8 Meter lang. Ein schlangenartiger, weiß-silbrig glänzender Körper.
Auf dem Kopf: eine filigrane Krone aus knallroten Flossenstrahlen.
Ein unterständiges Maul, das arrogant wirkt – als ob der Fisch über den Rest der Welt die Nase rümpft. In bedächtigen Windungen schlängelt er sich durch den Ozean und ist der Grund für manchen historischen Seeschlangenbericht.
Nur wenige Menschen haben einen lebenden Riemenfisch (Regalecus glesne) gesehen, er ist ein scheuer Bewohner der Hochsee und taucht gern in die Tiefen ab. Fast alle Berichte über Riemenfische stammen von gestrandeten oder gefischten Exemplaren.
Die zahnlosen und rotäugigen langen Fische leben meist in 200 bis 1000 Metern Tiefe, dort filtrieren sie mit ihren Kiemenreusen kleine Garnelen und andere Krebse sowie kleine Fische, Quallen und Kalmare aus dem Ozean – der größte Knochenfisch der Welt ernährt sich von Plankton. Ohne Schwimmblase bewegen sie sich mit undulierenden Bewegungen des Rückenflossensaums durch die Tiefen, dabei stehen sie – so haben Filmaufnahmen gezeigt – oft aufrecht in der Wassersäule.
Das könnte eine optische Tarnung sein, denn Regalecus ist wehrlos und nicht schnell, eine leichte Beute für alle größeren Jäger des Meeres.
Die auffallenden Fische stranden selten, aber regelmäßig an den Küsten und sind dann meist ein Medienspektakel. Gerade Riemenfisch-Strandungen vor den Küsten erdbebengeplagter Regionen wie Japan und Kalifornien führen natürlich zu besonders lautem Nachdenken, ob der Meeresbewohner vielleicht doch eine Naturkatastrophe ankündigen könnte. Mittlerweile ist fast jede dieser Strandungen verknüpft mit der Geschichte von Namazu, einem großen Fisch der japanischen Mythologie, der die Menschen vor Erdbeben warnen soll.
Seine Größe, die silbrig-rote Pracht, das Krönchen und der scheinbar adlige Gesichtsausdruck machen ihn zum Herrscher über andere Fische – so kommt der Riemenfisch zu seinem Beinamen Heringskönig (den er im Deutschen allerdings mit dem Petersfisch Zeus faber teilt).
Ein Riemenfisch-Video ist auf meertext zu finden.
Da das Inselreich Japan durch seine geographische Lage auf dem pazifischen Feuerring oft von Erdbeben geplagt war und ist, spielen Tiere als Verursacher und Propheten für Erdbeben eine große Rolle in der japanischen Folklore.
Japanische Holzschnitt-Künstler haben Namazu seit dem 18. Jahrhundert als übergroßen Wels (Ōnamazu: japanisch 大鯰 ‚Riesenwels‘; engl. Catfish) abgebildet.
Namazu ist eine der mythologischen Yo-kai, Wesen, die für Unglück und Katastrophen stehen. Der Legende nach kann nur Kashima, der Gott des Donners und des Schwertes, den bösartigen Riesenfisch bändigen. Sein Hauptschrein ist der Kashima-jingū in der Stadt Kashima, wo er den bösen Namazu eingeschlossen haben soll. Allerdings könnte es sich laut Wikipedia bei dem am Schrein verehrten Kashima no ōkami auch ursprünglich um eine separate Lokalgottheit handeln.
Wenn der Gott unachtsam oder müde ist, nutzt der fiese Riesenfisch den Moment zum schwanzwackeln und lässt damit in der Menschenwelt die Erde beben.
Wie ist der Riemenfisch zu seinem schlechten Ruf als Erdbeben-Prophet gekommen?
2011 waren gleich ein Dutzend Riemenfische an Japans Küsten aufgetaucht (LiveScience schreibt sogar 20), direkt vor dem großen Seebeben, das zu dem verheerenden Tsunami und letztendlich auch zur Fukushima-Katastrophe führte. So kam es schnell zu medialen Gerüchten über einen möglichen Zusammenhang zwischen den Strandungen und den Erdbeben.
Als 2013, 2014 und 2015 die seltenen Riemenfische auch an der kalifornischen Küste strandeten, gruben einige US-amerikanische Medien die japanische Riemenfisch-Erdbeben-Story aus – schließlich ist Kalifornien mit seinem tektonisch aktiven St. Andreas-Graben auch stets erdbebengefährdet.
Findige Zeitgenossen suchten wie bei jedem großen Ereignis nach Zusammenhängen, seitdem ist es um die Reputation des königlichen Fisches geschehen. Vom Fischkönig ist er nun zum Überbringer schlechter Nachrichten aus dem Reich des japanischen Meeresgottes degradiert worden.
An dieser Stelle merkt Craig McClain vom DeepSeaNews-Blog an, dass nicht alle für 2010 aufgeführten Regalecus-Exemplare gestrandet seien, sondern ein Teil davon Beifang in Fischerei-Netzen war. Solche Details und Fakten sind für Gerüchtebastler aber normalerweise irrelevant.
Gibt es einen statistisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen Riemenfisch-Strandungen und Erdbeben?
Zuletzt haben gestrandete Riemenfische im Januar 2019 in Japan (angeblich) für Tsunami-Panik gesorgt. Jedenfalls nach Aussage des britischen Skandalblatts The Sun.
Biologen haben sich auf die Suche nach den Ursachen der Strandungen gemacht:
Ein denkbarer Zusammenhang zwischen Riemenfischen und Erdbeben wäre, dass sie in der Tiefsee bei tektonischen Aktivitäten sehr frühzeitig aufsteigenden Gase oder Erschütterungen wahrnehmen könnten.
Rachel Grant und P. F. Biagi untersuchten das im Rahmen des Projekts Can frog and bird calls be used to warn of seismic activity? und hatten Hinweise für einen solchen Kontext gefunden: “Oarfish (Regalecus spp); recent sightings and proximity to tectonic plate boundaries” Eine mögliche Erklärung der scheinbaren Korrelation könnte, so Grant, auch ein Artefakt sein: Zeitlich oder geographisc passende Sichtungen und Strandungen könnten bevorzugt dolumentiert werden. (March 2018; DOI: 10.13140/RG.2.2.24799.15522
Dagegen spricht, dass die silbrigen „Seeschlangen“ auch vor tektonisch inaktiven Küsten stranden und auch andere Fischarten betroffen sein müssten.
Viele Sichtungen und Strandungen scheinen in einem Zusammenhang mit anormal hohen Oberflächentemperaturen zu stehen. Richard Feeney und Robert Lea hatten 2018 in “California Records of the Oarfish, Regalecus russelii (Cuvier, 1816) (Actinopterygii: Regalecidae)” einen Zusammenhang zwischen Riemenfisch-Strandungen und Jahren mit sehr hohen Temperaturen der Meeresoberfläche – El Nino-Jahre – publiziert. Das ist wenig verwunderlich, denn Riemenfische folgen ihrer Nahrung, dem Plankton. Wenn die kleinen Schwebenden in das besonders warme Oberflächenwasser wandern, folgen die Riemenfische und andere Fische ihrer bevorzugten Beute. Dass ein drei bis acht Meter langer schlangenartiger Fisch mehr Aufmerksamkeit erzeugt und auch bekommt als Hering und Makrele ist nicht weiter verwunderlich.
Anfang 2019 haben japanische Wissenschaftler diesen Volksglauben nun klar widerlegt. Yoshiaki Orihara und sein Team haben 336 Fisch-Sichtungen sowie 221 schwere Erdbeben aus dem Zeitraum von 1928 bis 2011 analysiert und sind zu dem Ergebnis gekommen: Es gibt keinen statistischen Zusammenhang zwischen Riemenfisch-Strandungen und See- bzw. Erdbeben (Yoshiaki Orihara; Masashi Kamogawa; Yoichi Noda; Toshiyasu Nagao: „Is Japanese Folklore Concerning Deep‐Sea Fish Appearance a Real Precursor of Earthquakes?“ Bulletin of the Seismological Society of America (2019).
Allerdings werden trotz dieser wissenschaftlichen Publikation mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei der nächsten Riemenfisch-Strandung in Japan, Kalifornien und anderswo wieder die folkloristische Story von Namazu, dem, Verkünder gewaltiger tektonischer Katastrophen aus der medialen Mottenkiste hervorgeholt.
Wetten?
Quellen:
Richard Feeney und Robert Lea hatten 2018 in “California Records of the Oarfish, Regalecus russelii (Cuvier, 1816) (Actinopterygii: Regalecidae)” einen Zusammenhang zwischen Riemenfisch-Strandungen und Jahren mit sehr hohen Temperaturen der Meeresoberfläche – El Nino-Jahre – publiziert. December 2018; Bulletin Southern California Academy of Sciences 117(3):169-179; March 2018; Conference: European Geoscience Union 2018; DOI: 10.3160/3294.1
Yoshiaki Orihara; Masashi Kamogawa; Yoichi Noda; Toshiyasu Nagao: “Is Japanese Folklore Concerning Deep‐Sea Fish Appearance a Real Precursor of Earthquakes?” Bulletin of the Seismological Society of America (2019), https://doi.org/10.1785/0120190014
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