Hat ein schwäbischer Raketenkonstrukteur mit der Entwicklung seines Raketen-Modul-Baukastens ESA und NASA gezeigt, wo der Rechenschieber hängt? Oder hat er auf Kosten deutscher Steuerzahler günstige Mittelstreckenraketen für afrikanische Diktatoren konstruiert? War die Firma für Discount-Raketen nur eine Fata Morgana der Raumfahrt?
Das OTRAG (Orbital Transport- und Raketen-AG)-Projekt hört sich an, wie ein Drehbuch für ein schlechtes B-Movie: Ein junger Raketentüftler aus Stuttgart hat Ende der 70-er Jahre Raketen zum Discountpreis konstruiert. Involviert waren namhafte Raketen-Experten, die einst in Peenemünde mit Wernher von Braun gearbeitet hatten. Erprobt wurden Raketen auf einem Gelände im Zaire des Diktators Mobutu, das zu seltsamen Bedingungen gepachtet worden war. Dieses erste privatwirtschaftliche Raketen-Projekt sollte bezahlbare Satelliten für Deutschland, selbst für kleinere Staaten und Entwicklungsländer ins All transportieren. Die Möglichkeit der militärischen Nutzung machte OTRAG für die Bundesrepublik Deutschland auch außenpolitisch explosiv.
Die Geschichte vom sparsamen und genialen Schwaben, der erst nach Afrika gehen musste, um seine Raketen bauen zu dürfen entspricht den höchsten Anforderungen des aktuellen Storytelling.
Der Dokumentarfilm “Fly Rocket Fly – From the Jungle to the Stars” (2018) von Oliver Schwehm stellt das Projekt vor.
Hier der Trailer:
Raketentüftler mit guten Kontakten: Private Raketenindustrie, finanziert mit deutschen Steuergeldern
Es war einmal in Afrika…
Aber eigentlich fing die Geschichte in Stuttgart an.
Oder sogar noch früher in Peenemünde.
Wernher von Braun und ein Heer von Ingenieuren hatten bis 1945 Raketen konstruiert – die Vergeltungswaffe V2 hatte in London und anderen Städten für Angst und Schrecken gesorgt. Das Zentrum der Raketentechnologie war Peenemünde, Abschußrampen standen auch an zahlreichen anderen Orten.
Nach Kriegsende 1945 hatten vor allem die USA und die UdSSR die deutschen Ingenieure an ihre eigenen Raketenprogramme gesetzt. 1969 besiegten die USA im Space Race des Kalten Krieges die Sowjetunion: Die erste Mondlandung von Astronauten im Rahmen des Apollo-Programms.
Lutz Kayser experimentiert schon als Teenager mit Raketentreibstoffen. Der Vater, der schließlich um die strukturelle Integrität des elterlichen Hauses fürchtet, stellt seinem Sohn einen Platz in einem Steinbruch zur Verfügung (Papa Kayser war Chef der Südzucker AG und hatte das entsprechende Kleingeld). 1955/56 ist Lutz Kayser Gründungsmitglied der von Eugen Sänger geleiteten Arbeitsgemeinschaft für Raketentechnik und Raumfahrt an der Universität Stuttgart e. V. Der Österreicher Eugen Sänger hatte bereits vor dem Krieg an Raumfahrzeugen getüftelt, zunächst am Amerikabomberprojektes, später an „der Entwicklung einer Raumfähre, die er Raumboot nannte und die zum Transport von Personen und Fracht zwischen Erdboden und Orbit bzw. Raumstationen dienen sollte“ (Wikipedia: Eugen Sänger). Von 1954 bis 1961 ist Sänger Direktor des Instituts für Physik und Strahlenantriebe an der Universität Stuttgart, dabei baut er das Institut sowie das Raketenversuchsgelände Lampoldshausen auf. Seine Forschungen an einem Raumgleiter sind u. a. die Grundlage für das spätere Space Shuttle (ein Sänger-Gleiter ist im Technikmuseum Speyer ausgestellt, direkt unter der russischen Raumfähre Buran).
Verheiratet ist er mit der ebenfalls raumfahrtbegeisterten Physikerin und Mathematikerin Irene Sänger-Bredt, seiner ehemaligen Assistentin. Sie hatte u. a. an der Entwicklung eines Raumgleiters mitgearbeitet und war Expertin für Raketen-Flüssigtreibstoffe („Dann wäre Deutschland führend in der Welt“, Spiegel, 1977) , später hat sie als Consultant die junge Raumfahrtindustrie beraten (Wikipedia: Irene Sänger-Bredt)
Nach seinem Ingenieursexamen in Stuttgart gründet Kayser die Technologie- und Forschungs GmbH. Das BMF (Bundesforschungsministerium) bewilligt ihm 3,5 Millionen DM für die Entwicklung eines neuen Triebwerks. Sein Konzept: „Nicht High Tech, sondern Low cost”, wie er im Film „Fly Rocket fly“ (2018 )erklärt.
Der Kreis der alten Kameraden aus Peenemünde – Sänger, Sänger-Bredt, Debus und andere – unterstützen den jungen Ingenieur, nicht nur mit Raketenkunde, sondern auch mit hervorragenden Kontakten. Braun-Vorstand und OTRAG-Aufsichtsrat Albrecht Schultz bringt das Anliegen gewisser Kreise auf den Punkt: „Kayser erreichte, was Peenemünde nicht schaffte. Jetzt müssen wir klären, welche Industrie sich mit einem Konsortium beteiligt“ („Dann wäre Deutschland führend in der Welt“, Spiegel, 1977).
Nach erfolgreichen Tests kommt die Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt – die Vorgänger-Institution der DLR – 1974 zu dem Ergebnis: „Konzept ist grundsätzlich durchführbar“, daraufhin gründet Kayser die OTRAG mit Sitz in Stuttgart und Neu-Isenburg (Hessen).
Ein finanziell kluger Schachzug, denn dort hatten viele Abschreibungsgesellschaften eine Zweit-Niederlassung. Das Konzept: Anleger unterstützen innovative Firmen finanziell, anstatt Steuern an das Finanzamt zu zahlen. Im gleichen Jahr gewinnt Kayser mit Kurt Debus einen prominenten und erfahrenen Unterstützer, Debus ist ehemaliger Direktor des Kennedy-Raumfahrtzentrums.
Ein weiterer wertvoller Kontakt: Für seinen ehemaligen Peenemünder Kollegen Debus verfasst Wernher von Braun die Broschüre „Wie Satelliten Entwicklungsländern helfen können“.
In den folgenden Jahren gelingt es den OTRAG-Finanz-Genies, regelmäßig Projekte, Projektmittel und Infrastruktur aus der Entwicklungshilfe, Forschungsförderung, steuerlich absetzbaren Projekten und anderen günstigen Gelegenheiten zur Finanzierung der OTRAG-Aktivitäten umzuleiten. Der Filz aus Männerbünden in Technik, Politik, Wirtschaft und Finanzwelt und die Gutgläubigkeit oder gar Kumpanei hessischer und Bonner Ministerien sind in „Dann wäre Deutschland führend in der Welt“ ( Spiegel, 1977) detailliert aufgeführt.
70-er und 80-er Jahre: Beginn des Satellitenzeitalters
Zu Kaysers Zeit haben in Deutschland (und sicherlich auch anderswo) erst wenige Menschen die zunehmende Bedeutung der unbemannten Raumfahrt verstanden. Satelliten gibt es zwar schon, aber sie stehen nicht im Zentrum des öffentlichen Bewusstseins.
Die DFVLR (Vorläufer-Institution des DLR) schätzt Mitte der 70-er Jahre in einem Gutachten die Anzahl der benötigten geostationären Satelliten auf 52 Stück. „Eine Zahl, die hoffnungslos falsch ist“ – der Bedarf an Trägerraketen für Satelliten und Raumsonden wird in den 80-er Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit erheblich höher sein, als bisher angenommen, schreibt Rudzinski in „Der Raumtransport braucht ein billiges „Arbeitspferd““. Die damals noch kleine ESA kommt zu einer realistischeren Einschätzung, nämlich 200 geostationären Satelliten. Ein Erdbeobachtungsnetz mit geostationären Satelliten, ein Satelliten-Navigationssystem, nationale Kommunikations-Satellitensysteme und auch schon Erntebeobachtung und ähnliche Dienstleistungen nennt der Journalist Kurt Rudzinski als den Stand der damaligen Zeit.
Der technikbegeisterte OTRAG-Fan und FAZ-Wissenschaftsredakteur Kurt Rudzinski lässt seiner Begeisterung für die „Billig-Raketen“ nahezu kritiklos freien Lauf. Unermüdlich rechnet er vor, dass die Billig-Rakete ein wesentlich lohnenswerteres und unterstützungswürdiges Projekt sei als die großen europäischen Projekte, an denen sich die Bundesregierung beteiligt. Er wettert gegen saumselige Politiker und vermutet hinter großen Institutionen wie ESA und NASA bereits ein Kartell. In Tiraden wütet er gegen die Großprojekte Space Shuttle und der Trägerrakete Ariane: „Die französische Trägerrakete – ein 1,5 Milliarden DM-Projekt – die keinerlei Chance hat, wirtschaftlich zu werden und deren Erfolg ohnehin fraglich ist, wird von Deutschland mit etwa 50 Millionen DM jährlich bezuschußt.“ (FAZ: Billigrakete aus dem Baukasten, 1974, s. u.). (FAZ: Das Billigraketenprojekt, 1975, s. u.).
Seine Unterstützung von OTRAG und die nahezu unreflektierte Übernahme von Kaysers Aussagen und Positionen grenzt schon an Hofberichterstattung. Allerdings haben Rudzinski und Kayser die kommende Bedeutung der kommerziellen Raumfahrt und Satellitentransporte als bezahlbare Dienstleistung klar erkannt. Seine Raketen könnten Satelliten ins All tragen, so Kayser laut FAZ 1978, für die Ernteüberwachung, die Suche nach Bodenschätzen oder noch nicht genutzten Süßwasservorkommen, weitere Erdüberwachungsziele oder Kommunikation oder auch für militärische Aufklärungszwecke genutzt werden. OTRAGs Transportservice in den Orbit wäre auch für kleinere Länder und Entwicklungsländer bezahlbar. Und damit für viele kleine und Entwicklungsländer, die so unabhängig von den Großmächten hätten werden können; unter den Interessenten waren Länder wie Zaire, Libyen, Sri Lanka und Brasilien.
Preiswerte Raketen aus dem Baukasten: Röhrenbündel und Salpetersäure
Kurt Rudzinski schreibt 1974/75 in der FAZ vollkommen begeistert technisch detaillierte Lobeshymnen auf Kayser und seine Raketenproduktion. Dabei rechnet er gern vor, wieviel günstiger die OTRAG-Raketen würden.
Der Raketen-Konstrukteur Kayser hat ein modulares Baukastenprinzip entwickelt: eine Vielzahl von gleichen Triebwerken wird eng gebündelt an einen Triebstofftank montiert – dies bildet ein Antriebsmodul. Viele gebündelte Antriebsmodule ergeben jeweils eine Raketenstufe. Je nach Größe und Schubkraft der Rakete werden entsprechend viele dieser Antriebsmodule und Raketenstufen summiert. Indem diese immer gleichen Bauelemente als Bausteine für verschiedene Raketengrößen zusammengefügt werden, verringern sich die Kosten gegenüber anderen Raketen, bei denen jede Stufe und jede Raketengröße neu und unterschiedlich konstruiert und produziert werden muss. Kayser verwendet statt dessen bereits existierende industrielle Bauteile – etwa spiralgeschweißte Pipeline-Röhren von Krupp aus einer Nickelverbindung als Raketenhülsen und KfZ-Scheibenwischermotoren von Bosch als Ventilsteuerung. Die einzelnen Raketenstufen seien ineinander gebaut, statt wie üblich aufgesetzt. Auch der Treibstoff aus Dieselöl und Salpetersäure solle wesentlich günstiger sein als das sonst verwendete Dimethylhydrazin/Stickstoffetroxid (Rudzinski, Kurt: „Billigrakete nach dem Baukastenprinzip“, FAZ 1974, s. u.).
Diese Idee basiert auf Entwürfen aus den 30-er Jahren, die Kayser weiterentwickelt hat.
Die DFVLR (Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt, Vorgängerinstitution der DLR) hat in einem Gutachten die OTRAG-Trägerraketen bezüglich der Realisierung und technischen Zuverlässigkeit sehr positiv eingeschätzt.
Die Discount-Rakete sollte in drei Größen auf den Markt kommen:
– 200 kg Nutzlast, niedriger Orbit
– mittelschwerer Nutzlastbereich (500, 1000 und 2500 kg), geostationärer Orbit
– große Nutzlast (5000, 10000 kg) geostationärer Orbit, 8 m Durchmesser
Bis 1980 wolle Kayser diese drei Raketengrößen serienmäßig als Dienstleistung zum Satellitentransport zur Verfügung stellen, schwärmt Rudzinski – seine FAZ-Artikel lesen sich wie eine OTRAG-Werbeprospekt. Zahlen- und technikverliebt wettert der FAZ-Journalist in seinen Artikeln gegen die saumseligen Politiker, die OTRAGs Bedeutung nicht erkennen würden und vermutete ein Kartell staatlicher Stellen, der ESA und NASA, um den Billiganbieter OTRAG auszubooten (oder eher auszuraketen): „Bis jetzt hat das OTRAG-Projekt sehr wenig Unterstützung der Bundesregierung gefunden.“ Das Festhalten der Regierung an der alten komplizierten Raketentechnik wie Ariane und Space Shuttle widerspräche aller technischen und wirtschaftlichen Vernunft (Der Raumtransport braucht ein billiges „Arbeitspferd“). Verantwortungslose „Beratung“ und falsche „Experten“ sowie Verschwendung von Steuermitteln wirft er den Entscheidern vor, die für die Förderung der Ariana-Rakete und die Nutzung des Space Shuttles votieren. (Wer weitere technische Details und Wirtschaftlichkeitsberechnungen sucht, wird in Rudzinskis Beiträgen fündig).
Im Mai 1977 startet eine 8 Meter lange, aus vier Tanks und vier Triebwerken zusammengesetzte Rakete erfolgreich in Zaire und fliegt in 10 km Höhe, am 20. Mai 1978 erreicht der 2. Start einer OTRAG-Rakete bereits 30 km (Anatol Johansen: „Wieder erfolgreicher Billigraketenstart“; FAZ; 1978).
Anfang der 80-er Jahre will Kayser dann Satelliten in geostationäre Bahnen in 36.000 km Höhe bringen.
(Fortsetzung folgt in zwei Tagen- alle Quellenangaben sind im 2. Teil)
(Leider sind alle Abbildungen urheberrechtlich geschützt, so dass dieser Beitrag eine reine Textwüste bleiben muss)
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