Dieser Beitrag ist Teil 2 von Kiemenbogen, Kiefer und Ohr – ein Knorpel macht Karriere (1).
Wie ist es nun überhaupt zur Entwicklung von Schädeln und Kiefern gekommen? Wie entstehen neue und sogar harte Strukturen an Arealen des Kopfes, wo vorher nichts war?
Das liegt daran, dass dort vorher mitnichten nichts war, sondern Kiemenbögen, strukturelle und funktionale Bauelemente des Kiemendarms.
Am Anfang war also der Kiemenbogen. Oder vielmehr die Kiemenbögen.
Dieser Anfang liegt, nach derzeitiger Schätzung, über 550 Millionen Jahre zurück.
Ein Kiemenbogen ist eine knorpelige oder knöcherne Spange, die bei aquatischen Wirbeltieren die Kiemen stützt. Dabei rahmen je zwei Kiemenbögen eine Kiementasche ein, zu jedem Kiemenbogen gehören Blutgefäße und Nerven.
Das Lanzettfischchen filtriert mit 180 Kiemenbögen das Wasser.
Rundmäuler haben ihre Kiemenbögen dann radikal reduziert auf heute 8 Kiemenbögen.
Die meisten modernen Knochenfische haben heute 5 Kiemenbögen, von denen einer oft reduziert ist.
Ein Teil ihrer Kiemenbögen hat die Bauteile für ihre Kiefer geliefert, andere sind zum Gleichgewichts- und Hörorgan geworden.
Aus dem 1. Kiemenbogen (=Mandibularbogen) entwickeln sich bei Fischen, Amphibien, Reptilien und Vögeln daraus die Knochen des primären Kiefergelenks: Os articulare und Os quadratum.
Bei Säugetieren entstehen aus dem 1. Kiemenbogen große Teile des Gesichts, wie Oberkiefer (Maxilla), Unterkiefer (Mandibula) und Gaumen. Außerdem bilden sich daraus die Gehörknöchelchen Hammer und Amboss, allerdings nicht die Steigbügel.
Säugetiere steigen also vom primären Kiefergelenk auf ein sekundäres Kiefergelenk um und bauen aus den Strukturen des alten Gelenks ein Ohr.
Tiere, die zum Leben an Land übergegangen sind, tragen also bis heute ihr Fisch-Erbe in sich. Auch wenn sie – im erwachsenen Zustand – keine Kiemen mehr haben, sind die Kiemenbögen mit ihren Blutgefäßen und Nerven doch noch vorhanden, wenn auch in anderer Form und Funktion.
Aus dem 2. Kiemenbogen (= Zungenbeinbogen oder Hyoidbogen) entsteht u. a. der obere Teil des Zungenbeins und das Gehörknöchelchen des Steigbügel.
Der 3. Kiemenbogenknorpel entwickelt sich zum unteren Teil des Zungenbeins.
Der 4. Kiemenbogen und sein Knorpel bilden sich zum oberen Teil des Kehlkopfes um.
Der fünfte Kiemenbogen bildet sich nur rudimentär oder gar nicht aus.
Der 6. Kiemenbogen und sein Knorpel bilden sich zum unteren Teil des Kehlkopfes um.
Das ist eine extrem verkürzte Darstellung der komplexen Vorgänge der Verlagerung, Umformung und Funktionsänderung der festen Strukturen der Fisch-Kieferbögen.
Jeder Kieferbogen hat natürlich noch die dazugehörigen Blutgefäße und Nerven.
Die Nerven und Blutgefäße des menschlichen Kopfes treiben Medizinstudierende regelmäßig in den Wahnsinn, weil sie scheinbar wirr durcheinanderliegen. Erst durch die stammesgeschichtliche Herleitung wird ihre Lage und Anordnung logisch nachvollziehbar und verständlich.
Ein weiteres Schein-Mysterium ist die Entwicklung des sekundären Kiefergelenks der Säugetiere, durch das Knochen aus dem Kiefergelenk zu Gehörknöchelchen werden konnten.
Wie kann es dazu kommen – warum sollte ein Kiefergelenk, das tadellos funktioniert, durch eine neues ersetzt werden?
Ein wesentlicher Punkt dabei ist, dass über eine lange Zeit hinweg beide Gelenke gut funktionierten. Das sekundäre Kiefergelenk hatte offenbar Vorteile, weil es den Ansatz wesentlich größerer Kaumuskulatur ermöglichte. Und Säugetiere mit ihrem hohen Energieverbrauch konnten durch besonders gutes Kauvermögen Nahrung besser aufschließen und mehr Energie daraus nutzen. Aus einer Vorlesung bei meinem grandiosen Professor für Evolutionsbiologie, Otto Kraus, erinnere ich mich noch, dass das sekundäre Kiefergelenk unabhängig voneinander in verschiedenen Säugetiergruppen gleichzeitig entstand, also mehrfach, „entwickelt“ wurde. Er bezeichnete dies als evolutives Plateau – viele Säugetiergruppen hatten einen ähnlichen Stand erreicht und nahmen den nächsten Schritt in ähnlicher Weise zu einem ähnlichen Zeitpunkt.
Das Video von Neil Shubin „Your inner fish: We Hear With The Bones That Reptiles Eat With” verdeutlicht diese Prozesse.
Ein Zeuge dieser Ausbildung des sekundären Kiefergelenks ist das Opossum (Monodelphis). Opossums sind als Beuteltiere Säugetiere mit basalen Merkmalen. Beim Opossum sind embryonal beide Kiefergelenke – das primäre Reptilien- und das sekundäre Säugerkiefergelenk entwicklungsbiologisch voll funktionsfähig: Neu geborene Opossums nutzen das alte, primäre Kiefergelenk offenbar noch zum Milchsaugen und -nuckeln.
Der Meckelsche Knorpel
Die Entwicklung vom Kiemenbogen zum Ohr ist eine ungeheure Geschichte über einen ungeheuren Zeitraum hinweg – wie sind Wissenschaftler dieser Entwicklung auf die Spur gekommen?
Zu Darwins Zeiten brodelte es in allen Forschungsrichtungen gleichzeitig – der Einfluss der Kirchen nahm ab, die technologische Entwicklung ermöglichte ganz neue Forschungsansätze und Ideen, die globale Vernetzung einzelner Forscher nahm rapide zu – in diesem Zeitraum entstand das moderne naturwissenschaftliche Denken mit seinen spezialisierten Fachdisziplinen.
Verschiedene Entdeckungen und Erklärungsansätze lieferten immer weitere Puzzlestücke, wie das Leben auf der Erde zusammenhängt.
Darwin hatte den Menschen als eine Art innerhalb der Tiere beschrieben und hatte mit seinem Kompendium der Evolutionstheorien Anhaltspunkte dafür geliefert, dass die Menschen aus anderen Tieren hervorgegangen sein müssen. Andere Forscher beschäftigten sich mit der Ontogenie – der Embryonalentwicklung. Einigen dieser Wissenschaftler, die menschliche Embryonen auf der Suche nach Erklärungen für Missbildungen analysierten, fiel auf, dass diese Embryonen in einem frühen Stadium Kiemenbögen haben. Wie auch die Embryonen anderer Säugetiere, Reptilien etwa Vögel.
Nach dem Durchbruch der Evolutionstheorien konnte nun offen darüber diskutiert und geforscht werden.
In der Keimesentwicklung eines Menschen und anderer Tiere laufen also einzelne Entwicklungsniveaus der Evolution noch einmal im Schnelldurchgang ab. Heute wissen wir, dass nicht gesetzmäßig die gesamte Evolution rekapituliert wird, sondern nur einige Entwicklungsniveaus. Aber das ist bereits beeindruckend genug.
Der nur noch embryonal angelegt Meckelsche Knorpel im Unterkiefer eines Säugetiers ist letztendlich eine Knorpelspange des 1. Kiemenbogens und die Leistruktur für die Anlage des Unterkiefers (Mandibula). Im Verlauf der Embryonalentwicklung wird der der Knorpel vollständig abgebaut und der Knochen bildet sich vollständig neu.
Der Meckelsche Knorpel menschlicher Embryonen ist also noch ein Stückchen Kiemenbogen, der Rest unseres inneren Fisches. Dieses kleine Knorpelstückchen bildet eine Momentaufnahme einer über 300 Millionen Jahr dauernden Evolution ab.
Diesen Themenkomplex habe ich erstmals im 3. Semester meines Biologie-Studiums gelernt. Die Faszination für solche komplexen Zusammenhänge und Abläufe sind für mich immer noch ein Wunder der belebten Natur, über das ich immer wieder ergriffen staune. Und ich werde davon niemals genug bekommen.
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