucker in der Tasche. In der klassischen Form, mit der ich aufgewachsen bin.

  16. #16 tomtoo
    25. Juni 2016

    da war vieleicht nur ne ganz winzig kleine neuronengruppe verantwortlich. sowas wie…kannste das essen ? keine ahnung ! kenn ich nicht ! beiss ja auch nicht in steine.
    misst tag ! wo isser jetzt der lecker pinguin ?
    😉

  17. #17 Bettina Wurche
    26. Juni 2016

    @tomtoo: Nein, das war ein komplexerer Vorgang: Das Auge hat den zu großen Pinguin wahrgenommen, der Sehnerv hat den Eindruck ins Gehirn geleitet, in den Kniehöcker. Dann geht der Reiz weiter zum visuellen Cortex. Nach der Wahrnehmung erfolgt die Interpretation des gesehenen Objekts mit der Erinnerung. In diesem Fall verlief dieser Abgleich negativ.
    Im Säuegtiergehirn passiert da schon etwas mehr, als die Aktivität einer kleinen Neuronengruppe. ; )
    https://de.wikipedia.org/wiki/Visuelle_Wahrnehmung

  18. #18 Anderer Michael
    26. Juni 2016

    1.Ich habe mir überlegt , welche Rolle die visuellen Leistungen des Seeleopardenauges spielen können. Pinguine können unter und über Wasser scharf sehen, weil ihre Hornhaut flach ist. Die menschliche Hornhaut ist gekrümmt, unter Wasser entsteht ein scharfes Bild hinter der Netzhaut, weswegen wir unscharf sehen, erst mit Taucherbrille scharf und größer, weil wir dann weitsichtig sind (auch ohne Taucherbrille, aber eben unscharf).
    Über das Seeleopardenauge habe ich nichts gefunden. Analog dazu eine Arbeit über Seehunde und Seebären. Diese sind unter Wasser normalsichtig und über Wasser kurzsichtig. Im übrigen sind sie wohl doch nicht farbenblind, was Thema dieser Arbeit war.
    Links:
    A https://publications.ub.uni-mainz.de/theses/volltexte/2015/4150/pdf/4150.pdf
    B https://www.didaktik.physik.uni-muenchen.de/archiv/inhalt_materialien/phy_med_opt/sehen_u_wasser.pdf

    Durchs Wasser kann man aufs Land nicht scharf sehen, darum gibt es den “Vieraugenfisch” (B), mit dem geteilten Auge, die obere Hälfte für Luft, die untere für Wasser. So gesehen konnte der Seeleopard gar nicht zwischen Mensch und Pinguin unterscheiden (abgesehen davon, dass er auch keinen Menschen erwartete) als er zum Angriff überging, und da er an Luft kurzsichtig ist, stoppte er erst kurz vor dem Zubeißen. (ist natürlich spekulativ, er konnte seinen in Schwung gesetzten Körper nicht sofort stoppen, aber immerhin hat er blitzschnell reagiert und nicht gebissen)

    2. Zur “air lubrication”
    In der Technik ist dies wie beschrieben auch ein Thema.
    Ich erinnere mich an einen Fernsehbericht über Erklärungsversuche zum “Bermudadreieck”. Eine Hypothese zur Ursache plötzlicher Schiffsuntergänge war, unterirdische Vulkanausbrüche kleineren Ausmaßes oder Gasfelder können plötzlich einen Ausstoß von Methan und ähnlichem hervorrufen. Dieses kann die Tragfähigkeit des Wasser reduzieren. Es wurden Versuche gemacht. Kleine Boote , die einem plötzlichen Schwall von Luftblasen ausgesetzt waren, sanken sofort. Ich möchte aber nicht falsch verstanden werden, das soll kein Plädoyer für irgendwelche Spekulationen zum Bermudadreieck sein

  19. #19 Bettina Wurche
    26. Juni 2016

    @rolak: Hah! Traubenzucker! Ein schwacher Trost, wenn ich meine Zähne in etwas schlagen will.

  20. […] oder in den Sozialen Medien, deren Kommentarspalten so emphatisch sind wie der hungrige Seeleopard, wenn er die fetten Kaiserpinguine über sich sieht. Darin empören sich sehr gerne Menschen, die mit Kindern arbeiten darüber, was sie alles […]