Am 17.10.2017 lief auf Zeit-Online der LiveChat “Woher kommt alles Leben?”, meertext war dabei.
Zeit und ZeitOnline-Lesende konnten vorab Fragen einreichen, zu dritt haben wir (Anna, Ludmila und ich) dann geantwortet. Die vier Stunden des Chats hatten nicht ausgereicht, um alle Fragen durchzugehen. Eine für mich besonders interessante Frage will ich darum hier noch kurz beantworten, denn sie ist basal für die Zoologie:
“Welchen gemäss gängiger evolutionärer Lehre Vorteil bringen Zwischenstufen (Auge, Federn, Ohr etc.), dann, wenn sie noch keine Überlebensvorteil bedingen? Wäre ja die Conditio sine qua non, damit eine Mutation sich gegenüber den Nichtmutierenden durchsetzen könnte. Und nein, die Mikroevolution mit den Schmetterlingen ist nachvollziehbar, warum aber die Struktur des Innenohrs, die ja in kleinsten Schritten erfolgt sein muss, sich durchgesetzt hat, das würde ich gerne wissen.”
Der Begriff „Zwischenstufe“ impliziert, dass es einen definierten Ausgangs- und einen Endpunkt gibt.
Das ist nicht der Fall.
Lebensformen verändern sich stetig und müssen zu jedem Zeitpunkt funktionsfähig sein. Die Funktionen von Organen können sich verändern, manchmal haben sie mehrere Funktionen gleichermaßen. Und manchmal wechseln sie irgendwann ihre Funktionen.
Für die gleichen Probleme haben unterschiedliche Gruppen von Lebensformen unterschiedliche Lösungen hervorgebracht.
Die Entwicklung des Sehorgans “Auge” ist eine längere Geschichte.
Sie fing an beim optischen Sinn, und zwar wirklich basal. Fossil sind die ersten optischen Sinnesempfänger nicht vorhanden, aber es gibt einige ursprüngliche Lebensformen, die Aufschluss über den Beginn des Sehsinns geben können.
Schon bei Einzellern gibt es Rhodopsin-Einlagerungen in der Plasmamembran, die lichtempfindlich sind. Rhodopsin – oder Seh-Purpur – ist ein visuelles Pigment. Wahrscheinlich haben die ersten Lebensformen diese Rhodopsin-Einlagerungen zunächst eingesetzt, um sich vom Licht abzuwenden. Licht enthält schließlich UV-Strahlung, und die schädigt die DNA. Wer sich vom Licht abwendet und seine kostbare Erbinformation schützt, hatte davon also einen Fortpflanzungsvorteil. Die ersten Lebensformen sind nach heutiger Kenntnis im Wasser entstanden, Licht kam von oben, von der Wasseroberfläche.
Die Entwicklung des Lichtsinnes muss sehr früh eingesetzt haben, und zwar in Verbindung mit der inneren Uhr: Tagsüber kommt das Licht im Wasser von oben, die oberflächennahen Wasserschichten sind lichtdurchflutet. Die schädliche UV-Strahlung dringt ebenfalls ins Wasser ein, wird dann aber mit zunehmender Tiefe ausgefällt. Tagsüber kann es also für Organismen ohne wirksame UV-Barrieren im Körper gesünder (erbgutschonender) sein, in die dunklere Tiefe abzuwandern. Genau diese Tagesrhythmik ist bis heute in der täglichen Vertikalwanderung des Planktons erhalten geblieben.
Bei einfachen Organismen wie dem Augentierchen Euglaena gibt es diese Rhodopsin-Einlagerung als Pigmentfleck an der Oberfläche. Der Pigmentfleck liegt in einer Grube, so kommen nur bestimmte Wellenlängen des Lichts zu ihm durch. Bei noch tieferer Einsenkung ergibt sich schnell eine Lochkamera-Struktur: Statt nur Hell/Dunkel können dann schon Konturen wahrgenommen werden.
Mit der Ergänzung um eine Linse ergibt sich schon ein Linsenauge.
So sind durch ein sehr ähnliches Prinzip auf verschiedene Weise immer leistungsstärkere Augensysteme entstanden, innerhalb mehrerer evolutiver Linien: Chordaten (Chordatiere inkl. Wirbeltiere), Mollusken (Weichtiere inkl. Kopffüßer), Arthropoden (Gliederfüßer).
Diese Tierstämme gehen bis zurück ins Kambrium (541 bis 485,4 Mio Jahre ), zu diesem Zeitpunkt dürften ihre Augensysteme schon recht weit gewesen sein.
Sicher ist, dass Trilobiten (520 – 270 Mio Jahre) schon Komplexaugen hatten:
“Trilobites had compound eyes, akin to those of today’s insects and crustaceans. We know that because trilobites’ lenses were made of calcite, so they ofte. Ab 43n fossilized along with the rest of the trilobite’s exoskeleton.
But underneath the lenses were sensory cells, which wired vision up to the brain. Those sensory cells, like other soft tissue, rarely fossilize. Thus, seeing how trilobites’ eyes were wired into their brains has been impossible up to now.”
Auch das Wirbeltierauge hat eine sehr lange Geschichte hinter sich, die schätzungsweise 600 Millionen Jahre vor unserer Zeit begann. Das lässt sich heute fossil nicht vollständig belegen, aber die molekularbioloischen und entwicklungsbiologischen Beobachtungen ergänzen den Fossilbefund.
Fest steht, dass vor 580 Millionen Jahren die Vorfahren des heutigen Lanzettfischchens und der Manteltierchen-Larven schon recht weit entwickelte Sehorgane hatten. Darum muss es einen entsprechend langen Vorlauf gegeben haben. Im frühen Kambrium, um 550 Millionen Jahren gab es dann schon die nächste evolutive Stufe des Wirbeltierauges bei den Vorfahren der heutigen Schleimaale. Ab 530 Millionen Jahre hatten Augen bereits einfache Linsen und komplexe Nerven- und Muskelanbindungen, die eine einfache Akkomodation ermöglichten, etwa wie bei heutigen Neunaugen. Im späten Kambrium – ab 500 Millionen Jahren – entwickelten die ersten Kiefertragenden Wirbeltiere – Gnathostomen oder Panzerfische – verbesserte Augen mit besserer Bildgebung. Ab 430 Millionen vor unserer Zeit mussten die ersten Wirbeltiere mit der neuen Situation außerhalb des Wassers zurechtkommen: Eine elliptische Linse passte das Sehorgan an die andere Lichtbrechung an und ein Augenlid schützte das Sehorgan gegen Austrocknung.
Was ich hier in wenigen Sätzen zusammenfasse, beinhaltet eine ganze komplexe Kaskade von Einfaltungen und Abschnürungen von den verschiedenen Keimblättern, die in der Embryonalentwicklung so zu beobachten ist.
Grundsätzlich betrachtet, entsteht das Wirbeltier-Linsenauge durch eine Ausbuchtung des Gehirns, also von innen nach außen. Das genauso leistungsfähige Kopffüßer-Linsenauge der Kraken und Kalmare entsteht durch eine Einstülpung der Ektodermis (Körperoberfläche), also von außen nach innen. In zwei sehr unterschiedlichen Tiergruppen hat sich das gleiche Organ – das Linsenauge -also unterschiedlich entwickelt – ein Paradebeispiel der analogen Entwicklung.
Wichtig ist: Es gibt keine Zwischenschritte. Jeder einzelne evolutive Schritt war und ist voll funktional und von Vorteil für den Organismus.
Zum Weiterlesen empfehle ich den wirklich guten Wikipedia-Eintrag zur Entwicklung des Auges oder das ausgezeichnete TedX-Video “The evolution of the human eye – Joshua Harvey”.
Übrigens: Ein Pinhole eye ist ein Lochkamera-Auge.
Unser Ohr hat eine genauso lange Entwicklungszeit hinter sich. Es steht sogar, im Gegensatz zum Auge, im direkten Kontext mit der Entwicklung unseres Kiefergelenks – des sekundären Kiefergelenks der Säugetiere. Das hat mich im 3. Semester im ersten großen zoologischen Praktikum in seinen Bann geschlagen und lässt mich bis heute nicht los. Für uns Säugetiere bedeutet es alles, denn es macht unsere Nahrung besser verdaulich und ermöglich so überhaupt erst den verschwenderisch hohen Stoffwechsel mit der hohen Körpertemperatur und die großen Gehirne. Das Thema an sich ist allerdings schwer verdaulich.
Wäre das vielleicht auch für meine geschätzte Leserschaft interessant?
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