Eine dicht gedrängte Masse kleiner Pelztiere wuselt durch die karge subpolare Landschaft, durch Blaubeer-Gestrüpp, über Rentierflechten und andere niedrig wachsenden Polarpflanzen. An einer Klippe stürzen sich die Kleinsäuger in den Tod. Aus gebrochenen Knopfaugen starren sie in den von der Mitternachtssonne diffus erleuchteten Himmel.
Dieses Bild vom rätselhaften Freitod der Lemminge dominiert bis heute die menschliche Vorstellung des arktischen Kleinsäugers. Natürlich ist es eine rein anthropozentrische Interpretation, denn von einem Selbstmord kann keine Rede sein.
Aber was steckt hinter der Geschichte? Was wissen wir wirklich über das leben und Sterben von Lemmus lemmus?
Die volle Wahrheit über Lemminge

Lemming (Wikipedia)
Lemminge gehören zu den Wühlmäusen, mehrere Arten von ihnen bevölkern die Tundren der Arktis. Zur Gattung der Echten Lemmingen (Lemmus) gehören Berglemming, Lemmus lemmus (Skandinavien, Halbinsel Kola), Sibirischer Lemming, Lemmus sibiricus (Sibirien) und Brauner Lemming, Lemmus trimucronatus (nordamerikanische Arktis).
Mit ihren kurzen Beinchen und runden Öhrchen sehen sie Hamstern recht ähnlich, neben dem Elch sind sie eine Art inoffzielles terrestrisches Wappentier skandinavischer Länder. Zahlenmäßig sind sie sicherlich die am stärksten vertetenen Säugetiere der Arktis.
Die Geschichte von Lemming-Massenwanderung und –Selbstmord ist ein Moderner Mythos (urban legend), dessen Ursprung in Skandinavien liegt. Wahrscheinlich hatten Menschen dort regelmäßig die massenhafte Vermehrungen und Wanderungen der skandinavischen Berg-Lemminge beobachtet und auch, dass viele der Kleinsäuger das strapaziöse Gewusel nicht überlebten. So beschrieb es u. a. der Skandinavienreisende und Forscher A. De Capell Brooke in seinem 1823 erschienenen Buch “Brooke´s Travels in Norway & to the North Cape”
Seinen endgültigen Ruhmeszug begann der Mythos vom Lemming-Massensuizid an der Klippe dann mit dem Disney-Film „ Weiße Wildnis“ von 1958.
Der Ökologe und Lemming-Experte Nils Christian Stenseth erklärte in einem BBC-Interview, wie das Disney-Fimteam die berühmte Szene vom Klippensprung der Lemminge inszenierte und was daran alles nicht der Wahrheit entspricht. Zunächst wurde der Film nicht in Skandinavien und mit den dort lebenden Berglemmingen gedreht, sondern in Kanada mit den dort lebenden Braunen Lemmingen. Die kanadischen Lemminge waren nicht ganz authentische Doubles ihrer skandinavischen Kumpel, da von ihnen gar keine Massenwanderungen belegt sind.
Außerdem, so Stenseth, liefen die Kleinsäuger nicht freiwillig auf die Klippe am Meer zu, sondern wurden von einem Lastwagen dorthin abgekippt.
Die Fakten sind weitaus weniger spektakulär: Auch bei Lemmingen gibt es, wie bei vielen anderen Tieren, regelmäßige Populationsschwankungen.
In Sommern mit gutem Nahrungsangebot können sie sich schnell extrem stark vermehren: Die Lemmingin bringt nach einer Tragzeit von etwa zwanzig Tagen drei bis sieben Junge zur Welt. Manche Weibchen sehen bereits im Alter von 14 Tagen Mutterfreuden entgegen, natürlich kann es mehrere Würfe pro Jahr geben: „Ein Paar wurde beobachtet, wie es in 167 Tagen acht Würfe hervorbrachte.“
Was passiert am Ende des Sommers mit den Lemmingen?
Stenseth und seine Kollegen haben zwischen 1970 and 1997 umfangreiche Daten gesammelt und 2008 publiziert: Alles, was Lemminge wirklich brauchen, ist der richtige Schnee. Wenn der Schnee trocken und weich ist, können sich unter der Schneedecke Hohlräume bilden. Dort bauen die Lemminge ausgedehnte Gangsysteme, nagen ihre pflanzliche Nahrung und sind auch noch vor Prädatoren geschützt. Gibt es eine Reihe solcher Winter, wächst die Schar der hungrigen Kleinsäuger so an, dass sie die Pflanzen der Tundra übergrasen. Dann machen sich Scharen von ihnen auf die Suche nach neuen Weidegründen. Wenn eine Gruppe Lemminge sich aufmacht, kann es passieren, dass sie an einem Hang mit einem gewissen Gefälle von der Schwerkraft überwältigt nach unten purzeln, erklärt Stenseth.
Solche Winter mit perfektem Lemming-Komfortzonen-Schnee gibt es meistens alle paar Jahre, so ist das wiederkehrende Massenaufkommen von Lemmingen als Lemming-Zyklus bekannt. Bis in die 90-er Jahre gab es gleich eine Reihe solcher strengen Winter, so hat sich eine große Wühlmaus-Population unter dem Schnee aufbauen können. Seit Mitte der 90-er Jahre allerdings hat sich die Schneebeschaffenheit von trocken und weich zu nass geändert. Damit ist es mit den Lemming-Megacities mit gutem Nahrungsangebot und Prädatorenschutz unter dem Schnee erst einmal vorbei gewesen, ihre Kopfzahlen sind seitdem gesunken. Die Lemming-Population hängt also ab von den klimatischen Verhältnissen.
Lemminge explodieren im Wutanfall?
Ein hoher Bevölkerungsdruck kann die Lemminge aggressive machen. Wanderer und Lemmingexperten berichten, dass sie von den kleinen Nagern dann attackiert werden.
Diese auffallende Aggressivität hat zu einer 2. Lemming-Legende geführt: die Wühlmäuse sollen vor Wut explodieren können. Auch das ist eine Lüge.
Nach einer besonders starken Vermehrung hinterlassen die Beutegreifer ein Schlachtfeld. Neben Schnee-Eule, Hermelin und Falken-Raubmöwe jagen auch Raben gern Kleinsäuger. Bei einem überreichen Nahrungsangebot fressen sie allerdings nur noch Teile der Beute und lassen den Rest liegen. Solch ein von Raben aufgepickter Lemming kann den Eindruck erwecken, explodiert zu sein.
Können Lemminge schwimmen?
Der Disney-Film beinhaltet einen weiteren Lemming-Fehler, nämlich ihr angebliches Ertrinken. Gewässer halten die Kleinsäuger-Kohorte keineswegs auf, sie können nämlich ausgezeichnet schwimmen. Kleinere Gewässer wie Seen überqueren sie paddelnd, erklärt Stenseth.
Dieser nicht-sensationsheischende Film zeigt driftende Lemminge:
Soviel also zum berühmtesten Massensuizid der Tierwelt.
„Wie die Lemminge“
Der kleine nordische Wühlmausverwandte und seine großen Legenden sind heute ein Teil unserer Kultur: Der Begriff „Wie die Lemminge handeln“ gehört zum Sprachgebrauch. Es ist ein Synonym dafür, dass Menschen (wie Lemminge) einem/einer anderen blindlings hinterherlaufen, oftmals in ihr Verderben.
Und dieser Beitrag wäre nicht vollständig ohne einen Hinweis auf den grandiosen Song der Rockband Knorkator „Wir werden alle sterben“:
Der wiederum zu einem anderen Element unserer Nerd-und Science-Blogs-Kultur geführt hat: Dem legendären Wissenschafts-Video-Blog „auf Leben und Tod“ von Lars Fischer „Wir werden alle sterben“. Hier eine Folge mit gemeingefährlichen Kleinsäugern: „Die Leprahörnchen von der Insel der Verrückten“:
PS: Die Frage nach dem vermeintlichen Lemming-Freitod kam bei meiner Exkursion nach Andoya am Nordpolarmeer auf (letzte Woche) – neben Pottwalen, Papageientauchern und anderen Meeresgeschöpfen erkundeten wir mit unserer kleinen Gruppe auch das Moor und die tundraähnliche Landschaft der nördlichsten Vesteralen-Insel. Mehrere der TeilnehmerInnen waren nicht zum ersten Mal in der Subarktis und es gab viele interessante Gespräche und Erlebnisse. Helmi, die Perle, brachte irgendwann das Gespräch auf Lemminge. Hier also ist die Antwort : )
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