Grauwal (Wikipedia)

Ana Rodrigues und ein Team von Archäologen und Ökologen hat aufgrund einiger Knochenfunde rekonstruiert, dass Grau- und Glattwale in römischen Siedlungen verarbeitet worden sind. Die Knochen stammen von fünf archäologischen Grabungen, vier aus der Gibraltar-Region und einer von der asturischen Küste (Spanien); drei davon waren Produktionsstätten für gesalzenen Fisch und die legendäre Fischsauce (Garum).  Nach der C 14-Datierung stammten die Knochen  aus der Zeit des römischen Imperiums bzw. aus der Zeit davor. Bisher ist die Verarbeitung von Walen aus dieser Zeit nicht bekannt.
Die zweite Frage war, ob diese Wale möglicherweise aus dem Mittelmeer stammten. Das wäre neu, denn das Mittelmeer gilt aufgrund fehlender Funde und Dokumentationen bisher nicht als historisches Verbreitungsgebiet der Glatt- und Grauwale.
Das Team hatte DNA und Kollagene analysiert, um 10 mutmaßlich von Walen stammende Knochenstücke taxonomisch zuzuordnen: drei Knochen stammten von Glattwalen und drei von Grauwalen. Jeweils ein weiterer stammte von einem Delphin und von einem Elefanten.
Rodrigues et al meinen, dass die großen Walarten sehr wahrscheinlich in der Nähe der Straße von Gibraltar gelebt haben. Da beide Bartenwale flache Lagunen oder Flachmeere als Kinderstube nutzen, könnte man die Funde dahingehend interpretieren. Die Funde weisen jedenfalls darauf hin, dass Grau- und Glattwale in historischen Zeiten eine noch weitere Verbreitung im Atlantik nach Süden hatten, als bislang vermutet wurde.

File:Apollonia 010717 Garum production facility 01.jpg

Garum production facility (WikiCommons)

Der Grund des Verschwindens der beiden Großwale aus dem Mittelmeer könnte mit den größeren ökologischen Veränderungen erklärt werden, die auch zum Verschwinden der Orcas und eine Reduzierung des Nahrungsangebots im Mittelmeer. Das Vorhandensein von Knochen dieser beiden küstennah lebenden, langsam ziehenden und somit erreichbaren Bartenwale wirft die Frage auf, ob das Römische Imperium möglicherweise schon eine Art Walfang-Industrie hatte, die historisch nicht überliefert ist.

Der Gedanke ist interessant, mir kommen die spärlichen Knochenfunde aber als Nachweis für ganze Wal-Populationen und -Kinderstuben etwas dünn vor.
Der Fund lässt nämlich mehrere Möglichkeiten offen:

  1. Die Wale können Irrläufer aus dem Nordatlantik gewesen sein. Dann wäre das Mittelmeer nicht ihr üblicher Lebensraum gewesen sein. Allerdings hätten sie dann noch erlegt werden müssen.
    2. Die Wale können Strandungen gewesen sein. Dann hätten die Römer keine echten Walfangaktivitäten haben müssen.
    In beiden Fällen wären sie willkommene Fleischberge gewesen, die sicherlich nicht ungenutzt geblieben wären.
    3. Die Römer können Wale oder Teile davon im Handel erworben haben.
    Dann müsste jemand anderes die Wale gejagt haben, der technisch auf keinem anderen Niveau gewesen sein dürfte.
Bildergebnis für vilbeler mosaik hlmd

Vilbeler Mosaik im Hessischen Landesmuseum Darmstadt

Rodrigues verweist darauf, dass die Römer nicht die notwendige Technologie hatten, um Hochseespezies zu bejagen.
Da stellt sich für mich die Frage, welche Technologie es braucht, um in flachen oder Küstengewässern Gewässern einen Wal zu erbeuten? Vor den Azoren sind über lange Zeit hinweg mit Kanus Pottwale gejagt worden und Inuit erlegen schon immer auch Nordkaper mit Kajaks und Handharpunen.
Das Argument wäre also eher kein Ausschlussgrund.

Etwas ganz anderes spricht gegen die Vorstellung der römischen Großwal-Jagd:
Die Archäologin  Dr. Erica Rowan, Royal Holloway, University of London, hat bei einem Interview zu dieser Publikation im “The Guardian” gesagt: Wären Grau- und Glattwale dort in großer Zahl vorhanden gewesen und hätten die Römer eine Walfangindustrie gehabt, würde es darüber sicherlich Aufzeichnungen geben. Schließlich wurde im Römischen Imperium eine große Bandbreite von Meerestieren verspeist und auch beschrieben (“I think that if these whales were present in such numbers and were being caught on an industrial scale that we would have more evidence, perhaps not in the zoo archaeological record but in the ceramic record and in the literary sources,” she said. “The Romans ate and talked about an enormous variety of fish and seafood, and if whale was widely exploited and exported, then it is strangely absent from many discussions.”

Da stimme ich Rowan zu: Auf römischen Mosaiken sind Delphine, verschiedene Fische und anderes Meeresgetier detailliert abgebildet, ein Beispiel dafür ist etwa das Vilbeler Mosail im Hessischen Landemsuseum Darmstadt. Ein größerer Wal als ein Delphin taucht nirgendwo auf. Die Römer haben ihre Umgebung sehr genau abgebildet, in Worten und Texten. Wenn sie nichts über Wale und Walfang geschrieben haben, dann dürfen wir davon ausgehen, dass es keine Bestände großer Meeressäuger und eine strukturierte Jagd auf diese aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gab. Das bedeutet nicht, dass nicht vereinzelt Glatt- und Grauwale aus der Nordatlantik-Population auch Abstecher ins Mittelmeer gemacht haben.

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Kommentare (6)

  1. #1 Tanja Praske
    www.tanjapraske.de
    25. Juli 2018

    Liebe Bettina,

    wie wunderbar – ich mag diese fast schon kriminologischen Untersuchungen. Sehr spannend, wie Kunstwerke als Ausschlussprinzip funktionieren können. Als du das Szenarium maltest, dass wegen der Funde, diese Tierart im Mittelmeer gelebt haben könnte, dachte ich umgehend an den Handel. Außerdem hätte man doch noch viel mehr Fundstücke auch an anderen Orten haben müssen, oder?

    Bin supergespannt auf deinen zweiten Teil – gib Bescheid, wann er kommt, dann halte ich dir den Slot noch frei!

    Herzlich,
    Tanja von KULTUR – MUSEUM – TALK

  2. #2 RPGNo1
    25. Juli 2018

    Wären Grau- und Glattwale dort in großer Zahl vorhanden gewesen und hätten die Römer eine Walfangindustrie gehabt, würde es darüber sicherlich Aufzeichnungen geben.

    Das sehe ich als interessierter Laie an der römischen Geschichte (sowie Besitzer eines “großen Latinums” 🙂 ) ebenso. Die Römer haben uns dankenswerterweise eine sehr große Anzahl von Dokumenten und auch archäologischen Hinterlassenschaften beschert. Es gibt u.a. römische Kochbücher, deren Rezepte von Experimentalarchäologen und Enthusiasten nachgekocht werden.
    Wenn Wale in großem Maßstab gefangen, verwertet und verspeist worden wären, dann wäre es auch entsprechend dokumentiert gewesen und sei es beispielweise in simplen bürokratischen Listen.

  3. […] Blogs: „#DHMMeer: Europa und die Wale – eine unnatürliche Naturgeschichte (1)“ […]

  4. #4 roel
    25. Juli 2018

    @Bettina Wurche schöner Beitrag, ich beschäftige mich seit dem Hybriden wieder mehr mit Walen, da kommt dieser Beitrag gerade recht.

    Einen kleinen Fehler habe ich entdeckt (das letzte Wort): “Grauwale (Eschrichtius robustus) sind ebenfalls aus dem gesamten Nordatlantik verschwunden, ihr Verschwinden ist allerdings noch nicht vollständig ungeklärt.”

  5. #5 Bettina Wurche
    25. Juli 2018

    @roel: Danke – facepalm

  6. #6 Bettina Wurche
    25. Juli 2018

    Liebe Tanja, ja gerade bei Walen ist es schnell “CSI Whale” – und in der Paläontologie noch viel mehr, eines der Standardwerke für die Rekonstruktion von Todesumständen ist “Leichenschau am Unfallort” : )
    Der 2. Teil wird erst am Wochenende kommen, das schaffe ich heute leider nicht mehr. Ich fürchte, dann wird es zu spät sein für #DHMMeer . Aber vielen Dank für Dein Angebot.