Nacktschnecken (Nudibranchia) sind wirklich ungewöhnliche Meeresbewohner. Sie haben keine schützende Schale, sondern leben und lieben schalenlos nackt im Meer. Durch diese Gewichtsersparnis sind sie nicht zum Kriechen verdammt, wie ihre Schalen tragenden Verwandten, sondern sind meistens frei schwimmend in den Ozeane unterwegs. Oft haben sie Fortsätze oder Sohlensäume, die sie wie Flossen zum Schwimmen und Schweben einsetzen. Gewellte Sohlensäume wie der Rocksaum einer Flamencotänzerin machen eine Schnecke zur Spanischen Tänzerin, flappende Fortsätze eine andere zum See-Schmetterling. Ihre Farben und Körperanhänge sind psychedelisch bunt und auffallend geformt wie Kostüme beim Karneval von Rio.
Manche von ihnen sind auf den ersten Blick als Schnecken erkennbar, andere geben zunächst Rätsel auf. Eine besonders rätselhafte Gattung ist Melibe, die Häubchenschnecke.
Als mir ein Freund ein Melibe-Video zum Amüsement und mit der Bemerkung „Anbei ein interessantes merkwürdiges Ding“ zuschickte (Danke Frank!), musste ich auch erst mal genau hingucken, welche Tiergruppe sich hinter diesem seltsamen Tier verbarg. Überwiegend durchsichtig, mit seltsamen Körperanhängen, einem irgendwie gearteten Fangrichter, ohne sichtbaren Kopf und Augen, amorphe Körperanhänge ohne Hand und Fuß und Flosse, eine genoppte Oberfläche und garantiert weder Innen- noch Außenskelett. Für eine Meduse ist es aber wieder zu bilateralsymmetrisch.
Melibe…was war das noch? Ach ja, die „Häubchenschnecke“. Und dieses Häubchen hat es wirklich in sich. Mehr Haube als Häubchen ist es eine einfache und effektive Fangvorrichtung: Die Schnecke stülpt die Fanghaube einfach wie eine gewaltige bewegliche Schüssel über die Beute. Diese Fanghaube ist eine sackartige Erweiterung der Mundhöhle und hat vorn eine geschlitzte Öffnung, sie ist eine Weiterentwicklung des Velums, das diese Gruppe Schnecken vor der Mundöffnung tragen. Nach dem Überstülpen kann diese Haube von der Schnecke wie eine Ringwade um den Fang zusammengezogen werden.
Häubchenschnecken sind mittelgroße bis große Bäumchenschnecken (mit ihren Körperanhängen erinnern sie an Tannenbäume) und leben im Meer, meistens in der Nähe des Meeresgrundes. Melibe leonina etwa jagt in den Kelpwäldern vor der kalifornischen Küste und wird bis zu 100 Millimeter groß. Zurzeit sind 16 Arten bekannt. Melibes jagen nicht nur langsame Beute, wie die meisten anderen Schnecken, sondern überwältigt Garnelen und Medusen. Häubchenschnecken haben weder Kiefer noch eine Radula, die für die meisten Schnecken so charakteristische Raspelzunge. Sie verdauen ihre Beute im Ganzen.
RH Helm beschreibt Melibe leonina als eine Chimäre aus Meduse (der Kopf), Stegosaurier (die „Rückenplatten“) und einer Wassermelone (der Duft).
Im Video sieht es aus, als ob die Schnecke grünlich mit Algen überwachsen sei. Der Schein trügt nicht, allerdings stecken die Algen nicht AUF sondern IN der Schnecke. Das durchscheinende Weichtier deckt nämlich einen Teil seines Energiebedarfs durch Sonnenlicht. Und zwar, indem es Zooxanthellen im Körpergewebe einlagert. Zooxanthellen sind symbiontische Einzeller, die in einem Tier leben und dieses mit aus Sonnenlicht gewonnener Energie versorgen. In diesem Fall sind die Einzeller Dinoflagellaten der Gattung Symbiodinium und sitzen in Zellen der Speicheldrüsen. Melibe nimmt die Dinoflagellaten als „Beifang“ auf, im Gegensatz zu anderen Schnecken, die über den gezielten Verzehr von bestimmten Korallen zu ihren Symbionten kommen.
Die kleinen Sonnenfresser scheinen für den Energiehaushalt der Schnecke wichtiger zu sein, als die tierische Beute: Burghardt und Wägele habe im Experiment gezeigt, dass Melibe zwar vom Sonnenlicht allein leben kann und sich dann sogar fortpflanzt. Wenn sie Sonnenlicht bekommt und zusätzliche tierische Nahrung wächst sie größer und schneller. Ohne Sonnenlicht, nur mit tierischer Nahrung kann sie allerdings nicht überleben (Burghardt, I., Wägele, H.: „Investigations on the symbiosis between the ‘solar-powered’ nudibranch species Melibe engeli Risbec, 1937 (Gastropoda, Nudibranchia, Dendronotoidea) and Symbiodinium sp. (Dinophyceae)“ (2014) Journal of Molluscan Studies, doi:10.1093/mollus/eyu043.
Ein andere ungewöhnliche Eigenschaft der Häubchenschnecken ist noch vollständig ungeklärt: Die Schnecken verbreiten süßliche Düfte. Sie sondern Terpenoide ab, deren Duft irgendwo zwischen Erdbeere, Ananas und Wassermelonen-Süßigkeiten liegen soll. Wozu diese Gerüche dienen, weiß bisher niemand. Aufgrund ihres Duft wird so eine Community von Häubchenschnecken, die ihre Häubchen wie Blütenstände in die Strömung halten, dann auch als “Bouquet” bezeichnet. Ein Strauß Häubchenschnecken, das wäre mal eine nette Aufmerksamkeit zum nächsten Valentinstag. Da bräuchte ich dann bloß noch das passende Aquarium als “Vase”.
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