Der große braune Vogel guckt mich aus glänzenden Augen an, vorbei an seinem gewaltigen Schnabel. Der klobige Schnabel endet in einem großen Haken und wirkt durch das unbefiederte Gesicht des Vogels noch größer. Mit erwartungsvoll erhobenem Kopf, in gelassener Neugier, starrt er zurück. Das nackte Gesicht ist vom Kopfgefieder eingerahmt wie von einer Kapuze und hat dem Federvieh seinen wissenschaftlicher Namen Raphus cucullatus eingebracht – „kapuzentragender Nachtvogel“.
Besser bekannt als Dodo oder Dronte.
Über 70 Zentimeter hoch und solide gebaut ist das kapitale Federvieh. Der massive Körper steht auf zwei starken Beinen mit großen Füßen, die lächerlich kleinen Flügel ohne Schwungfedern und die Andeutung eines Schwänzchens zeigen klar, dass er gut zu Fuß war.
Unprätentiös dunkelbraun-grau gescheckt ist das glatte Gefieder, ohne gezwirbelte und geschwungene Schmuckfedern. Der Schnabel schimmert bläulich.
1589 von holländischen Seeleuten auf Mauritius entdeckt und als willkommener, wenn auch wenig wohlschmeckender Proviant gegessen oder lebendig mitgenommen. Wenig später auch als Rarität und Forschungsobjekt gesammelt, schmolz die kleine Population des großen flugunfähigen Vogels schnell dahin, 1690 war die Art dann schon ausgerottet.
Jetzt steht er mit glänzenden Augen wieder im Senckenberg-Museum – die Präparatorin Hilde Enting hat diese Ikone des menschengemachten Artensterbens wieder zum Leben erweckt. In jahrelanger Vorbereitung und nach dem allerneusten wissenschaftlichen Stand.
Der Senckenberg-Dodo – die Präparatorin und ihr Projekt
Vom Dodo sind heute viele Skizzen, Zeichnungen und Gemälde sowie Beschreibungen von Zeitgenossen erhalten. Das Originalmaterial ist ungleich rarer – ein mumifizierter Kopf, ein ebensolcher Fuß und viele Skelette, von denen aber nur zwei von einem Individuum stammten, alle anderen sind aus den Knochen verschiedener Exemplare zusammengesetzt.
Ein ausgestorbenes Tier zum Leben zu erwecken ist auf dieser spärlichen Basis und widersprüchlichen Abbildungen eine gewaltige Herausforderung. Die Präparatorin Hilde Enting ist von dem knolligen Vogel aber schon seit zwei Jahrzehnten fasziniert, seit sie Fullers Buch „Extinct Birds“ in die Hände bekam. Seitdem sammelt sie Informationen und beschäftigt sich mit der Frage „Wie sah der Dodo denn nun wirklich aus?“.
Schon lange gibt es ein Skelett im Senckenberg-Museum – allerdings nicht aus den Knochen nur eines Individuums -, Gipsabgüsse von dem mumifizierten Kopf und Fuß lagen ebenfalls vor. Aber zu viele Informationen fehlten noch.
Der ausgestorbene Dodo ist kein Vogel wie jeder andere, ein Abguss vom Original oder eine Dermoplastik mit einem Original sind ausgeschlossen. Die eigentliche Arbeit der Präparatorin begann darum mit der Erforschung der historischen Überlieferungen in Wort und Bild. Besonders problematisch ist dabei, dass sich die Abbildungen so stark voneinander unterscheiden. Manche Zeichnungen und Gemälde zeigen rundliche, träge Vögel, andere Vögel sind dynamischer und viel schlanker. Was stimmt nun? Und: was sagen WissenschaftlerInnen dazu? In der Diskussion mit dem Senckenberg-Paläo-Ornithologen Gerald Mayer, durch das Studieren der Publikationen und die historischen Kontexte kam Hilde Enting der lebensechten Rekonstruktion immer näher.
Ökologie eines Verschwundenen
Der Dodo war ein flugunfähiger nachtaktiver Vogel, der ausschließlich auf der Insel Mauritius im Indischen Ozean vorkam. Der als etwas über einen Meter große und etwa 20 Kilogramm schwer beschriebene Vogel lebte und brütete im Unterholz, er hatte auf der Insel keine natürlichen Feinde.
Das Gefieder war in blaugraubraun Schattierungen, eine gute Tarnfarbe für seinen Lebensraum.
Ein besonders wichtiger Bestandteil des mutmaßlichen Dodo-Menus waren wohl die hartschaligen Früchte des Calvarienbaums. Vogel und Frucht sind endemisch auf Mauritius, lange Zeit wurde eine Ko-Evolution angenommen: Die Calvarien-Früchte sollten erst nach der Darmpassage im Vogelgekröse keimen:
„Zurückgehend auf einen einflussreichen Artikel des amerikanischen Ökologen Stanley A. Temple[6] hat sich die Theorie verbreitet, der Calvariabaum von Mauritius wäre in Koevolution zum berühmten, ebenfalls ausgestorbenen Vogel Dodo oder Dronte (Raphus cucullatus) auf diese vermutlich fruchtfressende Art für die Vermehrung angewiesen gewesen und sei nun, nach deren Ausrottung, ebenfalls zum Aussterben verdammt. Der Same hätte, aufgrund der steinharten Samenschale, nur im Magen der Vögel mit ihren Magensteinen die Fähigkeit zur Keimung erlangt. Zur Erhärtung seiner These verfütterte Temple später Früchte des Baums experimentell an Truthühner (Meleagris gallopavo), wonach sich ihre Keimungseigenschaften stark verbesserten.
Der These ist längst widersprochen worden[7], dennoch wurde die Baumart im Englischen lange Zeit sogar als „Dodo Tree“ bezeichnet. Die These hat, aufgrund ihrer attraktiven moralischen Qualität, weite Verbreitung, bis hin in Schul- und Lehrbücher gefunden.[8][9] Es konnte zumindest bestätigt werden, dass Arten mit großen Früchten wie der Calvariabaum noch stärker zurückgegangen sind als die bedrohte endemische Flora der Insel insgesamt.[10] Inzwischen werden, neben dem Dodo, auch andere ausgestorbene Fruchtfresser genannt, deren Verschwinden möglicherweise ebenso ursächlich für den Rückgang gewesen sein könnte, etwa die Riesenschildkröten der Gattung Cylindraspis[11] Spätere Experimente mit angeritzten Samenschalen zeigten außerdem, dass das Reiben der Samen durch die Magensteine von Vögeln die Keimungseigenschaften nicht, wie erwartet, verbessert.[3] Ein Zusammenhang zwischen dem Rückgang fruchtfressender Arten und dem Rückgang des Baums ist danach heute durchaus plausibel, aber nicht bewiesen, da die Art außerdem durch andere Faktoren wie Entwaldung und eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten (Neobiota) bedroht ist. Temples ursprüngliche Theorie gilt heute aber als unwahrscheinlich.[12]“ (Wikipedia: Calvarienbaum)
Dodo – ein Vogel zwischen Inselhabitat, Naturalienkabinett und Pop-Kultur
Das exotische Federvieh war populär genug, um immer wieder abgebildet und nachgedruckt zu werden. Viele Zeichnungen und Gemälde aus mehr als 300 Jahren zeigen den ausgestorbenen Vogel, der Wahrheitsgehalt schwankt zwischen Realität und Popkultur. Die Bandbreite der Vogelgestalt ist groß von einem agilen Läufer mit der Körperhaltung eines Moas bis zum knuffigen gefiederten Moppel.
Einige sehr schlichte Zeichnungen sind im Logbuch des holländischen Schiffes „Gelderland“ zu finden. Ganz unprächtig ist der Dodo, schlicht und von mehreren Seiten inklusive einiger Details. Diese Zeichnungen stammen vermutlich von Joris Joostensz Laerle (Julian Hume: The journal of the flagship Gelderland – dodo and other birds on Mauritius 1601 (April 2003, Archives of Natural History 30(1):13-27, DOI, 10.3366/anh.2003.30.1.13))
Drawing of a dodo from the journal of the ship “de Gelderland”, 1601
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Dodo_-_2_From_the_Journal_of_the_Gelderland_1601.png
Laerle war als Steuermann angeheuert worden, zeichnete aber offenbar lieber. Auch wenn er kein ausgebildeter Naturforscher war, sind seine Zeichnungen lebendig und detailreich. Da er vermutlich echte Dodos gesehen hat, in freier Wildbahn, gerade erst gefangen oder getötet, sind seine Skizzen sehr authentisch. Laerle zeichnete einen Dodo, der noch auf dem Boden der Insel Mauritius stand, schreibt der Dodologe Julian Hume und unterstreicht damit die Authentizität der Zeichnungen des holländischen Seemanns.
In Conrad Gessners dreiteiliger Tier-Enzyklopädie von 1669 darf der exotische Vogel nicht fehlen: In Thomus II oder dem „Vollkommenen Vogelbuch“ ist er unter 83 als Cygnus cuculatus beschrieben, als Schwan (Cygnus). Gessner beschreibt den „Schwan“ als schwanengroß mit kräftigen Laufbeinen, einem besonders kräftigen Schnabel. Etwas irritierend ist die Bemerkung, die „Schiffer nennen ihn Walghvogel, einen Vogel, welcher Ekel erregt“.
„Ekelig“ könnte als holländische Beschreibung für tranig, fett, gedeutet werden, erklärt mir Hilde Enting. Beschreibungen über den offenbarwenig angenehmen Geschmack des Vogels gibt es von den Seeleuten genug.
Interessant dabei ist, dass Gessners Abbildungen viel schwerfälliger und roher aussehen, als alle anderen. Dieser Umstand ist sicherlich dem Druckverfahren geschuldet. Trotz der groben Abbildung wirkt sein Dodo aber wesentlich agiler als die Exemplare auf den Ölgemälden und spätere Zeichnungen. Er muss also eine gute Beschreibung oder ein gut erhaltenes Exemplar eines gesunden, fitten Kapuzenvogels gehabt oder gesehen haben. Flügel und Schwanzfedern sind als einzelne Federn klar erkennbar.
Eine der bekanntesten Abbildungen ist der Oxford-Dodo – ein opulentes Öl-Gemälde zeigt einen sehr fetten braungefiederten Vogel inmitten eines exotischen Lebensraums und mit anderen tropischen Vögeln wie Papageien. Das Ashmolean-Museum in Oxford verwahrt auch einen Schädel, auf dessen linker Seite die Haut und der knöcherne Skleralring um das Auge erhalten sind, einen Fuß, eine Feder und ein paar Gewebe-Proben. Vor dem ausgestellten Gemälde stehen ein montiertes Skelett und die Rekonstruktion eines pummeligen gefiederten Exemplars. Der Schwanzpuschel der gefiederten Rekonstruktion sieht aus wie ein Wattebausch
(Mehr zum Hintergrund und Abbildungen des Oxford-Dodos gibt es hier)
Das Gemälde „George Edward’s dodo by Roelandt Savery“ (ca 1626) zeigt einen Dodo mit dem großen Schnabel samt Haken, einem fetten Körper und mit Schwanzpuschel.
Auch Rudolf II. (1552–1612), Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und König von Böhmen, fand Gefallen an dem flugunfähigen Inselvogel. So ließ er ihn von dem renommierten Maler Hans Savery dem Jüngeren auf dem Gemälde „Eine Waldlandschaft mit exotischen Vögeln“, das Pelikane, Pfaue, Strauße, Schwäne, einen Papagei, einen Truthahn und einen Dodo versammelt, malen.
„Eines der wertvollsten ausgestopften Tiere in Rudolfs Sammlungen war der Dodo, ein flugunfähiger Vogel, der noch während des 17. Jahrhunderts ausgestorben ist. Rudolf II. sowie Savery hatten das Glück, diesen Vogel noch zu erlebten. Sie hatten beide eine besondere Vorliebe für den Dodo-Vogel. Darum haben wir den Dodo zum Maskottchen unserer Ausstellung gemacht. Savery platzierte den Dodo sehr gern in seine Tierkompositionen. Einen Dodo können die Besucher zum Beispiel auf dem Savery-Gemälde ´Orpheus mit den Tieren´ aus der Gemäldegalerie Berlin sehen.“
Da Saverys Dodo einen seltsam aussehenden Schnabel hat, besteht die Möglichkeit, dass er als Vorlage für sein Gemälde nur noch den toten, präparierten Dodo genutzt hat. Der Schnabel sieht aus, als ob die Hornscheide geschrumpft und verformt sei, vermutet Hilde Enting. Das wäre eine gute Erklärung – denn der Schnabel sieht aus, als ob er eine Socke ´drübergezogen hatte. Was auch auf vielen späteren Abbildungen übernommen worden ist.
George Edwards Druck „The Dodo and the Guinea Pig“, zeigt ebenfalls einen fettbrüstigen Vogel mit keck aufragendem Federpuschel am Hinterteil – die Schwanzfedern erinnern an Straßenfedern.
Dieser Druck dürfte die Vorlage für eine andere berühmte Dodo-Abbildung gewesen sein:
John Tenniels Dodo-Illustration für Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ dürfte dem außergewöhnlichen Federtier viel Publicity auch außerhalb der Fachwelt gebracht haben. Hinter dem Pseudonym Lewis Carroll verbarg sich der oxforder Mathematik-Dozent Charles Lutwidge Dodgson, der sicherlich dort vor Ort den Hype um den ausgestorbenen Vogel mitbekommen hat.
John Tenniel hat mit seiner Zeichnung “A Caucus-Race and a Long Tale” Massstäbe gesetzt: Sein dicker gemächlicher Dodo mit Gehstock ist so immer wieder kolportiert worden, incl. Hakenschnabel und Schwanzfederpüschel, bis in die Walt Disney-Verfilmung von „Alice im Wunderland“.
Die Zechnung “Dodo attributed to Joris Hoefnagl”, c.1602., zeigt einen kräftigen, aber schlanker Vogel, er erinnert von Körperhaltung und Dynamik her eher an große Laufvögel.
https://www.researchgate.net/publication/228371340_The_history_of_the_Dodo_Raphus_cucullatus_and_the_penguin_of_Mauritius/figures?lo=1
Die Miniatur des Ustad Mansur (Meister Mansur) ohne Titel (1625, Hermitage Museum, Saint Petersburg, Russia) zeigt einen recht schlanken Dronte. Der Vogel läuft offenbar in einer Voliere umher mit einem Sittich, einem Fasan und anderen exotischen Gefiederten. Der Miniaturenmaler Mansur hat diese Vögel nach lebenden Vorbildern in der Menagerie des Kaisers Jahangir gemalt, ihre Gefieder leuchten bis heute dem Betrachter entgegen. Der Herrscher hat ein Exemplar in seiner Menagerie gehalten.
Hilde Enting hat diese Abbildungen und noch mehr sorgfältig analysiert. Ihr Fazit: Nur wenige Zeichner haben einen lebenden Dodo in seinem natürlichen Lebensraum gesehen, Laerle war vermutlich der Einzige, der einen Dodo auf mauritianischem Boden abzeichnete.
Als fürstliche Geschenke, für wissenschaftliche Sammlungen und Raritätenkabinette sind mehrere Vögel nach Europa und Asien gebracht worden. Die Tiere, die die lange Reise von Mauritius nach Europa überlebt haben, hatten sicherlich nicht ihre richtige Nahrung zur Verfügung, Dodos waren Fruchtfresser, außerdem hatten sie in Gefangenschaft sicherlich zu wenig Auslauf. Die fetten und plumpen Dodos der Abbildungen dürften also durch die Gefangenschaft zu ihrer Leibesfülle gekommen sein.
Andere Künstler haben ihre Dodos nach Erzählungen der Seeleute gezeichnet und gemalt, oder nach ausgestopften Exemplaren, viele haben einfach voneinander abgemalt.
Die schlichten, aber lebendigen Laerle-Skizzen und die prächtige Mansur-Miniatur hingegen zeigen agile, gesunde Vögel, die zu den neuen Untersuchungsergebnissen der Publikation von Claessens, Meijer und Hume: „The morphology of the Thirioux dodos“ von 2016 passen.
Beide Künstler dürften die Vögel in ihrem ursprünglichen Zustand oder in guter Form beobachtet haben.
So dienten die beiden dann im Wesentlichen als Grundlage für den Frankfurter Dronte.
(Fortsetzung folgt)
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