5301 Fuß – oder 1615,745 Meter – unter der Meeresoberfläche erkundete Ende Juli ein ROV des Forschungsschiffes EV “Nautilus” den Tiefseegraben vor Südkalifornien. Obwohl der Arguello Canyon westlich von Santa Barbara praktisch vor der Haustür gleich mehrerer renommierter Meeresforschungseinrichtungen liegt, entdecken Biologen dort bei nahezu jeder Expedition wieder etwas Neues, Aufsehen erregendes.
Sie wurden auch diesmal nicht enttäuscht!
Die Kameras des Tauchroboters erfassten bei der Erkundung des Meeresbodens einen violetten Ball mit Noppen. Er schien an einer Stelle an einem kleinen Überhang angeheftet zu sein, bewegte sich in der Strömung und war eindeutig ein Lebewesen. Die Außenhülle erscheint teilweise leicht durchsichtig und lässt im Inneren organische Strukturen erkennen.
Aber was für eins?
Das Video zeigt die Annäherung an den Ball und die Tonspur dokumentiert die Aufregung der Wissenschaftler:
„Was ist das?“
“Ich habe keine Ahnung, nicht den leisesten Schimmer” antwortet sein Kollege (“I have no idea. I can’t even hazard a guess.”).
“Versuchen wir, es einzusammeln?“ meldet sich eine dritte Stimme.
Da taucht im Video eine Seespinne (Krabbe) auf, viel größer als der Ball, und nähert sich dem unbekannten Organismus. „Wenn die Krabbe ihn nicht zuerst schnappt.“ Die Seespinne streckt ein spinnenhaftes Bein aus und berührt mit einer Klaue die Kugel.
Die Biologen und Biologinnen diskutieren jetzt, was das violette „Ding“ sein könnte. Ein besonders großer planktischer Organismus? Oder ein Gelege? Ein Eisack? Oder vielleicht eine Salpe? (Ich persönlich hätte noch auf eine Seegurke getippt, die sind auch immer für Überraschungen gut).
Das ROV-Team manövriert einen Sammelarm des Tauchroboters an die Kugel, saugt sie fest und legt sie dann in den Sammelbehälter.
“Es sieht aus wie eine Disco-Kugel, nur ohne Laser!“ – diese Bemerkung wird von vielen Medien als Überschrift aufgegriffen. Einige Leute haben es, dem Zeitgeist entsprechend, auch als noch nicht geschlüpftes Pokemon verglichen, oder mit einer Weihnachtskugel. Meiner Meinung nach sieht es eher wie ein Massageball aus, denn eine Discokugel oder Weihnachtskugel müssten ja glitzern. Dieser Organismus hat aber eine stumpfe und irgendwie gummiartig erscheinende Oberfläche.
Der Ball klappt auf … und ist eine Nacktschnecke
Sowie der unbekannte Organismus an Bord der E/V Nautilus war, dem Schiff der von Robert Ballard gegründeten NGO Ocean Exploration Trust, klappte der Ball auseinander. Susan Poulton beschreibt, dass nach dem Auseinanderfalten ein Fuß und Rhinophoren sichtbar wurden. Rhinophoren sind fleischige Fühler und ein olfaktorisches Sinnesorgan. Zusätzlich entfaltete das Tier dann noch eine Art Rüssel, den Proboscis. Fuß, Rhinophoren und Proboscis sind typische Merkmale von Schnecken – das 5 Zentimeter große Tier ist alse Meeresnacktschnecke. Manche dieser Meeresmollusken entwickeln ungewöhnlich leuchtende Farben und Körperanhänge, sie schweben und „fliegen“ durch alle Meere der Welt.
Das Wesen aus der Tiefsee scheint eine Schnecke aus der Gruppe der Pleurobranchiazu sein, die oft in solch leuchtenden Farben vorkommen. Allerdings haben die Meeresforscher diesen Farbton und dieses Verhalten keiner bekannten Art aus kalifornischen Gewässern zuordnen können, es ist also möglicherweise eine neue Art. Darum haben sie das Tier an die Taxonomen des Harvard Museum of Comparative Zoology gesendet, für einen DNA-Abgleich. Die taxonomische Untersuchung kann Monate dauern, gegebenenfalls müsste das Tier dann auch noch morphologisch, also aufgrund seines Körpers und äußerlichen Merkmale, beschrieben werden.
Die Ökologie der violetten Massageball-Schnecke
Sind aufgrund einer einzigen Sichtung Aussagen zur Ökologie eines Tieres möglich?
Ja, die Filmaufnahmen zeigen das Tier innerhalb seines Lebensraumes. Da sind schon einige Rückschlüsse möglich.
Zunächst einmal scheint es in der Tiefsee zu schneien. Diese weißen Flocken heißen tatsächlich Meerschnee, sie bestehen aus organischen Partikeln – aus Resten von Organismen aus höheren Wasserschichten, gelatinösem Zooplankton, Larvalhüllen, Krebsresten, Diatomeen und Kotpellets. Dieser organische Schnee ist eine wichtige Nahrungsgrundlage für viele Tiefseebewohner, etwa für den Vampir-Tintenfisch aus der Hölle, Vampiroteuthis infernalis.
Was die vom Nautilus-ROV gefilmte Schnecke frißt, weiß bisher noch niemand.
Der Meeresbiologe Jeff Goddard der University of California, Santa Barbara sagte dazu in einem Interview: “[…] Another option is a sea squirt predator. The video shows that it’s the only purple orb in an area full of gray tunicates, so it could be munching on the critters.” Im Video ist nur ein violetter Ball – die Schnecke – zu sehen. Um sie herum liegen noch viele andere graue Bälle. Goddard meint, dass sie Manteltiere (Tunicaten) sind, die fest auf dem Meeresboden sitzen und ihre Nahrung aus dem Wasser filtieren. Wenn ein Biologe ein Tier einer Art zwischen vielen Individuen einer anderen Art sieht, zieht er daraus automatisch Schlußfolgerungen für das Nahrungsnetz. Darum vermutet Goddard aufgrund der Bilder vom Meeresgrund: Die violette Schnecke könnte die grauen Manteltiere fressen. Gleichzeitig erregt die Schnecke den Appetit von großen Krabben wie der Seespinne.
Vielleicht ergibt die detaillierte Untersuchung der der Tiefsee-Schnecke im Labor ja auch Erkenntnisse über ihre Nahrung. Dazu könnten der Mageninhalt und die Form der Zunge Auskunft geben. Schließlich ist die Schneckenzunge, die sogenannte Radula, ein hoch entwickeltes und oft sehr spezialisiertes Organ zur Nahrungsaufnahme des Weichtiers mit der schlüpfrigen Sohle.
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