7400 Pfund Schleimaale verwandelten am 13.07.2017 den Highway 101 in Oregon in eine Rutschbahn, 5 Autos schlidderten ineinander, so lautete die Meldung der Oregon State Police. Die Schleimaale stammen aus den 13 Frachtbehältern, die von einem umgekippten Laster auf die Straße gefallen waren.
Auch viele deutsche Medien konnten der Einladung für schlüpfrige Wortspiele nicht widerstehen – von aalglatt bis Aalplaning. Die Meldungen erklärten, dass Schleimaale in Stresssituationen Schleim absondern und die schleimigen Tiere nach Südkorea transportiert werden sollten, wo sie als Delikatesse verspeist werden. Die Texte ähnelten einander sehr, offenbar war die immer gleiche Agenturmeldung bzw. die Meldung der Oregon State Police mit einigen schlüpfrigen Wortspielen angereichert worden.
Auf den Bildern sind die mit zähem Schleim bedeckten Autos zu sehen, fast sieht es aus, als ob die Karosserie schmilzt. Die glitschigen Tiere und das Schleimszenario mit scheinbar schmelzenden Autos erinnert an SF-Szenarien der gruseligen Sorte.
Weitere Informationen über Schleimaale, ihre Biologie und Ökologie waren in den deutschen Medien nicht zu finden. Auch kein Wort darüber, ob es akzeptabel ist, Tiere lebendig von Oregon nach Südkorea zu verschiffen und wie es um den Bestand der Tiere steht.
Ein schöner Aufhänger, mal etwas über eine wenig bekannte Gruppe von Meerestieren zu schreiben.
Was ist ein Schleimaal?
Evolutiv sind diese Tiere uralt – ihr ältester bekannter Fossilnachweis, Myxinikola siroka, stammt aus dem oberen Karbon. Äußerlich haben sie sich seitdem wenig verändert, über die Physiologie der Ahnen gibt der Fossilbefund keine Auskunft. Schleimaale oder Inger (Myxinidae) entstammen einer Gruppe von Fisch-Vorläufern, aus einer Zeit, in der der Kiefer noch nicht erfunden war. Sie sind Kieferlose – bei Ingern ist die Mundöffnung eine horizontale Spalte mit einem Hornzahn.
Ihr wichtigstes Mundwerkzeug ist die Raspelzunge, eine zweiklappige, mit hornigen Zähnen besetzte Knorpelplatte.
Ihr zentrales Sinnessystem ist der Geruchssinn. Die mit Sinneszellen besetzten Tentakel am Kopf strecken sie tastend und suchend nach vorn, was an überdimensionale Schnecken erinnert. Diese Tentakel tragen Geschmacksknospen und Mechanorezeptoren. Die Augen sind schwach ausgebildet und nehmen wahrscheinlich nur Helligkeitsunterschiede wahr.
Die aalähnlich langgestreckten Körper sind mit einem oberen und einem unteren Flossensaum besetzt und tragen keine weiteren Flossen. Statt über einen Kiemenkorb atmen Schleimaale vor allem über die Haut, durch das dafür nötige Kapillarsystem erscheint die Körperoberfläche rosig.
Die meisten inneren Organe sind sehr ursprünglich, das Gehirn zeigt allerdings schon die typische fünfteilige Gliederung des Wirbeltiergehirns (Siewing, Rolf: „Lehrbuch der Zoologie“, Band 2, 1985; Wikipedia: Schleimaale).
Die Myxinidae untergliedern sich in drei Gruppen: Im Atlantik leben die Gattungen und Arten der Myxininae, im Pazifik die der Eptatetrinae, außerdem gibt es einzelne Fänge der Gruppe Rubicundus aus der Tasmanischen See, um die Galapagos-Inseln und vor Taiwan.
Mysteriöse Meereskreaturen in unzugänglichen Ökosystemen
Inger leben in gemäßigten Bereichen des Atlantiks und Pazifiks, bei Wassertemperaturen zwischen 10° C und 20 °C, am und im Meeresboden. In kühleren Meeresgebieten leben sie in 30 Metern Tiefe, in wärmeren Bereichen zieht es sie in größere Tiefen bi zu 2000 Metern. Mit schlängelnden Bewegungen graben sie sich in weiche Sedimente ein, so dass oft nur der Kopf mit den Sinnesorganen herausschaut.
Schleimaale können nicht sehr schnell schwimmen, darum sind sie auf langsame oder unbewegliche Beute angewiesen, gern knabbern sie an Kadavern. Oft flutschen sie durch Körperöffnungen wie Mund oder After in den toten Körper oder winden sich durch von anderen Beutegreifern hinterlassene Öffnungen hindurch. Dann raspeln sie mit ihrer Zunge die weichen Gewebe von innen ab. So gibt es spektakuläre Szenen von Whalefalls – ein Walkadaver ist für die schleimigen Fischvorläufer ein Festmahl. Aber auch kleinere Meeresbewohner als Wale sind ein Inger-Buffet – so mancher Fischer hat schon einen vermeintlich fetten Fisch an Deck geholt, aus dem sich dann Myriaden von Ingern ergossen, die kaum noch Filet übrig gelassen hatten.
Über die Fortpflanzung der Schleimaale ist bis heute nicht sehr viel bekannt. Sie sind Zwitter, haben keine äußeren Geschlechtsorgane und legen Eier.
Ihre Eier und Embryonen sind nur äußerst selten aufgespürt worden. 1896 hatte der Kalifornier Bashford Dean, ein Experte für mittelalterliche Rüstungen, der gleichzeitig auch Fische erforschte, gewaltiges Glück: Von einem Fischer aus Monterey Bay bekam er 800 Eier inklusive 150 Embryonen der geheimnisvollen Schleimaale. An den ausgesetzten Leinen des Fischers hatten sich die aalförmigen Tiere verfangen und in Panik Schleim abgesondert – in diesem Schleim steckten die Eier. Dean untersuchte, zeichnete und schrieb, seine 1899 erschienene Publikation „On the embryology of Bdellostoma stouti“ ist die Königsklasse der Schleimaal-Embryologie-Literatur.
Bis heute hat noch niemand eine Paarung oder auch nur einen Paarungsversuch dieser Tiere beobachtet. In Gefangenschaft haben sich diese Tiere noch nie fortgepflanzt, darum ist es bis heute auch nicht gelungen, sie zu züchten.
Schleim als Überlebensstrategie
Das namensgebende Merkmal der Inger ist ihr Schleim, den sie mit Hilfe von über 100 Drüsen produzieren. Die schmierige Absonderung ist multifunktional: Sie hilft beim Fressen, beim Hineinglitschen in die Mahlzeit und ist ein wirksames Abschreckungsmittel gegen Fressfeinde.
Dieses Video zeigt, wie ein Hai einen Schleimaal packt… und sehr schnell wieder loslässt. Der Inger gerät im Kiefer des Hais in Panik, produziert extrem schnell viel Schleim und droht dem Hai Mundöffnung und Kiemen zu verkleistern.
Gleichzeitig versiegeln die schlängelnden Meeresurviecher mit ihrem Schleim ihre Mahlzeit vor anderen Interessenten.
Selbst einem Schleimaal wird sein eigener Schleim manchmal zu viel – dann schlingt er einen eleganten Knoten in den eigenen Körper, schwimmt hindurch und streift sich so die lästige Schmiere vom Leib.
Ein Schleim für alle Fälle – kugelsichere Westen und Strumpfhosen
Der Schleim setzt sich vor allem aus zwei Komponenten zusammen: Das Glycoprotein Mucin bildet die schleimige Matrix und enthält aufgerollte Fasern aus einem Material, das der Spinnenseide ähnelt. Zur Schleimproduktion sondern die über 100 Schleimdrüsen beide Komponenten gleichzeitig ab, so dass sich im Meerwasser ein elastisches Maschengeflecht bildet. Dabei kann der Schleim zum 10.000-fachen Volumen der ursprünglich abgesonderten Substanz aufquellen. Die Fasern sind superelastisch und superfest, lässt man den Schleim trocknen, werden sie zu einer netzartigen Struktur.
Die US-Navy erforscht zurzeit den Zweikomponenten-Schleim unter militärischen Gesichtspunkten. Dazu haben Forscher des Naval Surface Warfare Center, Panama City Division (NSWC PCD). die schleimige Seide in dem Allround-Bakterium E. coli nachproduzieren lassen.
Durch seine Elastizität und Festigkeit könnte das synthetische Biomaterial ein Vorbild für neuartige Materialien für schusssichere Westen, Feuersichere Textilien, Anti-Fouling oder Anti-Shark-Spray werden. Das Gewebe bietet den taktischen Vorteil, nach dem Kontakt mit Meerwasser innerhalb von Sekunden die Eigenschaften des umgebenden Wassers zu verändern (Mann, Katherine: „US Navy Synthetically Recreates Biomaterial to Assist Military Personnel“; Story Number: NNS170124-04Release Date: 1/24/2017; America´s Navy).
Aus ähnlichen Gründen ist die ozeanische Seidenschmiere auch für die Textilindustrie interessant – hier geht es vor allem um eine höhere Reißfestigkeit von sehr dünnen transparenten Geweben wie etwa für Strumpfhosen. Trocknet die Inger-Absonderung, entsteht ein Gewebe aus seidenartigen Fasern. Sehr dünn, elastisch, reißfest und atmungsaktiv. Die einzelnen Schleimaal-Arten erreichen zwar nur Körperlängen zwischen 30 und 120 Zentimetern, aber ein einzelnes Tier kann mehrere Kilometer schleimiger Seide absondern. Eine Arbeitsgruppe der Universität Guelph (Kanada) experimentiert damit, diese „Fischseide“ nachzuahmen.
Das maritime Naturprodukt hat gegenüber den bisher üblichen Materialien wie Nylon, Lycra oder Spandex den Vorteil, dass es nicht auf Erdölprodukten basiert und dementsprechend auch umweltfreundlich abbaubar ist.
Gerade in der derzeitigen Diskussion um die Plastikflut in den Meeren wären solche multifunktionalen Gewebe, die keine schädlichen Mikroplastik-Fasern produzieren, eine echte Innovation für den Umweltschutz.
Ausbeutung der Schleimaalbestände für südkoreanische Gourmets
Aufgrund ihrer verborgenen Lebensweise und die Wissenslücken zu ihrer Fortpflanzung ist es bisher unmöglich, die Inger-Bestände zu beziffern. Darum ist es auch sehr schwierig, Maßnahmen für das Inger-Fischerei-Management zu ergreifen und Fangquoten festzusetzen.
Südkorea ist eines der wenigen Länder der Welt, in denen Schleimaale heute als Delikatesse gelten.
Das Verzehren dieser Meerestiere geht auf die japanische Besatzungszeit zwischen 1910 und 1945 zurück. Die japanischen Besatzer fingen Schleimaale, um ihre Häute zu Schuhleder zu verarbeiten, das Fleisch warfen sie fort. Die koreanische Bevölkerung kam dann auf den Geschmack. Das Leder ist bis heute für Gürtel, Portemonnaies und andere Lederwaren im Handel unter dem Namen Hagfish-Leather oder Eel-Leather verbreitet.
Übrigens: In Europa war es in früheren Zeiten auch ganz üblich, Neunaugen zu essen. In Deutschland ist das heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Neunaugen-Pastete soll eine Delikatesse sein.
In den späten 80-er Jahren hatten die Koreaner und Japaner ihre Schleimaal-Bestände überfischt und suchten nach neuen ausbeutbaren Beständen. Das passte den nordamerikanischen Fischern sowohl der Ost- als auch der Westküste ausgezeichnet, waren doch ihre traditionellen Fischbestände ebenfalls überfischt und streng geschützt, mit geringen Fangquoten. So fischten die nordamerikanischen Fischer „down the food-chain“ und fingen vor allem Schleimaale und Dornhaie. In Neu-England sind die Schleimaal-Bestände bereits um das Jahr 2000 kollabiert. Fischerei-Wissenschaftler befürchten, dass auch weitere atlantische und pazifische amerikanische Schleimaal-Bestände zusammenbrechen könnten.
Auch die Bedeutung der Inger im marinen Ökosystem ist wenig erforscht. Fest steht, dass sie eine essentielle Rolle beim Abbau toter Tiere spielen. Das Liegenbleiben zu viele Kadaver am Meeresboden bedeutet einen starken Nährstoffeintrag, der wiederum zu Sauerstoffzehrung führen kann. Solche anoxischen Verhältnisse würden schwer wiegende Veränderungen in der Chemie und Biologie des Meeresbodens hervorrufen und können Ökosysteme sogar „kippen“ lassen.
Die Schleimaal-Fischerei bedeutet auch einen starken mechanischen Eingriff in das Ökosystem des Meeresbodens. Um die Tiere aus dem Sediment zu bekommen, wird das Sediment mit seiner vielfältigen Fauna regelrecht umgegraben. Aus der Fischerei auf Flunder und andere im Boden lebenden Fische wissen wir, dass die empfindlichen, oft sessilen Benthos-Gemeinschaften durch ein derartiges Umgraben schwer geschädigt, stellenweise zerstört werden. Schließlich können sie nicht einfach davonschwimmen oder –laufen.
Ein starker Rückgang der Schleimaale bedeutet auch, dass Seelöwen und andere Meeressäuger eine wichtige Nahrungsressource verlieren – sie stören sich nicht an dem Schleim und nehmen die Inger gern als nahrhafte Snacks.
Auch wenn zurzeit niemand genau sagen, wann der Schleimaal-Bestand gefährdet ist und welche ökologischen Folgen das haben wird, dürfen wir aus der Erfahrung anderer Überfischungs-Beispiele annehmen, dass es für die marinen Nahrungsnetze keine guten Folgen zu erwarten sind.
Als erste Reaktion haben einige US-Bundesstaaten begonnen, die bisher völlig unregulierte Schleimaal-Fischerei genauer in Augenschein zu nehmen und Monitorings zu initiieren, wie etwa Oregon. Sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung.
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