Wie ist das Säugetierohr entstanden?
Was ist ein „sekundäres Kiefergelenk“?
Und: Was beides miteinander zu tun?
Um diese und andere Fragen rund um die Evolution ging es am 17.10.2017 auf Zeit-Online in dem LiveChat “Woher kommt alles Leben?”, meertext war dabei.
Die Frage nach der Ohr-Evolution, hatten wir im Laufe der 4 Stunden Chat nicht mehr geschafft, darum schiebe ich die Antwort hier ein.
Es ist eine etwas längere Geschichte, die in den Meeren der Urzeit ihren Anfang nahm…
Das Lanzettfischchen von Helgoland
Das Lanzettfischchen Branchiostoma führt in den Sandböden vor der deutschen Hochseeinsel Helgoland, den “Amphioxus-Sänden”, der Ostsee oder dem Mittelmeer ein unaufgeregtes, vom größten Teil der Welt vollständig ignoriertes Leben. Es flutscht gelegentlich in den Sand hinein oder heraus und filtriert vor sich hin. Mit der kieferlosen Mundöffnung nimmt es Wasser und Nahrung auf und strudelten das filtrierte Wasser durch die Kiemen wieder hinaus. Der Hohlraum hinter den Kiemen heißt Kiemendarm, die Nahrungspartikel werden dort weiter nach hinten befördert und verdaut.
Das Lanzettfischchen ist ein Vertreter einer Lebensform, die es heute kaum noch gibt: Acrania – Schädellose. Fischvorläufer ohne Schädel und Kiefer.
Aber immerhin schon mit einem knochenlosen Wirbelsäulen-Prototypen aus biegsamem Bindegewebe – der Chorda dorsalis.
Lanzettfischchen sind basale Chordatiere oder Chordaten.
Chordaten sind nachgewiesen bis in Frühe Kambrium: die bisher älteste Art ist Yunnanozoon lividum aus der Chengjiang-Faunengemeinschaft des Frühen Kambriums Chinas.
Eine weitere Entwicklungsstufe waren die Rundmäuler (Cyclostomata)wie Neunaugen oder Schleimaale, die mit ihren runden Mäulern Kadaver fressen oder Blut saugen; auch von ihnen gibt es heute nur noch wenige Arten und Gattungen. Der Name „Neunauge“ basiert auf einem Missverständnis: Neunaugen haben exakt ein Auge. Gemeinsam mit der Nasenöffnung und 7 Kiemenöffnungen mag es auf den ersten Blick nach 9 Augen aussehen.
Irgendwann im Erdaltertum, im Silur, kamen Kiefer in Mode: Die Ränder der Mundöffnungen trugen nun feste Knorpel, aus denen später Knochenschienen wurden. Die ältesten bekannten Kieferträger sind die Stachelhaie, die Acanthodii. Seit dem mittleren Devon, also seit 380 Millionen Jahren. Heute sind die meisten Wirbeltiere Kiefermünder.
Heutige Fische haben Oberkiefer, bewegliche Unterkiefer und ein Gehörorgan. Das Gehörorgan der Fisch ist gleichzeitig ihr Dreh- und Schweresinnesorgan. Die Lagekontrolle erfolgt durch die Bogengänge. Nimmt der Fisch Schall auf, etwa über die Schwimmblase, erfolgt die Weiterleitung des Schalls über eine flüssigkeitsgefüllte Kanäle: Das eigentliche Hörorgan besteht aus „Gruppen von Haarzellen, deren versteifte Zellfortsätze (Stereovilli) in eine gallertartige Masse ragen. Die Bläschen und der Blindsack enthalten je einen Calciumcarbonatstein (Otolith), der bei Bewegung Druck auf die Haarsinneszellen ausübt. Im Labyrinth befindet sich eine Kanalflüssigkeit, die Endolymphe, die den Weitertransport der Schallwellen gewährleistet. Die Kalksteine und die Gallertmasse werden durch die Schallwellen bewegt. Durch die erzeugten Schwingungen werden die Härchen erregt und leiten die Impulse an das Gehirn weiter.“
Außerdem haben sie Schulter- und Beckengürtel für die paarigen Bauch- und Brustflossen.
Irgendwann vor über 380 Millionen Jahren entschlossen sich einige Fische dazu, Liegestütze zu machen. Ihre Brustflossen und der Schultergürtel waren insgesamt stämmig genug, um das ganze Fischlein hochzustemmen und schleppend fortzubewegen.
Amphibien standen mit ihrem Landgang nun vor dem Problem, dass das Element Luft den Schall weitaus schlechter leitet als Wasser. Wenn Herr Urlurch von seiner Holden erhört werden und Feinde und andere Missgeschicke rechtzeitig hören wollte, so brauchte der fischige Hörsinn ein Upgrade für das amphibische: „Frösche und Kröten hingegen haben eine lufthaltige Paukenhöhle mit Trommelfell zum Empfang von Schallwellen ausgebildet. Bei manchen Arten kann man das Trommelfell als kleinen hellen Fleck hinter den Augen erkennen. Das Innenohr der Amphibien ist ähnlich aufgebaut wie das der Fische: Zuoberst liegen die drei Bogengänge, die Papille befindet sich im Sacculus. Ein stabförmiges Gehörknöchelchen im Innenohr überträgt die Schallwellen vom Trommelfell auf das ovale Fenster.“
Über das Ohr ursprünglicher Amphibien und ihr Hörvermögen ist damit noch nicht viel bekannt. Fest steht nur, dass auch bei den Amphibien in über 300 Millionen Jahren sehr viel passiert sein dürfte.Das Amphibienohr der heutigen Lurche ist also sehr gut entwickelt, vor allem bei Fröschen, weil es zur Partnersuche genutzt wird.
Reptilien – der totale Landgang
Bei den Reptilien ist das Hörorgan vollständig an das Hören in der Luft angepasst: „Ein langgestreckter Anhang des unteren Säckchens enthält mehrere Sinnesendstellen. Das Innenohr wird vom ovalen Fenster, das mit einem Gehörknöchelchen verbunden ist, und dem runden Fenster, das dem Druckausgleich dient, begrenzt. Die lufthaltige Paukenhöhle wird vom Trommelfell begrenzt und steht über eine kurze eustachische Röhre mit dem Rachenraum in Verbindung.” Das Reptilien-Hörorgan ist äußerlich klar sichtbar.
(Der ursprünglich hier gesetzte Link zu David Peters Blog ist entfernt, s. Kommentare #3 und #4).
Vögel haben das Reptilienohr perfektioniert, moderne Federviecher hören ausgezeichnet. Nicht nur in dieser Hinsicht zeigen die Erben der Dinosaurier konvergente Entwicklungen zu denen der modernen Säuger:
„Der Feinbau des schallaufnehmenden Apparates zeigt Ähnlichkeit mit dem der Säuger. Die Ohröffnungen liegen am Hinterkopf. In der Paukenhöhle ist wie bei Amphibien und Reptilien nur ein Gehörknöchelchen ausgebildet. Mit diesem Knöchelchen werden die Schwingungen des Trommelfells in das Gehörorgan übertragen. Das Gehörorgan wird hier zwar schon Schnecke (Cochlea) genannt, weist jedoch lediglich eine leichte Spiralkrümmung – noch keine echte Schneckenform – auf. Vögel können Töne bis zu einem Halbton voneinander unterscheiden. Einige Arten können Frequenzen bis zu 30 000 Hz wahrnehmen. Der südamerikanische Fettschwalm zeigt eine Echoorientierung.”
Säugetiere haben sich aus Tiergruppen entwickelt, die sich schon sehr früh von der Reptilien-Verwandtschaft abgesetzt haben: Zunächst als säugerähnliche Reptilien, später als reptilartige Säugetiere (Eine Sammlung prachtvoller Therapsiden, säugetierähnlicher Reptilien, hatte ich im New Yorker American Museum of Natural History bewundert).
„Die Evolution der Säugetiere ist ein graduell verlaufender Prozess, der mit der Trennung der Sauropsiden– und Synapsiden-Linie irgendwann im Oberkarbon vor mehr als 300 Millionen Jahren begann und bis heute andauert. Bereits in der mittleren Trias existierten Vertreter, die Säugetieren sehr ähnlich sahen. Die ersten „echten“ Säugetiere traten jedoch erst in der Oberen Trias oder im Unteren Jura auf.“ steht in dem ausgzeichneten Wikipedia-Beitrag Evolution der Säugetiere.
Die Anfänge der Säugetiere gehen also mindestens bis in den Unteren Jura zurück und sind somit deutlich älter, als gemeinhin bekannt ist.
Ihre auffallendsten äußerlichen Merkmale wie ihr Fell und die Brustdrüsen sind im Fossilbefund oder auch am rezenten Skelett unsichtbar. Darum ist eines der wichtigsten Säugermerkmale für Paläontologen das sekundäre Kiefergelenk, das die gesamte Form des Säugerschädels maßgeblich prägt. Und natürlich das namengebende große Schläfenfenster, das im direkten Kontext mit der Kieferentwicklung steht. Das synapside Schläfenfenster hat uns unseren Namen gegeben: Wir sind Synapsida.
Auch die Zähne dieser uralten säugetierähnlichen Reptilien mit ihren oft sehr großen Eckzähnen sehen schon klar anders aus als die gleichförmige Bezahnung der Sauriersippe.
Was Kiefer und Ohr mit einem Kiemenboge zu tun haben und woran unser innerer Fisch heute noch gut erkennbar ist, erzähle ich im 2. Teil dieses Beitrags.
Zum Weiterlesen sei unbedingt Neil Shubins “Der Fisch in uns” empfohlen, als Buch oder verfilmt.
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