Er konnte das rätselhafte Tier lebendig bergen und sehr schnell in einem gekühlten Wassercontainer ins nahe gelegene Forschungslabor bringen. Dort haben er und seine Kollegen die Appendikularie dann vorsichtig konserviert und sofort ins Smithsonian-Institut zu den Taxonomen gesendet. Dort kam nach der detaillierten morphologischen und genetischen Untersuchung heraus: Es gibt  wirklich zwei verschiedene Arten der „gigantischen“ Appendicularien  — B. stygius und B. charon.
Dann hat sich die MBARI-Wissenschaftlerin Kristine Walz die Filmaufnahmen der ROVs der letzten 25 Jahre angesehen. Und tatsächlich, das Tiefsee-Wesen war bereits 12 Mal vor die Kamera geschwommen. Es ist also zwar selten, aber nicht ganz so selten, wie vermutet. Der kleine durchsichtige Fährmann konnte aber an den wachsamen Augen der Biologen vorbeischlüpfen, weil es zu seiner Identifikation schon sehr viel Sachkenntnis dieser speziellen Tiergruppe braucht.

Wie leben diese gelatinösen Meeresbewohner?
Ihre Durchsichtigkeit ist eine typische Tarnfärbung oder vielmehr Nicht-Färbung in der durchlichteten Wassersäule der mittleren Tiefen. Sie schwimmen frei im Wasser, ihr Schwanz mit der stabilen Chorda dorsalis liefert den Antrieb. Sie produzieren ein durchsichtiges Gehäuse aus Proteinfasern, und setzen es als Netz ein, in dem Mikroorganismen wie Algen, Bakterien und Protisten hängen bleiben. Das Netz ist so geformt, dass die Nahrungspartikel vom Fang auf dem Weg zur Mundöffnung immer weiter konzentriert werden. Wenn große Nahrungspartikel oder andere vorbei schwimmende Tiere wie Fische oder Tintenfische das transparente Netz beschädigen, baut die Appendikularie einfach ein neues. Die Proteinfasern kann sie, wie eine Spinne ihren Spinnfaden, jederzeit neu produzieren.

Carl Chun und die „Valdivia“-Expedition
Carl Chun hat auch den Tiefseevampir und viele andere bis dato nie gesehene Wesen der Tief- und Hochsee erstmals wissenschaftlich beschrieben.
Das Buch „Valdivia: Die Geschichte der ersten deutschen Tiefsee-Expedition.“ Von Rudi Palla (2016) schildert diese berühmte Expedition, die ein Meilenstein in der deutschen Meeresbiologie und in der Tiefseeforschung war. Das Buch hat einen eher historischen Blickpunkt und bot so für mich noch einige neue Hintergrundinformationen. Wie die Begeisterung des Kaisers für die englische Marine, die zum Aufbau einer starken deutschen Kriegsmarine und letztendlich auch zu dieser Tiefsee-Expedition führte. Dennoch hätte ich mir einen biologischeren Fokus gewünscht. Mehr über die phantastische Fänge der noch nie zuvor gesehen Meereswesen und ein paar biologische Details, Anatomie, Ökologie und Taxonomie. Der Stoff hätte es hergegeben.

Literatur:

R. E. Sherlock, K. R. Walz and B. H. Robison: “The first definitive record of the giant larvacean, Bathochordaeus charon, since its original description in 1900 and a range extension to the northeast Pacific Ocean”; (2016) Marine Biodiversity Records; 20169:79; DOI: 10.1186/s41200-016-0075-9; Received: 22 July 2016; Published: 30 August 2016

Garstang W.: “On the anatomy and relations of the Appendicularian Bathochordaeus, based on a new species from Bermuda (B. stygius, sp. n.).” (1937) J Linn Soc Lond Zoo. 1937;40:283–303.

Chun, Carl: “Aus den Tiefen der Weltmeere”; Fischer, Jena 1903, 2. verm. Aufl., 592 S.
Digitalisiert: https://books.google.de/books?id=A8uSBwAAQBAJ&pg=PA555&lpg=PA555&dq=carl+chun+bathochordaeus+charon&source=bl&ots=SV30GAfADx&sig=m9CJKuiW3xwbf1o_q3hXQV3pnyw&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwj0krOlq-7QAhVFiRoKHYk-DoYQ6AEINjAE#v=onepage&q=carl%20chun%20bathochordaeus%20charon&f=false

 

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Kommentare (12)

  1. #1 Günter S.
    11. Dezember 2016

    Er gab 8,5 Zentimeter Körperlänge an

    Dort kam nach der detaillierten morphologischen und genetischen Untersuchung heraus: Es gibt wirklich zwei verschiedene Arten der „gigantischen“ Appendicularien — B. stygius und B. charon.

    Welche Körperlänge wurde gemessen?

  2. #2 Bettina Wurche
    11. Dezember 2016

    @Günter S.: Die 8.5 cm beziehen sich auf B. charon. Allerdings wird B. stygius ebenso groß.
    Für beide geben Sherlock et al in ihrer Publikation an: “The size of a larvacean is not diagnostic of species. We have only collected large B. charon (animals >50 mm in total length). However, we have collected B. stygius that range from 11 mm to 87 mm in total length and there is no change in the relative size of their spiracles; i.e., the inner pharyngeal openings and outer openings to the spiracles of B. stygius are approximately equal in size regardless of the age/size of the specimen.”
    https://mbr.biomedcentral.com/articles/10.1186/s41200-016-0075-9
    Und auf diesem Konferenz-Poster ist angegeben, dass beide Spezies bis etwa 10 cm lange werden:
    https://www.eposters.net/pdfs/morphology-ecology-and-molecular-taxonomy-of-two-species-of-bathochordaeus-in-the-northeast-pacific.pdf

  3. #3 Detlev Balzer
    Lübeck
    12. Dezember 2016

    Schade, dass Sie nur die Sekundärlitertaur zu Chuns Expedition lesen konnten. In seinem 1900 bei G. Fischer in Jena erschienenen Band “Aus den Tiefen des Weltmeeres” gibt es auf den Seiten 519 und 520 nämlich drei seiner Zeichnungen von B. Charon.

    Ich habe noch nicht nachgesehen, ob das Buch schon irgendwo digitalisiert zugänglich ist. Lesenswert ist es allemal, auch wegen der Einblicke in die Mentalität der damaligen Naturforder und ihres Umfeldes.

  4. #4 Bettina Wurche
    12. Dezember 2016

    @Detlev Balzer: Ja, das Buch ist digitalisiert. Ich bin mir nicht so sicher, wie die Copyrights bei digitalisierten Werken liegen, darum habe ich keinen Screenshot gemacht.
    Außerdem finde ich die Zeichnungen (hier auf S.555 und 556) nicht so aussagekräftig.
    Hier ist der link (ich ergänze es auch i d Literaturangaben):
    https://books.google.de/books?id=A8uSBwAAQBAJ&pg=PA555&lpg=PA555&dq=carl+chun+bathochordaeus+charon&source=bl&ots=SV30GAfADx&sig=m9CJKuiW3xwbf1o_q3hXQV3pnyw&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwj0krOlq-7QAhVFiRoKHYk-DoYQ6AEINjAE#v=onepage&q=carl%20chun%20bathochordaeus%20charon&f=false

  5. #5 Detlev Balzer
    Lübeck
    12. Dezember 2016

    Das ist ja drollig, in der ersten Ausgabe von 1900 gibt es eine Gesamtansicht des Tierchens (S. 519) im Maßstab 1:1, die in der digitalisierten Ausgabe von 1905 fehlt.

    P.S.: Natürlich wollte ich “Naturforscher” und nicht “Naturforder” schreiben …

  6. #6 Bettina Wurche
    12. Dezember 2016

    @Detlev Balzer: Schade, dass es keine noch neuere Auflage gibt. Das wäre doch was für LiebhaberInnen.

  7. #7 Smørrebrød
    16. Dezember 2016

    Bisschen (Halb-)OffTopic
    Das Buch von Chun ist gemeinfrei. Deswegen gibt es schon mehrere Verlage, die Nachdrucke des Werkes anbieten. Eine spontane Suche ergab Nachdrucke von mindestens 5 verschiedenen Verlagen. Meist sind das “Book-on-Demand”-Verlage, die damit verdienen, indem sie eben solche gemeinfreien Bücher neu auflegen. Wer mag, kann also z.B. 50 bis 100 Euro für einen Nachdruck von Chuns Buch bezahlen. (Ob man an das Original günstiger rankommt ist eine andere Sache…)

    Noch was zu den Digitalisierungen: Auf diese gibt es kein eigenes Urheberrecht, sie sind ebenfalls gemeinfrei. Was man aber vermeiden sollte: Von Anderen durchgeführte Digitalisierungen als Eigene ausgeben.

  8. #8 Bettina Wurche
    19. Dezember 2016

    @Smörrebröd: Danke für die Ergänzung!

  9. #9 RPGNo1
    20. Dezember 2016

    @Bettina
    Etwas OT, aber hast du eventuell mehr Infos zu dem netten Tiefseegefährten?
    https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/krake-casper-bruetet-auf-manganknollen-a-1126622.html

  10. #10 Bettina Wurche
    20. Dezember 2016

    Hier ist die Original-Publikation.
    Ich kann mal schauen, ob ich nächste Woche mal zum Weiterrecherchieren und Schreiben komme.
    https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(16)31286-6

  11. #11 RPGNo1
    20. Dezember 2016

    @Bettina
    Heißen Dank! 🙂

  12. #12 biotec4u
    24. Januar 2017

    … der Quastenflosser war ja auch biologisch nur Hypothese bis er dann entdeckt wurde.

    Und den Fährmann gibts auch am Himmel als Sternzeichen – Hol rüber über den Styx gibts bei den Göttern …

    Auch die Reise zum Mittelpunkt der Erde kennt diesen Fluss der Zeit – und in der Tiefe der Tiefsee herrscht ja auch enormer Druck auf die Fische – ihr zellulärer Aufbau ist bestimmt anders – auch in Bezug auf die Osmose.

    Meistens haben diese Fische ihr Lämpchen als Biolicht dabei – wegen der Finsternis. Und in der Tiefsee gilt auch das Gesetz der Nivellierung – der Tiefsee Boden steigt und der Mount Everest nimmt ab – alles fließt in das Meer der Zeit.

    Irgendwie der Urschleim der Genesis ganz unten – aber es lebt auch unter dem Mikroskop – biotec4u