Auf der Basis der vorliegenden Informationen eine Rekonstruktion erschaffen, ist nicht nur eine fachliche Herausforderung, sondern auch zeitraubend und kostenintensiv. 2015 zeigte ein Sponsor Interesse, das Senckenberg-Museum bei so einer Dodo-Rekonstruktion finanziell zu unterstützen. So konnte Hilde Enting – fast – mit ihrem Projekt Dodo loslegen.
Sie wollte unbedingt noch die neue Publikation abwarten, deren Erscheinen für 2016 angekündigt war. Einer der Autoren: der versierte Dodologe Julian Hume. So verzögerte sich das Projekt noch einmal, aber diese Arbeit sollte noch wichtige neue Impulse geben und einige ihrer Vermutungen bestätigen.

Die meisten Dodo-Skelette stammen aus Grabungen im Mare aux Songes, einem küstennahen Sumpfgebiet im Südosten der Insel Mauritius. Der Sumpf ist eine Fossillagerstätte, in der sich die subfossilen Überreste von etwa 300 Dodos und anderer im Holozän ausgestorbener Tierarten angesammelt haben, darunter viele Dodos. Eine Expedition von 2005 erbrachte neue Ergebnisse: Viele der Tiere waren offenbar während einer Dürreperiode im zähen Schlamm des Sumpfes stecken geblieben, sie sind dann dort verendet und ihre Knochen eingespült worden. Allerdings liegen die Knochen durcheinander und lassen sich nicht einzelnen Individuen zuordnen, so dass daraus “Komposit-Dodo-Skelette” entstanden sind, die heute in vielen Museen der ganzen Welt sind. Eines dieser Exemplare gehört auch zur Sammlung des Senckenberg-Museums.

Die meisten heute erhaltenen Dodo-Skelette sind also aus den Knochen verschiedener Vögel zusammengesetzt, die – abhängig von Alter und individuellem Körperbau – unterschiedlich groß gewesen sein dürfte. Für biomechanische Analysen ist aber das Größenverhältnis der einzelnen Knochen zueinander aussagekräftig. Eine seriöse biomechanische Untersuchung kann also nur an den Knochen eines einzigen Individuums durchgeführt werden.
Claessens, Hume und ihre Mitautoren legten mit ihrer Arbeit “The morphology of the Thirioux dodos” eine neue Rekonstruktion des Bewegungsablaufs und der Körperhaltung vor, die auf einem ganzen Skelett basierte (Claessens, L. P. A. M., H. J. M. Meijer, and J. P. Hume. 2015. The morphology of the Thirioux dodos; pp. 29–187 in L. P. A. M. Claessens, H. J. M. Meijer, J. P. Hume, and K. F. Rijsdijk (eds.), Anatomy of the Dodo (Raphus cucullatus L., 1758): An Osteological Study of the Thirioux Specimens. Society of Vertebrate Paleontology Memoir 15. Journal of Vertebrate Paleontology 35(6, Supplement)).

Claessens, Hume et al haben die Knochen der beiden Skelette, die nachweislich zu jeweils einem einzigen Individuum gehören, untersucht. Diese Skelette stammen aus einer historischen Grabung des mauritianischen Amateur-Naturforschers Etienne Thirioux, der sie vor mehr als 100 Jahren gefunden hatte. Er konnte seine Funde damals nicht publizieren und so sind sie in Vergessenheit geraten. Sie stammen aus einer anderen Lokalität – Thirioux hatte sie 1904 in Höhlen bei Le Pouce, gefunden. Die Exemplare gehören heute Museen in Durban und Port Louis.
Vor allem das Exemplar aus Port Louis bot den Dodologen neue Einsichten in die relativen Proportionen des großen flugunfähigen Vogels, der perfekt an sein Ökosystem angepasst war. Das Projekt zur Studie der Biomechanik der Fortbewegung trägt den Namen „Dodomotion“-Projekt. Es ging dabei auch um die besonderen musculoskeletalen Modifikationen, die die schnelle Evolution der Köpergröße ermöglichten.

Claessens, Hume und ihre Mitautoren legten mit ihrer Arbeit “The morphology of the Thirioux dodos” eine neue Rekonstruktion des Bewegungsablaufs und der Körperhaltung vor, die auf einem ganzen Skelett basierte (Claessens, L. P. A. M., H. J. M. Meijer, and J. P. Hume. 2015. The morphology of the Thirioux dodos; pp. 29–187 in L. P. A. M. Claessens, H. J. M. Meijer, J. P. Hume, and K. F. Rijsdijk (eds.), Anatomy of the Dodo (Raphus cucullatus L., 1758): An Osteological Study of the Thirioux Specimens. Society of Vertebrate Paleontology Memoir 15. Journal of Vertebrate Paleontology 35(6, Supplement)).


Dodo-Golem aus Draht, Knetmasse, Federn und mehr

Die Rekonstruktion eines ausgestorbenen Tieres ist eine Arbeit im Spannungsfeld zwischen Forschung, Handwerk und Kunst. Um aus einzelnen Teilen und Meßdaten ein lebensnahes Modell zu bauen, braucht es ein enormes Wissen von Anatomie bis Materialkunde, Forschergeist und geschickte Hände. Stück für Stück hat sich die Präparatorin mit unterschiedlichen Techniken dem Dodo genähert, theoretisch und praktisch. Ihre Arbeitsgrundlage waren die detailliert vermessenen Skelette in der Arbeit von Claessens, Meijer und Hume.
Aus den anatomischen und biomechanischen Daten hat Hilde Enting zunächst ein lebensgroßes Dodo-Poster gezeichnet, in dem Knochen, Körper- und Gefiederumriss sowie die wichtigen Maße eingezeichnet waren. Auch die aufrechte Körperhaltung stammt aus dieser Arbeit.

Das Grundgerüst besteht bei Präparaten oft aus einem Skelett – beim Dodo undenkbar, die wenigen Skelette sind viel zu kostbar. So hat Hilde Enting ihrem Vogel ein Gerippe aus Draht und anderen stabilen Materialien gegeben. Dabei hat sie bereits die Größe und lebensnahe Körperhaltung des Tieres angelegt.  Mit formbarem Füllmaterial wie Modelliermasse bekam das Gerüst die Körperform und -fülle. Die Oberfläche des Dodo-Körpers sieht mit ihrer Muskulatur so lebensecht aus wie ein gerupfter Truthahn – nur ohne Stoppeln.
Nach den Abmessungen und der aufrechten Körperhaltung ist der Frankfurter Dodo nun 72 Zentimeter hoch. In vielen anderen Quellen wird er als einen Meter hoch beschrieben. Das zeigt mal wieder, dass kaum jemand ihn ernsthaft gemessen, sondern die meisten Autoren wohl eher voneinander abgeschrieben haben. So, wie die Maler und Zeichner kopiert haben, ohne selbst Material gesehen zu haben.

Die vorhandenen Gipsabgüsse von Kopf und Fuß wurden eingescannt, dann 3 D-ausgedruckt. Diese Druck-Produkte sind allerdings erst ein Zwischenschritt, denn sie stammen von mumifizierten, verformten Körperteilen mit geschrumpftem Weichgewebe.
Raphus cuclatus hatte ein nacktes Gesicht mit einem gewaltigen Schnabel. Der Schnabel hatte eine große Hornscheide, die an einen übergestülpten Socken erinnert und endete in einem Haken. Der Schnabel des Senckenberg-Exemplars war natürlich ohne die Hornscheide, die nach dem Tod des Tieres brüchig wird und ab- oder zerfällt.
Hilde Enting begann ihre Rekonstruktion mit dem Einscannen des Kopf-Gipsabdrucks und einem 3 D-Print. Den hat sie dann abgeformt, dann gegossen, an dem Ergebnis hat sie dann weiter geschnitzt, bis sie mit der Form zufrieden war – schließlich musste sie die Größe und Form der Hornscheide rekonstruieren und dem Dodo-Gesicht realistische Hautfalten geben.
So hilfreich und nützlich 3 D-Drucker sind, sie sind nur ein weiteres Instrument im Werkzeugkoffer der Präparatoren. Ein einzigartiges Präparat braucht immer noch viel mehr Arbeit und Kunstfertigkeit.

Der Dodo-Fuß ist kräftig, groß und fleischig. Ganz klar der Fuß eines Fußgängers, irgendwo zwischen Huhn und Nandu. Die Weichteile des mumifizierten Fußes sind natürlich geschrumpft und verformt. Hier hat sie die Maße des sehr großen Exemplars aus der Claessens-Arbeit genommen und auf diese Knochen dann um Weichteile und Haut – angelehnt an den mumifizierten Fuß – ergänzt. Wenn man sich ausschaut, wie lebendig die Schwielenpolster und die reptilhafte Hautoberfläche sind, werden die Sachkenntnis und Kunstfertigkeit der Präparation deutlich.

Die Befiederung eines Präparats ist auch eine besondere Herausforderung – schließlich sollen die Federn wie lebendig aussehen. Wie viele Federn in verschiedenen Formen und Größen hatte das Original?
In diesem Fall beschloß Hilde Enting, die Gefieder-Rekonstruktion einem Feder-Experten zu überlassen: Dem Erfurter Präparator Marco Fischer (BioDesign, Apolda). Im Januar 2018 wurde der Dodo zum Befiedern gegeben. Der Ohrfasan (Crossoptilon auritum) sollte der Federspender werden. Dieser in Asiens Mischwäldern lebende Fasan hat eine ähnliche Ökologie und ein vermutlich ähnliches Gefieder wie der Dodo – grau und „haarartig zerschlissen“ sind seine Federn. Die Federn ausgesuchter Fasanen wurden nochmals gefärbt, in verschiedenen Braun-Nuancen.
Das schlichte braune Federkleid lässt den Aufwand, den es verursachte, kaum ahnen.
Die Flügelchen mit ihrer Haltung tief an der Seite des runden Rumpfes und ihrer kurzen Befiederung sind auf den Gemälden gut erkennbar – so auch beim Senckenberg-Dodo.
Aber wie sieht es mit dem Schwanz aus?
Der Dodo hat ein rundes Hinterteil, einige Gemälde und Zeichnungen zeigen einen Federtuff.
Eine Abbildung präsentiert den exotischen Vogel sogar von der Hinterseite– den Bürzel schmückt ein blütenartiger Federtuff. Ob die Dronte-Kehrseite ein Affront des Zeichners gegen seinen Auftraggeber war oder ein anderes Zeichen setzen sollte, wissen wir heute nicht – aber sicher ist, dass der Dodo auch von hinten sehenswert war. Die auffallend gekräuselten Schwanzfedern werden oft in Texten und Abbildungen beschrieben, in anderen Beschreibungen fehlen sie hingegen ganz.
Einige Wissenschaftler meinen, dass Raphus vielleicht nur manchmal ein schmuckes Schwänzchen hatte, abhängig von der Jahreszeit. Das würde das zeitweilige Vorhandensein eines so auffallenden Merkmals erklären.

So hat die geniale Präparatorin in monatelanger Arbeit leblosen Materialien wie Draht und Modelliermasse Leben eingehaucht und einen Dodo-Golem erschaffen.
Aus glänzenden Augen schaut er mich aus der Vitrine an, die helle Iris lässt seinen Blick scharf wirken: Zeitgenossen sagen, seine Augen hätten geglitzert wie Diamanten, erklärt Hilde Enting, darum hat sie Glasaugen mit heller Iris gewählt.
Erhaben und neugierig gleichermaßen ist der stattliche Vogel.
Bei genauerem Hinschauen ist zu sehen, dass die hintere Zehe leicht erhoben ist – daran klebt eine Daunenfeder. Erst bei man ganz Hinsehen wird erkennbar, was die Feder dort hält: Ein Dodo-Köttel.

Gleich hinter dem Eingang zur Vogelabteilung steht er nun, hinter der Treppe in die oberen Stockwerke.
In der Gesellschaft des Riesenalks und einiger Moas. Flugunfähige Vögel von unterschiedlichen Kontinenten. Ihre Gemeinsamkeit: Sie alle sind durch den Menschen ausgerottet worden. Ein Club der gefiederten Mahner.

Nur ausgeleuchtet ist er noch nicht ganz perfekt – hoffentlich bekommt das neue Highlight des Vogelsaals noch etwas mehr Licht.


Dodo und Mensch – Zerrbild einer unglücklichen Beziehung

Warum ist der Dodo unsterblich geworden, ja gerade symbolhaft für ein ausgerottetes Tier? Bezeichnend dafür ist der englische Ausdruck „dead as a dodo“.
Und nicht der Solitär von der Insel Reunion? Ebenfalls ein großer flugunfähiger Vogel, auf einer Insel endemisch lebend und im gleichen Zeitraum entdeckt und ausgerottet.
Im Senckenberg steht der Dodo in einer kleinen Gruppe Vögel, die durch den Menschen ausgelöscht worden sind: Riesenalk und Moas.
Erschlagen für ihr Fleisch oder um in Kuriositäten- und Naturaliensammlungen zu enden.

„Ausgestopft“ zu postmortalem Ruhm gekomme. Selbst ihre Eier wurden noch gesammelt, zum Essen oder für oologische Sammlungen – die Rieseneier waren begehrte Sammlerstücke für Museen und Zeitgenossen, die sich gern als Naturphilosophen inszenierten.
Die meisten dieser Vögel sind nur wenigen Menschen bekannt.
Was hat der Dodo, was sie nicht haben? 

Trotz aller Dramatik sieht der Dodo auf Abbildungen und Rekonstruktionen eher sympathisch als dramatisch aus. Neugierig, zutraulich, behäbig.
Außerdem haben ihn ja schon die ungebildeten Menschen vor Jahrhunderten ausgerottet, lange bevor es Artenschutzmaßnahmen gab. Da müssen wir aufgeklärte Menschen uns heute keine Vorwürfe machen.
War er vielleicht selbst schuld, weil er so arglos war?

Oder zu langsam zum Weglaufen?
In Wahrheit war er gar nicht tollpatschig. Das Projekt Dodomotion hat jedenfalls erbracht, dass der auf Mauritius lebende Dodo ein perfekt an seine Umgebung angepaßter Laufvogel war, der in einer schnellen Evolution das Fliegen aufgab und zum Läufer wurde, wie seine kräftigen Füße und Beine sowie die aufrechte Körperhaltung bezeugen.
Zum bemitleidenswerten übergewichtigen Tolpatsch, der traurig auf zu großen Füßen herumstolpert, wurde er erst durch den Menschen. Für seine Arglosigkeit konnte er nichts, auf seiner Insel gab es keine Feinde. Der nachtaktive Fruchtfresser konnte in aller Ruhe seine Nester am Boden bauen und seine Küken dort behüten.
Bis zur Ankunft der Menschen mit ihrer Gier nach Proviant und Kuriositäten und ihrer vierbeinigen Plage von Begleitern wie Hunden, Katzen und Ratten. Dann war es schnell um die endemischen Vögel geschehen, innerhalb weniger Jahrzehnte waren sie vollständig ausgerottet.

Der Dodo ist ein besonderer Vogel und gleichzeitig Metapher und Projektionsfläche: Einst ein exotisches Tier, steht er heute für die Rücksichtslosigkeit der Menschen und und stetige Bedrohung der Biodiversität.


Persönliche Anmerkung:
2002 haben Hilde Enting und ich gemeinsam in der Zoologischen Abteilung des Hessischen Landesmuseums eine kleine Vitrine zum Dodo und Solitär eingerichtet. Den ca zwei Quadratmetern war kaum anzusehen, wieviel Rechercheleistung dafür nötig war. Die braunen abgenagt aussehenden Knochen des Solitärs sahen alles andere als kostbar aus, vom Dodo war noch weniger vorhanden. Solange beschäftigt sich die Präparatorin bereits mit diesem Thema. Dieser Zeitraum zeigt, wie lange es manchmal braucht, um in einem Museum auch nur eine einzelne Rekonstruktion zu realisieren.

Für diesen Artikel haben wir von Hilde eine Sonderführung bekommen und davon jede Minute genossen!

 

Zum Weiterlesen:

Claessens, Hume und ihre Mitautoren legten mit ihrer Arbeit “The morphology of the Thirioux dodos” eine neue Rekonstruktion des Bewegungsablaufs und der Körperhaltung vor, die auf einem ganzen Skelett basierte (Claessens, L. P. A. M., H. J. M. Meijer, and J. P. Hume. 2015. The morphology of the Thirioux dodos; pp. 29–187 in L. P. A. M. Claessens, H. J. M. Meijer, J. P. Hume, and K. F. Rijsdijk (eds.), Anatomy of the Dodo (Raphus cucullatus L., 1758): An Osteological Study of the Thirioux Specimens. Society of Vertebrate Paleontology Memoir 15. Journal of Vertebrate Paleontology 35(6, Supplement)).

https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Dodo_-_2_From_the_Journal_of_the_Gelderland_1601.png

https://www.welt.de/wissenschaft/article168017311/So-lebte-der-sagenumwobene-Riesenvogel-wirklich.html#

https://www.deutschlandfunkkultur.de/kulturgeschichte-des-dodo-raetselhafter-vogel-zum-liebhaben.976.de.html?dram:article_id=442205

https://www.theatlantic.com/science/archive/2016/06/the-dodos-redemption/486086/

https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/02724634.2015.1121723?scroll=top&needAccess=true

https://books.google.de/books?id=g9ZogGs_fz8C&pg=PA229&lpg=PA229&dq=Joris+Joostensz+Laerle&source=bl&ots=1C933zV4Hq&sig=ACfU3U1IKCZDykY-OEfpXuzBhAFl7qcM4g&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwj96snbscviAhVlMewKHS66BGgQ6AEwDHoECAkQAQ#v=onepage&q=Joris%20Joostensz%20Laerle&f=false