Eine neongrüne Seeanemone verschlingt eine große Beute: Ein Kormoranküken! Der Kopf des noch federlosen kleinen Kormorans (Phalacrocorax sp.) ist bereits in der Mundöffnung des Polypen verschwunden, die noch ungefiederten Flügelstummel ragen zu den Seiten. Der ungefiederte Bürzel stakt nach oben, die großen Füße mit den Schwimmhäuten ragen als verkrümmte Paddel zur Seite.
Das Küken war noch sehr jung und hatte noch kein Federkleid – auf dem Bild sind die sprießenden Federn gut erkennbar. Ohne das Gefieder war allerdings nicht feststellbar, zu welcher Kormoran-Art das Jungtier gehörte.
Normalerweise fressen Seeanemonen keine Vögel. Die fest sitzenden Nesseltiere mit den bunten Tentakeln sind eigentlich zu klein dafür. Aufgrund ihrer fest sitzenden Lebensweise sind die Polypen auch nicht agil genug, um sich so ein schnelles und auch zu großes Wirbeltier zu schnappen. Fest sitzende Polypen und frei schwimmende Medusen schnappen sich höchstens unvorsichtige kleine Fische.
Die Biologin Lisa Habecker hatte die Anemone und ihr Festmahl in einem Gezeitentümpel am Haystack Rock in Cannon Beach, Oregon, am 24. Juli 2013 aufgenommen. Auch andere Einzelfälle, dass solch ein weicher Polyp einen Seevögel verschlungen hat, sind belegt, wie Lisa Sheffield Guy, Lisa Bullis Habecker & Gretel Oxwang in ihrer Publikation “Giant green anemones consume seabird nestlings on the Oregon coast” (Marine Ornithology, 2013).
Die Große Grüne Seeanemone (The Giant Green Anemone, Anthopleura xanthogrammica) ist in der Gezeitenzone dieser Region weit verbreitet. Normalerweise fängt sie kleine Fische, Krebse oder Muscheln. Auf den Tentakeln hat der Polyp die typischen Nesselzellen seiner Gruppe, der Nesseltiere, das Gift lähmt die Beutetiere. Dann kann er den Fang in aller Ruhe verschlucken und verdauen.
Ob das Küken lebendig oder schon tot war, als die Seeanemone es ergriffen hat, ist nicht bekannt. Es ist gut möglich, so die Autorinnen, dass etwa ein Adler den kleinen Kormoran erbeutet und dann wieder verloren hat. Das Küken kann aber durch eine andere Störung aus dem Nest gefallen sein.
Zum Zeitpunkt der Beobachtung war es bereits in Leichenstarre (rigor mortis) verfallen, wies aber keine Anzeichen weiterer Wunden durch Aasfresser oder Verwesungsspuren auf. Versuche unter kontrollierten Bedingungen hatten ergeben, dass die Leichestarre nach 1 bis 1,5 Stunden eintritt und nach 32 Stunden weitestgehend wieder gelöst ist. Das Küken war alos vor weniger als 2 Tagen gestorben. Es wies keine Fressspuren etwa von Krabben auf, darum dürfte es noch nicht allzu lange tot gewesen sein.
Eine seltene und etwas gruselige Beobachtung haben die Biologinnen in dem Gezeitentümpel vor der Küste Oregons gemacht – ein Vogelkind, das, Kopf voran, im Schlund eines kopflosen Polypen verschwindet. Für uns als Wirbeltiere ist ein kopf- und hirnloser Jäger, der eigentlich nur ein fest sitzender, weichlicher Schlund ist, wesentlich unheimlicher als ein Jäger wie Katze oder Delphin, denen wir Intelligenz, Stärke und Eleganz zugestehen. Diese hingegen Jagdszene eines wirbellosen Prädators hingegen verursacht bei vielen Menschen irrationale Beklemmungen.
Quelle:
Lisa Sheffield Guy, Lisa Bullis Habecker & Gretel Oxwang in ihrer Publikation “Giant green anemones consume seabird nestlings on the Oregon coast”(www.marineornithology.org/PDF/42_1/42_1_1-2.pdf)
Wie könnte es nun weitergehen – wie bewältigt der Polyp das viel größere Küken?
Einige Kommentatoren wollten wissen, wie es nun weitergehen könnte.
Dazu habe ich (noch) keine Information, aber man kann den weiteren Verlauf der fetten Mahlzeit extrapolieren.
Die Seeanemone verdaut einen so großen Brocken natürlich ganz langsam. Der kleine Vogel wird nun schnell auch von anderen Tieren als Nahrung und Lebensraum entdeckt. Der Zerfall durch Mikroorganismen dürfte schnell einsetzen, dabei fällt ein Kadaver schließlich auseinander: In diesem Fall fallen die Flügelstummel und die Beine in den Gelenken ab. Das Gewebe wird zersetzt, feste Verbindungen lösen sich und der Wellenschlag erledigt dann den Rest.
Kommentare (14)